Buchautor im Interview

Dr. Michael Nehls: "Wir haben es selbst in der Hand, ob wir an Alzheimer erkranken"

15.06.2015 - Martina Kausch

Wo andere keine Hoffnung haben, zeigt er dass es noch Hoffnung gibt: Dr. Michael Nehls deckt in seinem Buch 'Die Alzheimerlüge' auf, dass jeder von uns selbst bestimmen kann sich dem Alzheimer hinzugeben oder präventiv vorzubeugen. DAS MILIEU sprach mit ihm über unsere Gesellschaft und in ihr einen verbreiteten einen Lebensstil, der zur Erkrankung führt.

DAS MILIEU: In unserer Leistungsgesellschaft sind Stress, chronischer Schlafmangel, ungesunde Ernährung, zu wenig Zeit für sich selbst und Bewegungsmangel normal geworden. All dies sind auch Risikofaktoren für Alzheimer. Ist unser Schicksal damit besiegelt?

DR. NEHLS: Es wäre tatsächlich besiegelt, wenn wir keine alternativen Handlungsmöglichkeiten hätten, wenn wir gezwungen wären, uns so zu verhalten wie wir es tun. Wenn ich glauben würde, dass wir keine Handlungsfreiheit besitzen, hätte ich "Die Alzheimer-Lüge" nie geschrieben. Vielleicht ist sogar die größte Lüge die, dass man uns glauben machen will, wir seien machtlos.

DAS MILIEU: Sie schreiben Bücher, halten Vorträge, besuchen Kongresse. Es ist Ihnen offensichtlich wichtig, Ihr Wissen über vermeidbare Erkrankungen zu verbreiten. Wieso haben Sie in diesem Zusammenhang den Titel ‚Die Alzheimer Lüge` so radikal bzw. populistisch gewählt?

DR. NEHLS: Genau aus diesem Grund. In unserer informationsüberfluteten Gesellschaft erhält nur das, was aus dem gewohnten Rahmen fällt, die nötige Aufmerksamkeit für lebensverändernde Gedanken. Aber es hat vor allem einen inhaltlichen Grund: Tausende wissenschaftliche Studien belegen, dass wir es selbst in der Hand haben, ob wir eines Tages an Alzheimer erkranken oder nicht. Dennoch wird von Experten das Gegenteil behauptet - leider meist sehr medienwirksam. Und diese Behauptung kommt auch gut an. Denn wenn das Schicksal verantwortlich ist, muss man ja auch nichts ändern, was zunächst durchaus bequem ist. Und so wird die propagierte Falschaussage, Alzheimer sei ein unvermeidliches Schicksal, zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Das ist meines Erachtens unverzeihlich!

DAS MILIEU: Haben Sie die Befürchtung durch den Titel Leser zu erschrecken und gar nicht erst anzusprechen?

DR. NEHLS: Das Buch ist seit über einem halben Jahr auf der Spiegelbestseller-Liste und mittlerweile eines der meistverkauften Bücher zum Thema Alzheimer. Es ist nun müßig darüber zu spekulieren, ob ein anderer Titel, der das grausame Dilemma, indem sich nahezu jeder in unserer Gesellschaft befindet, harmloser angesprochen hätte, besser gewesen wäre. Ich vermute jedoch, die Menschen greifen zu dem Titel, weil sie zurecht spüren, dass da etwas nicht stimmt: Dass die enorme Zunahme an Depression und ADHS nicht genetisch verursacht sein kann; dass Altersdiabetes, der inzwischen bei Kindern zur häufigsten Form von Diabetes geworden ist, nichts mit unserem Erbgut zu tun hat, sondern dass es eine andere Erklärung geben muss; warum Menschen immer häufiger und früher an den sogenannten Zivilisationskrankheiten leiden; wieso Alzheimer fast jeden trifft - jede zweite Frau, jeden dritten Mann - und wieso keine Heilung in Sicht ist; dass die Erklärung der Experten so nicht stimmen kann; dass es zu einfach ist, alles einfach aufs Älterwerden zu schieben, um einer Lösung des Problems näher zu kommen.

DAS MILIEU: Sie erwähnen die ‚couch potato‘ und das Sich-berieseln-lassen vom Fernsehen als Risikofaktoren für Alzheimer. Welcher Folgen sollten sich Eltern, die ihre Kinder vor dem Fernseher abstellen, bewusst sein?

DR. NEHLS: Alzheimer beginnt in der Zentrale unseres Gehirns (dem Hippocampus), die unsere persönlichen Erlebnisse, unsere Gedanken, alle unseren emotional bedeutsamen Erinnerungen abspeichert. Ohne diese Fähigkeit wäre es uns nicht möglich, sich mehr als ein paar Sekunden unseres Lebens bewusst zu machen. Wir wären nicht nur erinnerungslos, sondern auch planlos. Konstruktives Denken und Planen, was auf persönlichen Erfahrungen beruht, wäre nicht möglich. Damit diese Zentrale mit unseren Erfahrungen wächst, produziert sie ständig neue Hirnzellen, und das ein Leben lang. Die Impulse für die Bildung neuer Hirnzellen stammen nicht aus dem Herumsitzen, sondern aus der körperlichen Bewegung. Die Logik der Evolution ist einfach zu verstehen: Wer sich bewegt, erlebt etwas und deshalb muss der Erlebnisspeicher wachsen. Wer hingegen sitzt, dessen Hippocampus schrumpft. Es ist eigentlich egal, was er dabei tut. Da konstruktives Denken auf das Zurückgreifen auf Erinnerungen angewiesen ist, ist es leicht zu verstehen, wieso ein Kind, das sich viel bewegt, kreativer ist. Und das ist längst nicht alles. Beispielsweise sind die neuen Hirnzellen auch dafür verantwortlich, unsere Stressreaktion zu regulieren. Wer aufgrund von Bewegungsmangel im Hippocampus weniger neue Hirnzellen bildet, ist deshalb stressempfindlicher, zeigt weniger Neugier und ist weniger lernfähig. Und damit die neuen Hirnzellen zum Erinnern und zum Stressabbau beitragen können, müssen sie wachsen und überleben. Dazu ist eine gesunde Ernährung wichtig. Außerdem müssen sie sich vernetzen. Hierfür benötigen sie emotional bedeutsame Erlebnisse. Die gibt es weniger vor dem Fernseher als im spielerischen Miteinander. Im Begriff Emotion steckt das Wort Bewegung!

DAS MILIEU: Smartphones ermöglichen uns überall und zu jeder Zeit Zugang zu Information. Wir müssen also kaum noch Wissen im Gehirn abspeichern. Fluch oder Segen?

DR. NEHLS: Zugang zu Wissen ist gut. Zugang zu vernetztem Wissen, wie man es im Internet findet und das uns erlaubt, kreative Fragen zu Dingen zu stellen, auf die wir nur kommen, weil sie vernetzt sind, ist noch besser. Damit habe ich kein Problem, im Gegenteil. Gehirn und Internet arbeiten in manchen Aspekten ziemlich ähnlich. Die Frage ist vielmehr, wie man das weltweite Angebot an Information nutzt. So kann ich zum Beispiel durch den schnellen Zugang zu wissenschaftlichen Informationen mein Wissen effizient erweitern, wenn es sich dann auch in meinem Gehirn mit schon existierendem Vorwissen vernetzt. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch das Internet Wissen für jeden zugänglich wird. Wissen ist bekanntlich Macht, und durch den schnellen Zugang zu Wissen wird jeder Nutzer zunächst einmal „ermächtigt“ - vorausgesetzt, er lernt es, kritisch zu denken. Kann er das nicht, kann er sehr leicht manipuliert werden. Dann wird das Internet zum Fluch, zu einer höchst effizienten Propaganda-Maschine für Konsum und politische Meinung. Ich halte deshalb kritisches Denken für das Wichtigste überhaupt, was Menschen lernen sollten. Aber das galt auch schon vor der Zeit der Smartphones.

DAS MILIEU: Stress ist ein Risikofaktor für Alzheimer. Sie sind Arzt, schreiben Bücher, haben drei Kinder, halten Vorträge. Wie gehen Sie persönlich mit Stress um?

DR. NEHLS: Zunächst einmal ist Stress nur dann ein Risikofaktor, wenn Sie, wie ich annehme, von Disstress sprechen. Der stellt sich ein, wenn wir vor unlösbaren Aufgaben stehen, aber auch, wenn wir nichts zu tun haben, und sich das Gefühl einstellt, nicht mehr gebraucht zu werden. Das ist auf Dauer tödlich. Eustress hingegen, sprich guter Stress, ist lebenswichtig und fördert das Wachstum und die Integration der neuen Hirnzellen in unserer Erinnerungszentrale. Deshalb versuche ich mir nur Herausforderungen zu stellen, die zwar anspruchsvoll sind – sonst würden sie mich nicht reizen – aber dennoch machbar. Das gelingt natürlich nicht immer. Aber meine Kinder motivieren mich, denn ihnen wünsche ich eine aufgeklärtere Gesellschaft, in der zu leben es Spaß macht, auch wenn man eines Tages 100 Jahre alt wird. Daran arbeite ich. Meine Frau und ich unterstützen uns gegenseitig dabei. Außerdem kochen wir täglich und achten darauf, genügend Bewegung und ausreichend Schlaf zu bekommen.

DAS MILIEU: Welche weiteren Erkrankungen, die in Ihren Augen vermeidbar sind, möchten Sie noch erforschen bzw. hinterfragen?

DR. NEHLS: In meinem Alzheimer-Präventionsbuch hatte ich schon angedeutet, dass diese schreckliche Krankheit nicht nur vermieden, sondern in den frühen Phasen noch geheilt werden könnte - unter der Voraussetzung, dass man meine Ratschläge beherzigt. Inzwischen ist dies in einer kleinen Studie in den USA bestätigt worden, weshalb ich mich entschlossen habe, ein weiteres Buch zu schreiben. Unter dem Titel "Alzheimer ist heilbar - Rechtzeitig zurück in ein gesundes Leben" wird es pünktlich zum diesjährigen Welt-Alzheimertag am 21. September erscheinen. Es bietet den etwa zweihunderttausend Menschen, die alleine in Deutschland jedes Jahr an Alzheimer erkranken, eine reelle Chance geheilt zu werden. Meine beiden Bücher zu diesem Thema verändern nicht nur grundlegend unser Verständnis von Alzheimer, sondern rütteln auch an der grundsätzlichen Frage, wie wir leben wollen. Sobald wir unsere krankmachende Lebensweise ändern, kann ich aufhören zu schreiben.

DAS MILIEU: Stellen Sie sich vor, Sie wären Bundeskanzler und sollen eine Gesundheitsreform bezüglich Alzheimer einführen. Was würden Sie zur Prävention von Alzheimer tun?

DR. NEHLS: Alzheimer-Prävention beginnt schon in der Schule. Dort werden die Weichen gestellt. ADHS und depressive Entwicklungen sind erste Symptome! Den Kindern, den Eltern und Lehrern muss der Unterschied zwischen wirtschaftskonform und artgerecht bewusst werden. Nur dann wird sich etwas ändern. Ohne diese Unterscheidung verwechseln wir normal mit natürlich, und das ist fatal. Auch Alzheimer mag statistisch betrachtet normal sein, die Krankheit ist aber nicht natürlich. Wir benötigen eine Wende in unserem alltäglichen Denken. Märkte und Wirtschaftssysteme wurden entwickelt, um uns allen ein besseres Leben zu ermöglichen. Leider dienen wir inzwischen den Märkten und dem Konsum und vergessen, was wirklich wichtig für uns ist. Kurzum, wir leben nicht mehr artgerecht, und das hat Folgen. Aus dem Widerspruch zwischen unserer modernen wirtschaftskonformen Lebensweise auf der einen und unseren natürlichen physischen und psychischen Bedürfnissen, sprich einer artgerechten Lebensweise, auf der anderen Seite, entstehen die sogenannten Zivilisationskrankheiten. Sie sind allesamt Mangelkrankheiten, wie ich es nun auch für Alzheimer in meinem Buch beweise. Viele Menschen leiden unter einem Mangel an gesunder, vitalstoffreicher Ernährung, an ausreichend Bewegung, an genügend Schlaf, an echten sozialen Beziehungen und nicht zuletzt an sinnvollen Aufgaben und neuen Herausforderungen bis zum Lebensende. Um das Dilemma der Pharmaindustrie, die es trotz Milliardeninvestitionen nicht schafft, das Problem zu lösen, auf den Punkt zu bringen: Ein Mangel an artgerechtem Leben lässt sich nicht durch eine Pille ausgleichen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass wir selbst wieder lernen müssen, artgerecht zu leben. Und das ist durchaus auch in einer modernen Welt möglich. Wie das geht, darüber müssten wir aufklären. Darüber müssten die Medien berichten. Dahin müsste auch ein großer Teil der Milliardenbeträge fließen!

DAS MILIEU: In Ihrem Buch beschreiben Sie sehr eindrucksvoll wie man sich vor Alzheimer schützen kann. Was möchten Sie diesbezüglich als Essenz Ihren Kindern mit auf den Weg geben?

DR. NEHLS: Selbst zu denken, neugierig zu bleiben, alles zu hinterfragen und nichts als gegeben zu akzeptieren.


Michael Nehls: Die Alzheimer-Lüge: Die Wahrheit über eine vermeidbare Krankheit. Heyne Originalausgabe Paperback, Klappenbroschur, 464 Seiten, 13,5 x 20,6 cm ISBN: 978-3-453-20069-2 € 16,99 [D] | € 17,50 [A] | CHF 24,50*

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