Rechtsmedizinerin im Interview

Dr. Kathrin Yen: "Die Folgen von Kindesmisshandlung sind massiv"

01.01.2020 - Patricia Bartos

Im Jahr 2018 gab es in Deutschland 4180 Fälle von Kindesmisshandlung. 14.606 Kinder waren von sexueller Gewalt betroffen, 136 Kinder kamen gewaltsam zu Tode. Die Zahlen zeigen: Gewalt gegen Kinder ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Prof. Dr. med. univ. Kathrin Yen ist Rechtsmedizinerin am Universitätsklinikum Heidelberg und tagtäglich mit misshandelten Kindern konfrontiert. DAS MILIEU sprach mit Dr. Yen über die verheerenden Folgen von Kindesmisshandlung, die wichtige Rolle der Rechtsmedizin sowie die Frage, wie es zu solch einer Gewalt kommen kann.

DAS MILIEU: Frau Dr. Yen, Gewalt gegen Kinder in der Familie ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Laut Statistik kamen im Jahr 2018 136 Kinder in Deutschland gewaltsam zu Tode. Warum ist das so?

Prof. Dr. med. univ. Kathrin Yen: Gewalt gab es immer in menschlichen Beziehungen. Das ist kein neues Thema, sondern eines, das schon lange besteht. Früher hat man Gewalt gegen Kinder vielleicht weniger beachtet oder als problematisch angesehen – immerhin war eine Ohrfeige noch bis vor relativ kurzer Zeit als ein durchaus probates Erziehungsmittel anerkannt. Da hat sich in den letzten Jahren sehr viel geändert. Ich denke nicht, dass die gewaltsamen Vorfälle insgesamt mehr oder weniger wurden. Ein gewisses Ausmaß an Gewalt gab es immer und das wird auch in Zukunft der Fall sein.

MILIEU: Ich kann mir vorstellen, dass es für viele Menschen sehr schwierig ist nachzuvollziehen, wie es zu derartigen Misshandlungen durch Eltern an ihren Kindern kommt. Wie würden Sie dies erklären?

Dr. Yen: Aggression ist ein Teil des menschlichen Seins und auch Überforderung spielt eine große Rolle. Es gibt unterschiedlichste Gründe, die bei Menschen dazu führen, dass sie gewalttätig agieren. Manche Menschen neigen von sich aus eher zur Gewalt als andere. Gewalt an Kindern entsteht aus unterschiedlichen Situationen heraus. Ein Unterschied zu früher ist, dass man heute mehr auf Anzeichen von Gewalt achtet und das Umfeld achtsamer geworden ist. Es fällt in Schulen und Kindergärten auf, wenn ein Kind beispielsweise mit blauen Flecken kommt oder ein auffälliges Verhalten zeigt. Früher hat man da nicht viel unternommen, sondern die Augen zugemacht. Das kommt heute auch noch vor, ich habe jedoch den Eindruck, dass das deutlich besser geworden ist. Nachbarn oder Betreuungspersonen halten die Augen eher offen.

MILIEU: Ist Überforderung eine der häufigsten Gründe, warum es zu solchen Misshandlungen kommt?

Dr. Yen: Nicht nur. Bei manchen Formen der Gewalt, wie dem Schütteltrauma, ist Überforderung sicher ein wichtiger Auslöser. Da hört das Baby einfach nicht auf zu schreien und die Eltern verlieren die Nerven. Das Baby wird bei dieser schweren Form der Misshandlung so heftig geschüttelt, dass es zu Verletzungen im Schädelinneren kommt, oft mit schwerwiegenden und langfristigen Folgen für das Kind. Gewalt kann aber auch geschehen, weil eine Person dazu neigt. Genauso kann ein sadistischer oder sexuell motivierter Hintergrund bestehen. Die Gründe für gewaltsame Übergriffe sind verschieden. Ebenso unterscheiden sich auch die Verletzungen, die wir zu Gesicht bekommen. Es ist Aufgabe der Rechtsmedizin, die Verletzungen, die ein Kind erlitten hat, festzustellen, sie zu dokumentieren und Spuren zu sichern, die Hinweise auf die Täterschaft und den Ablauf des Vorfalls geben können. Aus diesen Informationen ergibt sich dann Klarheit und die Erkenntnis, welche Art und Schwere von Verletzungen vorliegt und wie sich ein Ereignis abgespielt hat - ob das Kind zum Beispiel wirklich von der Schaukel gestürzt ist oder nicht vielmehr gegen den Türrahmen gestoßen wurde. Die rechtsmedizinische Beurteilung hilft, die Gefährdung eines Kindes einzuschätzen. Wenn ein gewisses Ausmaß an Gewalt überschritten ist oder „kritische“ Befunde vorliegen, die auf mehrfache oder gefährliche Übergriffe hinweisen, dann müssen unbedingt Maßnahmen gesetzt werden, die den Schutz des Kindes vor weiteren Übergriffen sicherstellen. Es gibt Kinder, die misshandlungsbedingt mehrere, unterschiedlich alte Knochenbrüche, schwere Schädelverletzungen oder Verbrühungen erleiden mussten. In solchen Fällen müssen die zuständigen Stellen rasch und konsequent handeln. Voraussetzung dafür ist aber, dass sie über eine zuverlässige fachliche Einschätzung zur tatsächlich erlittenen Gewalt verfügen. Diese Grundlage zu liefern ist Aufgabe meines Fachgebiets.

MILIEU: In unserer Gesellschaft wird die Familie als ein sehr hohes Gut betrachtet. Viele Menschen sind der Meinung, dass man hier möglichst wenig intervenieren sollte. Haben Sie den Eindruck, dass das kontraproduktiv ist?

Dr. Yen: An sich ist das eine schöne Haltung. Aber sie trifft eben nicht auf alle Familien zu. Es gibt gewalttätige Umfelder und das ist gerade bei Kindesmisshandlungen nicht selten der Fall. Aus solchen Umfeldern müssen Kinder herausgenommen werden. Es sei denn, man findet Maßnahmen, die dazu führen, dass die gewaltsamen Übergriffe enden. Das ist aber oft schwierig und dafür fehlen den Jugendämtern auch häufig die Ressourcen. Ein spontaner Besuch für ein paar Stunden bringt nicht viel, wenn das Kind die ganze restliche Zeit der Gewalt ausgesetzt sein kann. Ein trauriges Beispiel, in dem das nicht gelungen ist, ist der Fall Alessio aus Freiburg. Dieses Kind lebte in einem derartigen Umfeld. Trotz der nach rechtsmedizinischen Untersuchungen gegebenen Gewissheit, dass dem Kind schwere Gewalt angetan wird, wurde es in das gleiche Umfeld zurückgegeben, mit dem Ergebnis, dass es schließlich tot war. Das war kein Einzelfall. Wir hatten vor kurzer Zeit einen Fall vor Gericht, bei dem ein Kind schwere Verletzungen im Genitalbereich und Knochenbrüche erlitten hat. Hier geht es nicht um Überforderung. Man muss akzeptieren, dass es in manchen Familien Gewalt gibt. Kinder können sich selbst nicht schützen. Aus massiv gewalttätigen Umfeldern muss ein Kind heraus. Es kann dort nicht gesund aufwachsen und sich entwickeln.

MILIEU: In dem Prozess spielt das Jugendamt eine zentrale Rolle. Viele Jugendämter sind in Deutschland jedoch überlastet und man hört immer wieder von Vorwürfen, dass zu spät eingegriffen wurde. Wo sehen Sie aus Sicht der Rechtsmedizin die größten Schwierigkeiten?

Dr. Yen: Jugendämter sind zu wenig ausgestattet und können ihren Aufgaben nicht immer so nachkommen, wie sie es gerne würden. Wichtig ist aber auch die Ausbildung. Jugendamts-MitarbeiterInnen kommen aus einem Ausbildungskontext, in dem die Unterstützung für die Familie im Mittelpunkt steht. Das ist gut, greift aber nicht in allen Fällen. Sinnvoll wäre eine verstärkte Ausbildung zum Thema Gewalt, sodass MitarbeiterInnen besser qualifiziert werden und entsprechend handeln können. Wir gehen Kooperationen mit Jugendämtern ein, die sich dann freiwillig dazu verpflichten, Kinder zu uns zu bringen, bei denen Gewalt vermutet wird. Das ist in Hamburg seit einigen Jahren sogar vorgeschrieben, nachdem mehrere Kinder nach Misshandlungen verstorben sind. Wesentlich wäre eine insgesamt engere Kooperation mit der Rechtsmedizin. MitarbeiterInnen der Jugendämter sollten die Möglichkeit haben, rund um die Uhr Rücksprache mit der Rechtsmedizin zu halten und Fälle vorstellen zu können. Das Wissen aus unserem Fach kann dadurch dorthin gebracht werden, wo es dringend gebraucht wird.

MILIEU: In der Dokumentation „Tatort Kinderzimmer“ plädieren Sie für eine Anzeigepflicht. Was würde sich dadurch Ihrer Ansicht nach verbessern?

Dr. Yen: Zum einen muss man wissen, dass erst eine Anzeige Ermittlungen ermöglicht. Fälle, die nicht angezeigt werden, bekommen wir zwar häufig zu sehen, aber hören dazu nur eine Variante, wie die Verletzungen entstanden sein sollen. Wir haben keine Möglichkeit zu überprüfen, ob es zum Beispiel das Fahrrad, mit dem das Kind laut Eltern gestürzt sein soll, überhaupt gibt und ob es Spuren aufweist, die den Sturz belegen. Die, die die Gewalt ausgeübt haben, machen meist falsche Angaben dazu, was passiert sein soll. Treppen oder Fahrräder, die für Verletzungen gesorgt haben sollen, gibt es manchmal gar nicht. Wenn die Polizei nicht informiert ist, kann das nicht ermittelt werden. Das Fehlen von Ermittlungen führt zu einem Informationsdefizit, das es schwierig machen kann, eine Misshandlung nachzuweisen.
Zudem bin ich der Überzeugung, dass es wichtig ist, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Das gilt auch, wenn jemand gewalttätig geworden ist. Die Übernahme der Verantwortung gilt auch im rechtlichen Sinne. Die Anzeige ist ein wichtiges Mittel in unserem Rechtsstaat, das auch in solchen Fällen genutzt werden sollte.
Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass ein Kind Rechte verliert, wenn Vorfälle nicht angezeigt werden. Für ein solches Kind gibt es kein Schmerzensgeld. Das sind Dinge, die aber jeder Person, auch Kindern, zustehen. Zuletzt kann eine Anzeige gerade in Akutsituationen zum Schutz des Kindes beitragen, da dann auch die polizeilichen Möglichkeiten genutzt werden können.

MILIEU: Kindesmisshandlung kommt nur in wenigen Fällen vor Gericht. Hat das hauptsächlich zur Ursache, dass es wenige Anzeigen gibt?

Dr. Yen: Das spielt jedenfalls stark mit. In einem nicht angezeigten Fall kommt es auch nicht zu einem Strafverfahren. Aber es gibt gewisse rechtliche Hürden, die ein Gerichtsverfahren mit sich bringen kann – beispielsweise, wenn Aussage gegen Aussage steht. Das sieht man oft nach Schütteltraumen, wenn sich Eltern gegenseitig die Schuld zuschieben. So etwas kann dann dazu führen, dass es kein Urteil gibt. Oft liegen auch nicht die für einen Urteilsspruch notwendigen Beweise vor, wenn ein Kind nicht zeit- und fachgerecht untersucht wurde. Die klinische kinderärztliche Untersuchung reicht meistens nicht aus, um auch die forensischen Fragen zu beantworten. Hier wird auf andere Befunde fokussiert und das Fachwissen fehlt, um zu beurteilen, ob die Verletzungen Folge von Schlägen, Schlägen mit Gegenständen, Tritten, gewaltsamem Zupacken, Würgen oder Folge anderer Vorgänge sind. Bei einer normalen Untersuchung werden die Befunde, die eine solche Beurteilung ermöglichen, nicht ausreichend erhoben. Deshalb ist es wichtig, dass man entsprechende Möglichkeiten schafft, dass Kinder nach den forensischen Anforderungen untersucht werden können. Ich halte die Kooperation mit KollegInnen aus der Klinik dennoch für essentiell, da viele Kinder dort zuerst gesehen werden und eine Zusammenarbeit aller beteiligten Institutionen für das Kind die größten Vorteile bringt.

MILIEU: Wie erleben Sie denn die Kinder, die zu Ihnen kommen?

Dr. Yen: Das ist ganz unterschiedlich. Wir sehen Kinder aus allen Altersgruppen, da unterscheiden sich auch die Verletzungen. Ganz kleine Säuglinge erleiden andere Misshandlungen als ein 10 Jahre altes Kind. Es gibt Kinder, die häufig Misshandlungen erlebt haben und das überspielen. Sie sind es gewohnt, dass es nicht hilft, wenn sie weinen, dass sich ihre Situation dadurch sogar verschlimmern kann. Wir sehen auch Kinder, die bewusstlos oder im schlimmsten Fall tot sind.

MILIEU: Passiert es häufig, dass Kinder von selbst erzählen, was geschehen ist?

Dr. Yen: Selten, bei der Untersuchung kommt das manchmal vor. Es passiert auch, dass etwas Falsches behauptet wird, weil den Kindern gesagt wurde, was sie erzählen dürfen und was nicht.

MILIEU: Kinder tragen aufgrund von Misshandlungen schwere physische und psychische Folgen mit sich. Was macht ein derartiges Umfeld langfristig gesehen mit einem Kind?

Dr. Yen: Die Folgen sind massiv. Laut einer deutschen Studie beziffert sich der Schaden durch Kindesmisshandlung auf über elf Milliarden Euro im Jahr. Kinder haben häufig noch im Erwachsenenalter zu leiden und werden nicht selten selbst zu Gewalttätern. Derart traumatisierte Menschen sind in vielen Lebensbereichen stark eingeschränkt. Wenn man sich ansieht, wie viele Menschen von Gewalt betroffen sind und welche Auswirkungen das auf deren Gesundheit, die soziale Entwicklung, das Berufsleben, die Familie und vieles mehr hat, dann ist das ein riesiges Thema in unserer Gesellschaft. In der Medizin liegt der Fokus oft nur auf Krebserkrankungen, Herzleiden und ähnlichem – dabei wirkt sich Gewalt genauso einschneidend auf das Leben von Betroffenen aus.

MILIEU: Bei vielen Menschen herrscht der Irrglaube, dass Gewalt in der Familie etwas mit der sozialen oder kulturellen Herkunft zu tun hat. Was entgegnen Sie hier?

Dr. Yen: Gewalt kommt in allen Schichten vor, das sehen wir auch in unserer Gewaltambulanz. Ich denke jedoch, dass sich die Art der Gewalt manchmal unterscheidet. Während bei manchen Menschen rohe, körperliche Gewalt geschieht, ist es bei anderen eher die psychische Gewalt. Auch in höheren gesellschaftlichen Schichten kommt körperliche Gewalt vor.

MILIEU: Der Beruf der Rechtsmedizinerin ist emotional bestimmt sehr schwierig. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie jeden Tag mit den Auswirkungen massiver Gewalt konfrontiert werden?

Dr. Yen: Ich finde meinen Ausgleich mit der Familie, meinen Haustieren und meinen vielen Interessen, die ich in meiner Freizeit verfolge. Wichtig für mich ist auch, zu wissen, dass man etwas sinnvolles tut und dazu beiträgt, dass von Gewalt betroffene Kinder besser geschützt werden können. Da bin ich zu 100% Ärztin und möchte den Menschen helfen, die es benötigen. In meinem Fach wollen wir erkennen, wer Gewalt erlitten hat und wie sie entstanden ist, damit den Betroffenen geholfen werden kann. Dabei ist die Kooperation mit anderen Institutionen enorm wichtig. Auch das kann im Umgang mit der Situation helfen. Nichtsdestotrotz bleiben viele Fälle natürlich im Kopf.

MILIEU: Wie können wir alle unsere Kinder etwas besser schützen?

Dr. Yen: Indem wir achtsam sind. Wenn Kinder mit Auffälligkeiten irgendwo auftauchen, nicht die Augen zumachen, sondern nachfragen und schauen, wo man Unterstützung finden kann. Wenn man mit einem gewalttätigen Partner zusammen ist sollte man auch schon den Kindern zuliebe versuchen, aus dieser Situation herauszukommen. Ich erlebe es immer wieder, dass der eine Elternteil den anderen schützt, wenn Misshandlungen gegen das Kind stattfinden. In diesen Fällen richtet nicht nur die Misshandlung selbst Schaden an, sondern auch der fehlende Schutz durch den nicht misshandelnden Elternteil. Das ist für die Kinder besonders schwer zu verkraften. Hier ist Unterstützung und Aufklärung für alle Betroffenen wichtig. Dann kann man der Gewalt auch etwas entgegensetzen.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Frau. Prof. Dr. Yen!

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