Gesundheit

Die Verliererhelden

01.06.2020 - Dr. Mohammed Sarfraz Baloch

Im Zuge der neuen Lebensweise in der pandemischen Situation mit dem Coronavirus SARS-Cov-2 sind mehrere Begriffe in Erscheinung getreten. Vielleicht existierten diese früher auch in den Wörterbüchern — in anderem Zusammenhang. An erster Stelle ist der Begriff „systemrelevant“ zu thematisieren, der fast in jeder Diskussion erwähnt wird. Gemeint sind damit u.a. die Berufe, Institutionen oder Prozeduren, die zur Aufrechterhaltung der grundsätzlichen Infrastruktur und der Grundversorgung weiter aktiv bleiben müssen. Viele Menschen arbeiten in Berufen mit unmittelbarem Kontakt zu Infizierten, also in medizinischen Einrichtungen. Unter ihnen befindet sich auch das Pflegepersonal. Seit Jahren beklagen sich die Mitarbeiter in der Pflege über ihre Arbeitssituation, schlechte Bezahlung, Überlastung usw.

In der Corona-Krise sind diese Berufsgruppen in der öffentlichen Wahrnehmung etwas mehr in den Vordergrund getreten. In den Social Media klatschten viele, feierten sie als Helden. Die Pflegekräfte erhielten Anerkennung. Es blieb aber nur dabei; ihre früheren Sorgen blieben ebenso. Ihre frühere Situation blieb hingegen nicht, sie wurde sogar schlimmer. 

Die Krankenhäuser mussten ihren Betrieb reduzieren und nur dringliche Fälle behandeln. Die Bettenkapazitäten wurden für die COVID-19-Patienten reserviert. Der überwiegende Teil des medizinischen und nicht-medizinischen Personals in den Kliniken musste nicht in Kurzarbeit gehen. Anfangs haben sie zwar unter unkoordinierten und unsicheren Bedingungen weiterarbeiten müssen, aber schnell wurden die Schutzausrüstung und Standards zum Vorgehen in der Ausnahmesituation eingeführt. Das Personal wurde zügig eingearbeitet. Es ist eine Leistung, die mentale Flexibilität des Personals und der Organisatoren voraussetzt. 

Mehr als noch die Ärzte aber steht das Pflegepersonal im engeren Kontakt mit den COVID-19-Patienten und ist somit eher dem Risiko einer Infektion ausgesetzt. Im Notfallbetrieb einer Klinik, wenn sich einige Stationen nur im Reservebetrieb befinden, wird das Personal nicht komplett benötigt. Folglich wurden viele in den Urlaub nach Hause geschickt. Wenn der Urlaub vorbei war, mussten sie ihre alten Überstunden abarbeiten. Ihnen wurde Honig ums Maul geschmiert. Das Pflegepersonal durfte weiter an vorderster Front arbeiten, sich selbst unmittelbar und ihre Familien indirekt diesem Risiko aussetzen, gleichzeitig sind die Überstunden alle weggefallen, der Urlaub ist aufgebraucht und die alten Arbeitsbedingungen sind die gleichen. Oft wurde aber auch der Urlaub vorzeitig beendet, die Erholungsphasen zwischen dem Schichtwechsel erlebten eine neue Dimension der Unverhältnismäßigkeit. 

In anderen Worten, und so wie ich die Lage einschätzen kann, wird es für das Pflegepersonal nach überstandener Krise keine wesentliche Besserung geben, außer, dass ihre Überstunden und der Urlaub für dieses Jahr wegfallen. Das halbherzige Klatschen in Deutschland ist Ironie at its best. In England klatscht die Bevölkerung wenigstens konsequent jeden Donnerstag für den National Health Service und zeigt somit Solidarität. Deutschland aber ist nicht so sentimental und belässt es mit einem symbolischen Klatschen in den sozialen Medien. Weder wurde über die Bezahlung der Pflegekräfte diskutiert, noch wurde über deren Überlastung in normalen Zeiten gestritten, noch ist eine Prämie oder ähnliches in realer Zukunft sichtbar, auch keine Gefahrenzulage. Überhaupt ist für sie keine finanzielle Verbesserung in Frage gekommen. Es ist ja nicht so, dass sich die Mitarbeiter im Pflegebereich unbedingt nach gesellschaftlicher Anerkennung sehnen. Ihren Beruf üben sie auch ohne diese professionell genug aus. Es geht meines Erachtens nach um die staatliche Akzeptanz ihrer Stimme. Ich befürchte aber, dass es weiterhin so bleiben wird. Der Staat wird den Unmut der Betroffenen mit seiner Inaktivität aussitzen wollen. 

Andererseits will die Gesellschaft vielleicht einfach solche Helden, die ungewollt in eine Situation hineingeraten und durch ihr heroisches Handeln zu Ikonen aufsteigen. Dann bedankt sich die Gesellschaft bei ihnen, errichtet Denkmäler und preist sie an. Aber mal ehrlich: In Deutschland ist nicht mal dieser Funke der Sentimentalität oder Dankbarkeit gegenüber dem Pflegepersonal wahrzunehmen. Oh doch, in einer großen Lebensmittelkette gibt es 5%-Rabattgutscheine, nachdem sich jede/r Berechtigte online mit der E-Mail-Adresse registriert, den Ausweis und den Beschäftigungsnachweis hinterlegt hat, alle seine privaten Kontaktdaten angegeben und speichern lassen hat und dann freigeschaltet wird. Maximal aber bis 200€ Gesamtwert. Warum denn eigentlich? Könnte das „reiche“ Personal etwa den Laden aufkaufen und sich so 5% Rabatt erschleichen? Eine Fast-Food-Kette hat ihren kostenlosen Burger für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen ganz schnell ad acta gelegt. 

Da ich die gute Absicht solcher Aktionen nicht in Frage stellen möchte, schweige ich nun lieber und bewundere meine Verliererhelden.

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