Die Schmetterlingsdompteurin
01.04.2015 -Es ist schon eine Weile her, ungefähr zehn Jahre. Ich war jung, hatte meine große Liebe geheiratet, unser erstes Kind zur Welt gebracht und eigentlich schien alles in meinem Leben perfekt zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt führte ich ein völlig normales Leben, wie es viele andere Menschen auch tun. Das glaubte ich jedenfalls.
Als ich 29 Jahre alt war, unsere Tochter hatte gerade ihren ersten Schritt auf eigenen Beinen gelernt, sollte in meinem Leben nichts mehr so bleiben, wie es war. Unverhofft kommt selten oft. Es traf mich wie ein Hammer, ein Schlag ins Gesicht, als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen oder einfach das Licht ausgeknipst, ein schlechter Traum, aus dem ich nicht aufwachen kann. Ich fühlte mich wie in einem Zug, ich saß drinnen und durch die Scheiben sah ich, wie außen mein Leben an mir vorbeizog. Ich sah, wie ich in einem Arztzimmer am Schreibtisch saß. Neben mir meine Schwester, auf mir meine Tochter und mir gegenüber eine recht sympathische Ärztin. Sie war Neurologin. Wie alle Schulmediziner war sie mit einem weißen Kittel unschuldig und rein gekleidet. Auf ihrer Nase trug sie eine Brille. Sie hatte schwarzbraunes, halblanges leicht gelocktes Haar. Du fragst dich, warum ich dir das erzähle? Ich mich auch. Es ist im Grunde unwichtig, aber es regt die Phantasie an und du kannst dir diese Ärztin besser vorstellen. Siehst du sie schon vor dir? Wie sie an ihrem Schreibtisch sitzt? Ihr Blick war nach unten gesenkt. Sie war in irgendwelche Befunde tief versunken. Zwischendurch redete sie irgendetwas an mich heran. Ich konnte kaum verstehen, was sie mir sagen wollte. Das, was ich aber wusste war, dass ich dieses Gefasel nicht länger ertragen konnte. Meine Tochter, die auf meinem Schoß ziemlich gelangweilt saß, wurde langsam quengelig und ich hatte auch keine Lust mehr, hier zu sein. Meine Schwester hatte mich zu diesem Arzttermin begleitet. Wir können heute nicht mehr sagen, warum. Denn für gewöhnlich konnte ich solche Termine gut alleine bewältigen. Sie hatte ebenfalls ihre Tochter dabei, die unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie dieses Erwachsene-Gerede allmählich ermüdet. Damit hatten wir gar nicht gerechnet, dass dieser Arzttermin so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Aber irgendwas haben wir gespürt, sonst wäre meine Schwester nicht mit zum Arzt gekommen.
Ich hatte zuvor unzählige Tests und etliche äußerst unangenehme Untersuchungen über mich ergehen lassen müssen. Und heute war es soweit. Sie wollte mir erklären, zu welchen Erkenntnissen sie die Untersuchungsergebnisse geführt haben. Da waren nun die vielen Fotos meines Gehirns, die in einem äußerst unbequemen Fotoapparat Schicht für Schicht abgelichtet wurden. Daneben lagen die Laborberichte von meinem Nervenwasser, das vor ein paar Tagen mit einer langen Nadel unter starken Schmerzen aus meinem Rückenmark geträufelt wurde. Nicht zu vergessen die anderen organischen und neurologischen Tests, die im Vorfeld gemacht wurden.
Ja, und nun saßen wir da. Schweigen. Ich wusste immer noch nicht mehr als vorher. Mir war sehr daran gelegen zu erfahren, was mit mir nicht stimmte. Ich bin ja nicht ohne Grund zu ihr in die Praxis gekommen. Nein, bin ich nicht. Ich hatte ja Beschwerden, irgendwelche Symptome, die mein friedliches Leben störten, die aber niemand eindeutig einem Krankheitsbild zuordnen konnte. Mein persönlicher Lebensbegleiter war schon seit einiger Zeit die Ameisenstraße, die über meine Arme und Beine spazierte. Eigentlich glich es eher einem Ameisenhaufen, aber Ameisenstraße gefällt mir besser. Also, bevor ich hier gelandet bin, war ich bei einem Orthopäden. Er war der Meinung, dass ein Wirbel aus der Reihe tanzen würde. Den versuchte ein Chiropraktiker sanft wieder einzurenken. Doch als nach vielen Wochen die Ameisenstraße immer noch da war, schickte mich ein windiger Kollege innerhalb weniger Tage dorthin, wo ich jetzt sitze. Zur Neurologin.
Der Orthopäde kannte sie aus früheren Zeiten, und er meinte, sie sei sehr kompetent, schließlich habe sie vor ihrer eigenen Praxisgründung in einer namhaften Münchener Klinik für Neurologie in einer führenden Position gearbeitet. Für mein Verständnis hatte der Orthopäde ziemlich lange gebraucht, um zu merken, dass es nicht sehr schlüssig ist, einen Wirbel, der auf der Höhe meines nicht existierenden Arschgeweihs lag, für das Ameisenkribbeln auf meinen Armen verantwortlich zu machen. Ich kenne mich jetzt nicht in Anatomie aus, aber ich finde es unlogisch. Wenn es die Arme betrifft, müsste doch ein höher liegender Wirbel rausgesprungen sein, bitte korrigiere mich, wenn ich das falsch verstehe. Nach den handelsüblichen Untersuchungen saß ich nun bei dieser Neurologin. Nadel ins Rückenmark gerammt, ein Schachbrett angestarrt, Hämmerchen aufs Knie geklopft, Gehirnfotos geknipst und in ein paar Tagen wieder kommen. Befund ist da! Die Neurologin faselte irgendetwas von erhöhten Werten im Nervenwasser und weißen Punkten im Gehirn. Natürlich wandte sie eine etwas fachspezifischere Ausdrucksweise an, die aber ein normaler Mensch nicht verstehen kann. Das, was ich verstehen würde, schien sie jedenfalls nicht sagen zu können. Die Diagnose! Inzwischen wurden die Kinder auf unseren Schößen immer unruhiger. Sie taten mir leid, dass sie sich das langweilige Theater beim Arzt mit anschauen mussten. Gäbe es doch weiß Gott spannendere Dinge zu erleben. Draußen könnte man den Vögeln beim Nestbauen zusehen, schöne Kieselsteine sammeln oder im Sandkasten die größte Burg des Lebens bauen.
Stattdessen saßen wir beim Arzt. Puh! Aber auch die Ärztin tat mir ein bisschen leid. Sie hatte mir etwas zu sagen, was ich tief in meinem Inneren schon lange ahnte. Aber wenn ihr das Aussprechen der Nachricht schwer fällt, scheint es keine Gute zu sein. Oder kann und will sie sich nicht festlegen? Aber die vielen Untersuchungsergebnisse mussten doch Aufschluss darauf geben, was hinter meinen Symptomen steckt. Jedenfalls schien es ihr schwer zu fallen, Patienten mit einer Diagnose zu konfrontieren. Vielleicht hatte sie ja eine Entscheidungsunverträglichkeit? Das ist so etwas Ähnliches, wie wenn jemand Blähungen nach dem Verzehr von Milchprodukten bekommt. Dann heißt es aber Laktoseunverträglichkeit. Sicher spielt es auch eine Rolle, dass die Vielfalt der Krankheitsnamen sehr multipel ist. Fast könnte man sagen, die Krankheiten haben nicht nur tausend Gesichter, sondern auch mehr als tausend Namen. Da kann die Qual der Wahl schon mal schwer fallen. Dennoch wird es nicht ihr erstes Mal gewesen sein, dass sie sich einen Namen für undefinierbare Symptome aus dem ICD 10 heraussuchen musste. ICD 10, das ist ein Wahnsinnsbuch. Hast du in dieses Meisterwerk schon einmal einen Blick geworfen? Das wäre schon prädestiniert für einen Buchpreis. Wirklich, eine unglaublich kreative und einfallsreiche medizinische Symphonie. Ein Meisterwerk. Da muss man erst mal drauf kommen. Falls es dir nichts sagt, das ist so etwas wie ein Nachschlagewerk für alle möglichen und unmöglichen Störungen und Krankheiten inklusive ihrer dazugehörigen Symptome, wodurch eine einheitliche Feststellung von Krankheiten gewährleistet werden soll, quasi ein Namensbuch für Krankheiten. Jedes Symptom wird einer Krankheit zugeordnet. Hat ein Patient genügend Symptome, die zu einer Störung passen, kann man ihm diese Diagnose geben. Es gibt genaue Vorschriften, wie viele Haupt- und Nebensymptome man braucht, um eine Diagnose anwenden zu dürfen. Das Namensangebot ist beachtlich.
Da kann ich schon verstehen, dass es der Neurologin schwer fällt, sich für einen Namen entscheiden zu müssen. Klingen ja alle sehr hübsch und spricht man sie erst einmal aus, wirkt man äußerst klug und gebildet. Passen genügend Symptome zum ausgesuchten Namen, hat der Arzt die Rechtfertigung, einen Patienten darauf festzulegen und gleichzeitig hat er die Möglichkeit, seine Dienste bei der Krankenkasse in Rechnung zu stellen. Wirklich an alles ist gedacht worden. Warum und wie auch immer, meine Neurologin konnte sich irgendwie zu keiner Entscheidung durchringen. Sie wusste wohl nicht mit welcher Diagnose sie mich konfrontieren, stigmatisieren, manifestieren soll. Aber jetzt haben wir lange genug um den heißen Brei geredet. Die Kinder wollen langsam mal an die frische Luft. Und die anderen Patienten im Wartezimmer möchten auch endlich drankommen, schließlich haben sie auch ein Recht auf eine Diagnose und eine Behandlung. Ich bin hier nicht zum Spaß hergekommen. Was ich kriegen kann, will ich jetzt aber auch haben. Sapperlot noch mal, das gibt es doch nicht. Ich ärgere mich nicht nur wegen mir, nein. Ich brauche die Diagnose nicht für mich. Sie ist für andere viel wichtiger. Es ist sogar doppelt wichtig, einen Namen für seine Probleme zu bekommen. Das habe ich vorhin schon kurz erwähnt. Die Krankenkassen bezahlen die Rechnungen der Ärzte nur, wenn auf dieser eine anständig fundierte und nachprüfbare Diagnose aufgeführt ist. Hier würde dann auf meiner Krankenakte zum Beispiel G 35.1 aufgeführt werden, um es bei der Krankenkasse in Rechnung zu stellen. Und wenn das der Fall ist, kommt automatisch Geld in die Kassen der Ärzte und das Originelle daran, es wird begründet, warum der Patient weiter in regelmäßigen Abständen in der Praxis vorbeischauen muss, um, na was? Richtig, um Geld in die Kasse bringen zu können. Hat der Patient erst einmal den Namen für seine Probleme, versteht er auch, warum er Medikamente, Untersuchungen und andere unangenehme Dinge über sich ergehen lassen muss. Und nicht nur das. Wenn er einen Namen für die Sprache des Körpers bekommen hat, werden die Symptome unweigerlich stärker, also die Sprache des Körpers lauter. Weil das, was dann kommt, nicht dem entspricht, was der Körper bezwecken wollte.
Damals habe ich das natürlich noch nicht so gesehen, deswegen dazu später mehr. Langsam bekam ich wirklich Mitleid mit der Neurologin. Du hättest an meiner Stelle vielleicht genauso gehandelt. Ich hatte Mitleid, deshalb entschloss ich mich kurzer Hand, ihr die verantwortungsvolle Entscheidung abzunehmen und führte die Kindstaufe der Symptome höchstpersönlich aus, im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Arztes. Amen.
Ich hab MS Punkt.
Dies war ein Auszug aus dem Buch "Die Schmetterlingsdompteurin: Multiple Sklerose - Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings mein Leben veränderte"