Palliativmediziner im Interview

Dr. Matthias Thöns: "Der Umgang mit manchen Patienten ist entsetzlich“

15.04.2017 - Astrid Knauth

Stellen Sie sich vor, Sie sind 92 Jahre alt, Ihr Herz funktioniert nicht mehr richtig, die Nieren wollen nicht mehr. Wollen Sie die restliche Zeit Ihres Daseins damit verbringen, dreimal wöchentlich für mehrere Stunden in der Dialyse zu sein? Wegen Ihres Herzens sollen verschiedene Untersuchungen gemacht werden. Dafür müssen Sie aber für mehrere Tage stationär im Krankenhaus – herausgerissen aus Ihrer normalen Umgebung – verbringen. Möglicherweise raten Ihnen die Ärzte dazu, einen Herzschrittmacher aufgrund Ihres unregelmäßigen Herzschlages einzusetzen. So viel Aufregung für die wenigen Jahre, die noch vor Ihnen liegen. Sind Sie dazu bereit? Wie viel Therapie am Lebensende ist wirklich angebracht und wie wird das hier in Deutschland umgesetzt? DAS MILIEU spricht zu diesem Thema mit dem Anästhesisten und Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns, der das Buch „Patient ohne Verfügung“ geschrieben hat.

DAS MILIEU: Herr Thöns, Sie sind Anästhesist (= Narkosearzt) und seit 1998 als niedergelassener Palliativmediziner tätig. Sie kümmern sich somit um die Behandlung von Patienten mit einer fortschreitenden, nicht heilbaren Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung. Das erklärte Hauptziel dieser Behandlung ist der Erhalt der Lebensqualität. Warum haben Sie sich auf dieses Fachgebiet spezialisiert?


Dr. Matthias Thöns: Als junger Arzt hat mich die Notfallmedizin besonders interessiert , das lernt man am besten in der Anästhesie. Ein weiterer Teil des Faches ist die Intensivmedizin und hier habe ich immer wieder sehr leidvolle Verläufe bei teils uralten Menschen erlebt, die ich meinen eigenen Großeltern so niemals angetan hätte. Ich hatte aber das Glück, von Deutschlands bekanntestem Schmerzmediziner auch in diesem Gebiet ausgebildet zu werden. Nachdem ich die Klinik verließ, musste ich einmal zu einem Schmerznotfall ins Hospiz. Dem Patienten, der sich vor Schmerzen krümmte, konnte ich mit einer Infusion rasch helfen, doch der Besuch in dieser Einrichtung beschäftigte mich noch lange. Die Atmosphäre dort, die Herzlichkeit der Schwestern und der Blick auf den ganzen Menschen mit seinen Beschwerden und Wünschen beeindruckten mich nachhaltig. So begann ich verstärkt, sterbende Menschen auch zu Hause zu begleiten. Das ist eine sehr erfüllende Tätigkeit, das möchte ich nicht mehr missen.

 

DAS MILIEU: In Ihrem Buch „Patient ohne Verfügung“ stellen Sie zahlreiche Beispiele einer Überversorgung des Patienten am Lebensende dar. Man schließt sie trotz der dadurch beeinträchtigten Lebensqualität an die Dialyse an oder gibt Ihnen Chemotherapie, obwohl eine Besserung der Situation fast nahezu ausgeschlossen ist. Der Patient wird geradezu am Sterben gehindert. Was war der Grund dafür, dass Sie nach Jahren all diese Fälle in einem Buch veröffentlich haben?

 

Dr. Thöns: Wie mit manch einem unserer Patienten umgegangen wird, ist entsetzlich. Dem konnte ich nicht weiter tatenlos zusehen. Zunächst habe ich versucht, die Kollegen anzuschreiben, das hat mir aber nur böses Feedback gebracht. Einmal hat mich ein Professor wie einen Doktoranden in seine Sprechstunde zitiert. Dann habe ich zur Problematik verschiedene Artikel in Ärztezeitungen veröffentlicht – Resonanz Null. Mit dem Buch geht es etwas anders, ich war zwischenzeitlich in nahezu jeder wichtigen Zeitung und in verschiedenen Fernsehbeiträgen, das Buch ist sogar Spiegel-Bestseller und in 2017 folgen noch mindestens zwei wunderbare Bücher von anderen Autoren zum Thema. Das Landgericht München I hat im Januar erstmals festgestellt: Reine Lebensverlängerung bei starkem Leiden ohne Therapieziel ist ein Behandlungsfehler. Die weltweit beste Medizinzeitschrift „The Lancet“ hat dem Thema eine Serie Anfang des Jahres gewidmet und verschiedene Sozialgerichte haben mich zum Sachverständigen ernannt in Sachen Übertherapie. Das kommt mir manchmal so vor wie bei der „organisierten Kriminalität“ – Den Geldhahn zudrehen hilft.

 

DAS MILIEU: Gerade gab es das erste Urteil, dass Übertherapie Körperverletzung ist. Wie beurteilen Sie dieses Urteil im Kontext Ihres Buches?

 

Dr. Thöns: Es macht mich überglücklich und ich bin zur Zeit kräftig dabei, dieses Urteil bekannt zu machen. Denn ca. 10% der Pflegeheimbewohner werden heute in Deutschland mit einer PEG Sonde künstlich ernährt. Ein großer Teil von Ihnen wegen einer Demenz. Da wird es in nächster Zeit erhebliche Diskussionen zu geben, weil es eben nicht richtig ist, es ist Übertherapie. Das sieht übrigens seit letztem Jahr die zuständige Fachgesellschaft auch so.

 

DAS MILIEU: Immer wieder führen Sie dem Leser die Frage der Indikation einer Behandlung, also welche Maßnahme bei einem bestimmten Krankheitsbild angebracht ist, vor Augen. Bestehe keine Indikation, sei auch keine Behandlung angebracht. Wie kann man sich aber als Patient und Laie gegen solch eine „unsachgemäße“ Behandlung wehren?

 

Dr. Thöns: Wir sind als Deutsche ja eher „obrigkeitshörig“, davon profitiert mein Berufsstand ziemlich gut – Die Menschen machen, was der Arzt empfiehlt. Doch leider haben vor allem geldliche Fehlanreize dazu geführt, dass nicht nur in Einzelfällen mehr operiert wird als nötig. Das geben etwa 39% der Chirurgen zu. Insofern sollte man vor einer kritischen Entscheidung durchaus einen anderen Arzt, der nicht von der Behandlung profitiert, um Rat fragen. Diese Zweitmeinung wird von den Krankenkassen bezahlt und gefördert. Gute Ärzte werden das unterstützen, schlechte werden das ablehnen. Aber wer möchte sich denn von einem schlechten Arzt behandeln lassen?

 

DAS MILIEU: Sie selbst haben sich als Palliativmediziner niedergelassen. Ihr erklärtes Ziel ist es, einen schmerzfreien, friedlichen Tod zu Hause zu ermöglichen. Doch wie Sie selbst festgestellt haben, ist die Angst vor dem Tod in der Bevölkerung sehr verbreitet. Wie kann man Angehörigen und Patienten diese Angst nehmen?

 

Dr. Thöns: Viele haben Angst vor dem Sterben an Apparaten, kümmern sich nicht um eine Patientenverfügung und sagen niemandem was sie wollen. Der Tod macht Angst, also besser nicht darüber nachdenken. Geht es ihnen schlecht, glauben dann viele Ärzte, da wir es ja nicht besser wissen, müssten wir alles tun. Und dann verliert man manchen Kampf um die Niere mit Dialyse, um die Atmung mit Beatmung und zuletzt setzt das Herz aus und man bekommt schmerzhafte Stromstöße und Pfleger brechen einem die Rippen. Im natürlichen Sterben ist das Nierenversagen und der Sauerstoffmangel dagegen mit Glücksgefühlen verbunden. Dafür gibt es ein eigenes Hormonsystem.

 

DAS MILIEU: Auch, wenn Sie betonen, in diesem Buch keinen Dampf ablassen zu wollen, kommt es dem Leser so vor, als trennen Sie in der Krebs- und Palliativmedizin zwischen Gut und Böse. Zum Teil erscheint die Behandlung an sich fragwürdig, wenig validiert, nur auf das Ziel ausgerichtet, damit Geld zu verdienen. Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt ein Arzt-Patienten-Verhältnis – also ein Vertrauensverhältnis – aufbauen?

 

Dr. Thöns: Sie haben recht: Es gibt sicherlich viele gute Krebsmediziner. Tatsächlich gibt es aber auch die anderen, um die geht es in meinem Buch. Und wenn wir aus Studien wissen, dass ca. 75% der jungen Krebsbetroffenen eine zu aggressive Behandlung bekommen, dann geht es hier eben nicht nur um einzelne „schwarze Schafe“, sondern um eine beträchtliche Herde. Mir ist bewusst, dass mein Buch das so wichtige Vertrauensverhältnis Arzt – Patient stört. Das ist die schlimme Nebenwirkung meines Buches.


DAS MILIEU: Können Sie uns im Gegensatz zu Ihren Beispielen der Behandlung in Ihrem Buch auch Beispiele einer verständnisvollen Behandlung mit frühzeitiger Hinzuziehung des Palliativteams nennen?

 

Dr. Thöns: Häufig arbeiten wir vor Ort mit einigen Kliniken und vielen Hausärzten wunderbar zusammen, bekommen frühzeitig die Patienten zugewiesen und sind früh dabei. Nachdem mein Buch rauskam, war das zeitweilig etwas gestört, aber ich habe den Eindruck es normalisiert sich wieder.


DAS MILIEU: Kein Arzt wäre bereit, bei sich selbst eine solche Übertherapie durchzuführen, wie er das zum Teil bei seinen Patienten macht. Wie ist ein solches Verhalten gegenüber den Patienten heutzutage, wo sich viele Patienten über das Internet informieren und selbst zu kleinen „Experten“ werden, überhaupt noch möglich?

 

Dr. Thöns: Glauben Sie mir eins: Wenn Sie zu mir kommen, ich halte ein Röntgenbild hoch, zeige Ihnen einen weißen Fleck, schaue Ihnen ernst in die Augen und sage dann „das sieht nicht gut aus“… Sie kaufen mir dann alles ab, was ich Ihnen anbieten würde. Patienten, die sich im Diagnoseschock befinden, sind extrem suggestibel – etwa so wie bei einer Hypnose: Sagt da der Therapeut: Bellen – dann bellen Sie. Dr. Google ist übrigens ein ziemlich schlechter Arzt. Dr. Google listet oben immer die besten Zahler auf – ob die auch die für Sie besten Ratschläge haben – ich mag das bezweifeln.

 

DAS MILIEU: Auch die Einflussnahme von Pharmafirmen und Herstellern ist ein großes Thema. Ein Beispiel ist die künstliche Ernährung über eine Magensonde bei Krebskranken. In Deutschland sei diese Leitlinie nicht so strikt ablehnend formuliert wie die europäische. In diesem Zusammenhang verweisen Sie darauf, dass die Hersteller der teuren Sondennahrung diese Leitlinie finanziell unterstützt hätten. Sehen Sie diese Undurchschaubarkeit gerade für den Patienten und Verbraucher als ein generelles Problem in Deutschland?

 

Dr. Thöns: Das ist ein Riesenproblem. Die Industrie sponsert die Forschung, die Leitlinien und die Meinungsbilder unter den Ärzten. Ich habe so etwas auch schon gemacht – es ist wenig Unrechtsbewusstsein unter uns Ärzten da vorhanden.

2.190 ärztliche Experten haben 2010 bis 2013 deutsche Therapieleitlinien verfasst. Etwa 90% von Ihnen hatten Interessenkonflikte. Wer einen Interessenkonflikt hat, darf eigentlich bei kritischen Entscheidungen nicht mit abstimmen. Bei den tausenden Interessenkonflikten enthielt sich nur ein einziger Arzt bei der Abstimmung.

 

DAS MILIEU: Immer wieder führen Sie an, dass Ärzte mit der Übertherapie von Patienten am Lebensende viel Geld verdienen. Aus diesem Grund sind Sie der Überzeugung, dass eine Begrenzung der Geldmittel, die den Krankenhäusern für Untersuchungen und Therapien zur Verfügung gestellt werden, Abhilfe schaffen könnte. Besteht hiermit aber nicht die Gefahr einer Unterversorgung des Patienten, dass also Patienten mit Mut und Lebenswillen am „Überleben“ gehindert werden?

 

Dr. Thöns: Einfach weniger bezahlen, ist nicht die Lösung. Die Lösung lautet, dort wo es Mengenausweitungen gibt, dürfen sich die nicht lohnen, dann muss es automatisch weniger Geld für die Leistung geben. Das funktioniert in der ambulanten Medizin schon seit Jahren so, da gibt es in vielen Bereichen nicht diese Probleme. Und es kann doch nun wirklich nicht sein, dass ein Chefarzt 15% des Erlöses einer Leistung bekommt und damit eine Motivation bekommt, hier und da eine hochpreisige Leistung mehr zu machen als nötig ist. So etwas ist kein Privatgeheimnis, sondern gehört transparent gemacht. Wenn ich einen Sparbrief erhalte, muss ich erfahren, wieviel Provision der Bankberater bekommt. Warum nicht bei der Medizin auch?

 

DAS MILIEU: In Deutschland ist nach langen Diskussionen die passive (= Nichtergreifen oder Nichtfortführen lebenserhaltender Maßnahmen basierend auf dem Willen des Patienten) und die indirekte Sterbehilfe (= Gabe von Medikamenten, mit dem Ziel der Leidlinderung und der Nebenwirkung einer Lebensverkürzung) straffrei geworden. In den Beneluxstaaten ist sogar die aktive Sterbehilfe erlaubt. Wie stehen Sie selbst dazu gerade im Hinblick auf eine Verminderung des Leidens am Lebensende?

 

Dr. Thöns: Weltweit sind passive und indirekte Sterbehilfe erlaubt und bis auf die Beneluxstaaten ist aktive Sterbehilfe – also die Tötung eines Patienten auf sein Verlangen hin – verboten. Das ist gut so. In den Beneluxstaaten gibt es keine Grenze mehr. Es weitet sich auf Kinder, auf psychiatrisch Erkrankte und letztlich umfangreich auch auf Menschen ohne Tötungsverlangen aus. Das ist nicht nur unethisch – das ist grotesk: Tötung auf Verlangen ohne Verlangen. Eine vierte Form, die Unterstützung bei der Selbsttötung, scheint diese Probleme nicht zu haben. Und hier haben wir seit Ende 2015 ein neues Strafgesetz bekommen, was diese Unterstützung bestrafen soll im Wiederholungsfall oder bei Wiederholungsabsicht. Das Gesetz zielte auf die Sterbehilfeorganisation, die sollten verboten werden. Nebenwirkung des Gesetzes ist aber, dass Palliativärzte wie ich nun ständig einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt sind, wenn wir die notwendigen stark wirksamen Medikamente verordnen. Die Sterbehilfeorganisation um die es vor allem ging 2015 hat jetzt ihren Sitz in Zürich und macht einfach so weiter wie bisher.

 

DAS MILIEU: Vielen Dank!

 

 

 

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