Soziologin im Interview

Dr. Natasha A. Kelly: "Wir brauchen zwingend wissenschaftliche Grundlagen, die Rassismus als strukturelles Phänomen analysieren"

01.05.2021 - Olivia Haese

Während die US-zentrische Bewegung BlackLivesMatter weiterhin auch in Deutschland Aufsehen erregt, wird über afrodeutsche Geschichte wenig gesprochen. Die Kommunikationssoziologin Dr. Natasha A. Kelly hat lange zu den Themen Schwarze deutsche Geschichte, Post-/Kolonialismus und Feminismus geforscht und gelehrt, darüber hinaus hat sie sich als Autorin, Kuratorin und Regisseurin mit diesen Themen beschäftigt. DAS MILIEU sprach mit Dr. Kelly über ihren Hintergrund, ihre Forschung und über ihre Lösungsansätze.

DAS MILIEU: Sehr geehrte Frau Kelly, Sie sind in England geboren, aber in Deutschland aufgewachsen. Wie würden Sie Ihren kulturellen oder religiösen Hintergrund beschreiben?

Dr. Natasha A. Kelly: Ich vereine Drillinge in mir. Meine Wurzeln sind in der Karibik. Definitiv eine Region, die meinen Ausdruck und meine Ästhetik geprägt haben. Erinnerungen an meiner frühen Kindheit in London schlummern in mir und werden immer wieder von meinem inneren Kind geweckt. Der größte Teil meiner Sozialisation erfolgte allerdings in Deutschland – ich denke Deutsch, ich liebe Deutsch und gehe auch in den Keller zum Lachen. Nicht wirklich! Aber ich lache sehr gerne. In die Kirche gehe ich nicht. Im Gegenteil. Ich bin sehr bemüht die Verbindung zu meinen Ahnen wiederherzustellen, die von Christianisierung, Missionierung und Kolonialisierung durchbrochen wurde.



MILIEU: Sie haben in Soziologie und Kommunikationswissenschaften promoviert, Ihren Studienfokus auf Kolonialismus und Feminismus gesetzt. Haben soziologische und zwischenmenschliche Dynamiken Sie schon immer interessiert?

Kelly: Als Schwarzes Kind in Deutschland groß zu werden, bringt viele Herausforderungen mit sich. Auf der Suche nach meiner eigenen Identität folgte ich den Spuren Schwarzer deutscher Geschichte und war irgendwann zwangsläufig beim Schwarzen Feminismus und später dann auch beim Kolonialismus angekommen. Ausschlaggebend war das Buch „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“, das aus Schwarzer feministischer Perspektive den deutschen Kolonialismus kritisiert. Als Soziologin interessieren mich aber weniger die zwischenmenschlichen Dynamiken und mehr die Gesellschaftsstrukturen, sowie meine Community und andere Kreativräume, in denen ich mich bewege.



MILIEU: Sie sagen, dass das Problem mit anti-Schwarzer Diskriminierung nicht nur mit dem Hautton zu tun hat, sondern auch damit, dass mit dem Hautton Geschichte mitschwingt. Wie würden Sie dieses mit Geschichte zusammenhängende Problem (im Kontext Deutschland) zusammenfassend erklären?

Kelly: Das Problem heißt Rassismus! Und Rassismus ist wie das Patriarchat und auch der Kapitalismus eine Ideologie, die zur Konstruktion von vermeintlichen Rassen geführt hat. Neben anderen phänotypischen Merkmalen wurde Hautfarbe aufgeladen und eine abwertende Bedeutung zugeschrieben. In Deutschland wurden mit den so genannten kolonialen „Mischehegesetzen“ beispielsweise die Konstrukte „Rasse“ und „Nation“ aufs engste miteinander verwoben. Deshalb werden Menschen, die so aussehen wie ich, heute immer noch gefragt, woher sie kommen. Für die weiße Mehrheitsgesellschaft scheinen Schwarz und Deutsch immer noch unvereinbare Kategorien zu sein, weil Deutsche seit der Kolonialisierung als weiß imaginiert werden und in dieser rassistischen Logik, Schwarze Menschen nicht Deutschsein können. Uns wird und wurde seit jeher das Deutschsein abgesprochen.



MILIEU: Sie sind außerdem Autorin, Kuratorin, Filmemacherin und Theaterregisseurin. Ihr 2018 erschienenes Filmprojekt "Millis Erwachen" setzt sich mit einem Gemälde des deutschen Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner auseinander, das eine nackte, schlafende Schwarze Frau darstellt. Warum haben Sie dieses Gemälde als Ausgangspunkt gewählt?

Kelly: Im Mittelpunkt meines Filmes stehen acht Schwarze Künstler:innen, die in Kurzinterviews erzählen, wie sie sich in und durch Kunst selbstbehaupten konnten. Während eines der Interviews landeten wir in einer Ausstellung zum deutschen Kolonialismus in der Kunsthalle Bremen, wo meine Interviewpartnerin eine Filminstallation hatte. Dort war auch das Gemälde „Schlafende Milli“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1911 zu sehen. Unsere Position als Schwarze Frauen* in der weißen Mehrheitsgesellschaft ist ja dieselbe wie ‚Millis‘ und deshalb werden koloniale Kontinuitäten durch die Art ihrer Darstellung sichtbar. Schnell kam die Idee, sie zu „erwecken“ und ihr durch die Erzählungen ihrer Nachfahren eine Stimme zu geben. So entstand letztendlich der Titel zum Film: „Millis Erwachen“.



MILIEU: In dem Film erzählen acht afrodeutsche Frauen 
 Künstlerinnen und Aktivistinnen  von ihren biographischen Erfahrungen. Gibt es bei diesen Geschichten eine Kollektiverfahrung mit Rassismus, die von Außenstehenden oft schwer zu verstehen ist?

Kelly: Die weiße Mehrheitsgesellschaft versucht oft den strukturellen Rassismus auf seine individuelle Handlungsebene zu reduzieren, was oft dazu führt, dass Rassismusanalysen auf Einzelerfahrungen, die mit der Markierung von Hautfarbe einhergehen, reduziert werden. Streng genommen geht damit aufs Neue eine Rassifizierung einher. Wir Schwarze Menschen haben aber mehr gemeinsam als nur unsere Hautfarbe. Was uns eint, ist unsere gesellschaftliche Position, von wo wir dieselben strukturellen Ausschlüsse erleben. Bei unseren Rassismuserfahrungen handelt es sich demnach nicht um Einzelfälle, sondern um strukturell bedingte Vorfälle, die sich ständig wiederholen.



MILIEU: Die Auseinandersetzung mit Rassismus erfordert eine Sensibilisierung der Bürger und einen politischen Bewusstseinsprozess. Welche Missverständnisse sehen Sie noch allzu oft? Etwa, dass Rassismus nur ein Problem einzelner Menschen ist?

Kelly: Die Tatsache, dass Rassismus auf seine individuelle Ebene reduziert wird, führt natürlich dazu, dass der Rassismus nicht als Ideologie, sondern als Handlung verstanden wird. Es entstehen dann Maßnahmen, die nicht auf der strukturellen Ebene greifen. Es ist aber wichtig, dass wir lernen Rassismus in seiner vollen Komplexität zu erkennen, und die Machtmatrix, die durch Rassismus entstanden ist und immer wieder gestärkt wird, in den Blick zu nehmen und abzubauen.


MILIEU: Können Sie uns kurz den Unterschied zwischen den Bezeichnungen "afrodeutsch" und "Schwarze deutsche" erklären?

Kelly: Als die Selbstbezeichnungen Mitte der 1980er Jahre entstanden sind, wurden sie synonym verwendet. Heute beobachten wir immer mehr, dass junge Menschen mit einem weißen Elternteil, die Bezeichnung Afrodeutsche vorziehen, während Personen mit zwei Schwarzen Elternteile sich als Schwarze Deutsche identifizieren. Ich finde diese Trennung fatal, da es innerhalb der Community zum so genannten „Colorism“ führt. Wenn dein Hautton heller ist, kommst du der weißen Norm näher und genießt dadurch rassistisch implizierte Privilegien, im Englischen „light skinned privilege“ genannt. Dies zeigt, wie sich die Strukturen rassistischer Denkmuster direkt durch unsere Communities ziehen und auch unsere eigenen Handlungen prägen.



MILIEU: Ich habe das Gefühl, dass einige Weiße Menschen sich erst einmal grundsätzlich für "nicht-rassistisch" halten, solange sie nicht absichtlich bewusstes rassistisches Gedankengut hegen. Was muss geschehen, damit Weiße Menschen ihren eigenen, oftmals unbewussten oder ungewollten Rassismus erkennen?

Kelly: Das Traurige ist, dass alle Menschen weltweit rassistisches Gedankengut hegen. Wenn wir Rassismus als Ideologie verstehen, dann hat es zum Rassedenken geführt. Dieses Denken veranlasste Immanuel Kant die Kategorie ‚Rasse‘ zu erfinden und biologisch zu definieren. Diese biologische Idee wurde institutionalisiert und durch Kants Rassenlehre verbreitet. Auf der Handlungsebene kommt er dann in der Form von Rassisfizierungen oder rassistischen Zuschreibungen, die unsere Seh- und Sprachgewohnheiten prägen, an. Es ist wichtig Rassismus in seiner Ganzheit zu betrachten, um das eigene Verhalten verstehen zu können.



MILIEU: Sie sagen, dass es an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen einen epistemischen Rassismus gibt. Was meinen Sie damit?

Kelly: Die europäische Wissenschaft hat sich seit jeher als universell inszeniert. Dies führt dazu, dass Schwarze Wissenschaftler:innen unsere Wissenschaftlichkeit im Spezifischen, aber auch unser Intellekt und unsere Ästhetik im Allgemeinen abgesprochen werden. Stattdessen werden wir stets auf eine Körperlichkeit reduziert. Die Folge ist, dass Schwarze deutsche Geschichte, Kunst und Kultur im wissenschaftlichen Kontext in der Regel erst dann relevant wird, wenn weiße Historiker:innen oder weiße Ethnolog:innen als Erzähler:innen auftreten. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Gewalt, auch bekannt als „epistemische Gewalt“ ausgeübt wird. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form der weißen Vorherrschaft, die in vielen wissenschaftlichen Institutionen ungehindert wirkt und durch politische Maßnahmen (finanziell) gestärkt wird.



MILIEU: Ihr neues Buch trägt den Namen "Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!" Sie machen in dem Buch deutlich, dass es zur Bekämpfung von Rassismus in Deutschland prozessorientierter  und nicht ergebnisorientierter  Handlungen bedarf. Können Sie uns ein Beispiel für solche Handlungen geben?

Kelly: Rassismus ist diskursiv und nicht biologisch. Er erfolgt über verschiedene Diskurse, die wirtschaftlich, politisch, historisch und auch biologisch sein können. Und diese diskursiven Abläufe gilt es zu verstehen, bevor wir handeln. Während z. B. der wirtschaftliche Diskurs sich in Macht- und Herrschaftssysteme wie Kolonialismus und Versklavung widerspiegelte, wurde mit dem Rassebegriff ein biologischer Diskurs geführt. Diese Diskurse sind zwar eng miteinander verstrickt, allerdings führt das Vorhaben, den Rassebegriff im Grundgesetz zu ersetzen, nicht zum Abbau von Rassismus in seiner ganzen Strukturiertheit. Anstatt ergebnisorientiert an die Sache heranzugehen, müssen wir anfangen prozessorientiert zu denken. D.h. ganz konkret, dass ein Umdenken forciert werden muss, sodass die Gesamtgesellschaft die Bedeutung des Wortes samt seiner komplexen Wirkmächtigkeit versteht, bevor wir auf die Idee kommen, den Begriff zu ersetzen.



MILIEU: Die BlackLivesMatter Bewegung hat vor allem im letzten Sommer auch in Deutschland Aufmerksamkeit erregt. Man könnte meinen, dass viele Deutsche diese Bewegung unterstützen, obwohl sie eigentlich US-zentrisch ist. Dabei wird afrodeutsche Geschichte hingegen grundsätzlich weder in unseren Medien noch im Bildungssystem thematisiert. Wie bewerten Sie diesen Kontrast?

Kelly: #Blacklivesmatter begann als Hashtagbewegung und ist daher gar nicht von der digitalen Welt zu trennen, wo nationale Grenzen obsolet werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass Schwarze Communities weltweit im Kontext der afrikanischen Diaspora vernetzt sind, also das Deutsch in ‚Afrodeutsch‘ ist eher eine kulturelle als eine nationale Kennzeichnung – das habe ich ausführlich in meinem Buch „Afrokultur“ erklärt, was inzwischen auch ein Bühnenstück ist. Die Tatsache, dass unsere Geschichte weder in den Medien noch in Schulbücher vorkommt, hat zum einen mit der oben beschrieben epistemischen Gewalt zu tun. Zum anderen werden Schwarze Menschen stets von Deutschland wegverortet, was historisch begründet ist. Was wir aber nicht vergessen dürfen ist, dass Rassismus ein europäisches Exportprodukt ist, das von hier in die ganze Welt hinausgetragen wurde.



MILIEU: Ein Grund, warum afrodeutsche Geschichte kein verbreitetes Thema ist, ist der, dass in Deutschland weniger Menschen mit afrikanischen Wurzeln leben als etwa in Frankreich oder den USA. Die Gründe für diese Zahlendifferenz sind aber nicht vielen Leuten bewusst. Würden Sie uns die historischen Hintergründe dafür kurz erläutern?

Kelly: Schwarze deutsche Geschichte ist eine Erzählung, die von Diskontinuitäten geprägt ist. Im Laufe der Geschichte wurden Schwarze Menschen und damit auch Schwarze Körper immer wieder des Landes verwiesen: Im Zuge der Kolonialisierung wurde vielen Afrikaner:innen und ihre Nachkommen die deutsche Staatsangehörigkeit verweigert; nach dem Ersten Weltkrieg wurden viele der so genannten Kolonialmigrant:innen des Landes verwiesen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Schwarzen Kinder vieler US-amerikanischen Soldaten in die USA zwangsadoptiert; nach dem Mauerfall wurden afrikanische Vertragsarbeiter:innen nicht eingebürgert usw. Wir sehen also, dass es durch die Geschichte hinweg ein Bemühen gab, Deutschland weiß zu halten, was der Kontinuität der Verstrickung der Kategorien „Rasse“ und „Nation“ geschuldet ist.



MILIEU: Im Podcast-Interview mit Jung & Naiv erklären Sie die deutsche Kolonialgeschichte ausführlich. Ein wichtiger Punkt ist, dass es ein Deutscher war, Otto von Bismarck, der die Aufteilung Afrikas unter Kolonialmächten veranlasst hat. Bitte verdeutlichen Sie uns noch einmal, wie europäische bzw. osmanische Männer einen ganzen Kontinent einfach mit Landkarte und Bleistift "ganz selbstverständlich" verteilen konnten - und was das für das heutige Deutschland und deutsche Nationalidentität bedeutet?

Kelly: Als Folge der Nationenbildung befand sich Otto von Bismarck in einem neuen geopolitischen Raum, nämlich Europa, in dem er sich fortan zu behaupten versuchte. Die Engländer und Franzosen waren ja schon lange in der Welt unterwegs und führten imperialistische Kriege. Mit der Einberufung der so genannten Kongo-Konferenz versuchte Bismarck von den innenpolitischen Problemen des Kaiserreichs abzulenken und wollte – auf gut Deutsch gesagt – ein Stück vom Kuchen. Um die deutsche Wirtschaft ankurbeln zu können, brauchte er wie die anderen Großmächte auch v.a. Rohstoffe. Rassismus bildete damals die perfekte Legitimationsgrundlage, um nach Afrika zu ziehen, wo die nötigen Rohstoffe und billige Arbeitskräfte zu finden waren.



MILIEU: Ein anderer Studienfokus für Sie ist Schwarzer Feminismus, eine Bewegung, die in den USA mit der Arbeit bekannter Aktivistinnen wie Alice Walker, Angela Davis und bell hooks in Verbindung gebracht wird. Würden Sie kurz beschreiben, warum es auch in Deutschland wichtig ist, einen "Schwarzen Feminismus" statt nur einen "Feminismus" zu haben?

Kelly: Als Schwarze Frau bin ich immer gleichzeitig von Rassismus und Sexismus betroffen, eine besondere Form der Mehrfachdiskriminierung oder Intersektionalität. Weiße Frauen hingegen sind nicht von Rassismus betroffen, aber von Sexismus. Demnach machen Frauen unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen und haben dementsprechend unterschiedliche politische Forderungen. Während weiße Feministinnen für gleichen Lohn kämpfen beispielsweise kämpfen Schwarze Frauen und Frauen of Color noch immer für den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt. Dies zeigt, dass die Kategorie ‚Frau‘ nicht homogen und der Feminismus nicht einseitig sein kann.



MILIEU: Der Begriff "Intersektionalität" wurde von der afroamerikanischen Wissenschaftlerin und Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt. Der Begriff beschreibt die Diskriminierung eines einzelnen Menschen auf verschiedenen Ebenen. Ein intersektionales Verständnis von Feminismus beinhaltet also, dass die Identitäten als "Frau" und "Schwarz" unabhängig voneinander verstanden werden müssen. Gleichzeitig entsteht durch die Überlappung dieser Identitäten eine eigene, bestimmte Erfahrung. Was müssen wir als deutsche Gesellschaft über Intersektionalität besser verstehen?

Kelly: Ich denke, dass es wichtig ist, zu verstehen, dass kein Thema isoliert von dem nächsten Thema betrachtet werden kann. Und dies gilt auch weit über feministische Kontexte hinaus. So kann z. B. die Klimadebatte nicht ohne einen Diskurs zu Rassismus und Kapitalismus geführt werden: Wenn wir die Erderwärmung als Folge der Industrialisierung verstehen, dann war Letzteres nur möglich, weil in der Versklavung Afrikaner:innen zur Arbeit gezwungen wurden und im Zuge der Kolonialisierung der afrikanische Kontinent um ihre Rohstoffe geplündert wurde. Die Endprodukte wurden von  Amerika nach Europa exportiert usw. Die Erderwärmung, die wir heute erleben, ist eine Folge dieses Kreislaufs, aber sie trifft wiederum Menschen in afrikanischen Ländern härter als hier in Europa und ist eine von vielen Fluchtursachen. Aber während Menschen in Afrika gezwungen sind, ihre gewohnten Lebensräume zu verlassen, leben wir hier in Europa im Überfluss und schauen vom Sofa aus zu wie Menschen vom Hunger angetrieben der Nahrungskette folgen und im Mittelmeer ertrinken. Was wir brauchen ist keine soziale, sondern intersektionale Gerechtigkeit, um diesen globalen Teufelskreis zu durchbrechen.



MILIEU: Durch strukturelle Diskriminierung entsteht auch das Problem von Internalisierung, zum Beispiel internalisierte Frauenfeindlichkeit. Eine Frau, die immer wieder mit normalisierten frauenfeindlichen Botschaften konfrontiert wird, nimmt diese Botschaften irgendwann unbewusst als Teil ihrer Identität auf. Das gleiche Problem ergibt sich mit allen anderen Formen von struktureller Diskriminierung. Können Sie uns ein Beispiel für internalisierten Rassismus oder Frauenfeindlichkeit geben?

Kelly: Der Psychoanalytiker Frantz Fanon beschrieb dieses Phänomen im Kontext von Rassismus als "alienation", eine Form der Entfremdung. Ihm zufolge würden sich Schwarze Menschen in dem Bestreben sich der weißen Norm anzupassen von sich selbst entfremden. Die Folgen sind psychische und körperliche Erkrankungen oder im schlimmsten Fall der Tod.



MILIEU: Es gibt heutzutage viele Diskussionen über Meinungsfreiheit, Zensur und political correctness. Wir sehen, dass Sprache in Bezug auf Rassismus und Frauenfeindlichkeit eine große Rolle spielt, sowohl bei der Entstehung der Probleme als auch bei der Lösung der Probleme. Wie würden Sie diese Rolle erklären und wie viel Macht würden Sie ihr zuordnen?

Kelly: Im konstruktivistischen Sinn ist Sprache eine Form des Handelns, d.h. mit Sprache können wir auf der einen Seite Gewalt und damit einhergehend auch Rassismus ausüben. Auf der anderen Seite können durch Sprache soziale Wirklichkeiten geschaffen werden, wie im Fall der Selbstbezeichnungen ‚Afrodeutsche‘ und ‚Schwarze Deutsche‘. Die Meinungsfreiheit ist zwar eng mit Sprache verwoben und als Grundrecht allen Bürger:innen des Landes garantiert. Allerdings hat sie entgegen der weit verbreiteten Ansicht auch Grenzen. Und zwar genau da, wo andere Menschenrechte verletzt werden. Da der Schutz vor Diskriminierung auch ein Menschenrecht ist, fällt rassistisches Sprachhandeln nicht mehr unter die Meinungsfreiheit und sollte dementsprechend geahndet werden.



MILIEU: Welche Veränderung würden Sie sich bezüglich der Rassismus-Debatten sowie Feminismus-Debatten in Deutschland wünschen?


Kelly: Wir brauchen zwingend wissenschaftliche Grundlagen, die Rassismus als strukturelles Phänomen analysieren, erklären und festschreiben und für den deutschsprachigen Raum in Politik und Gesellschaft fruchtbar machen, sowie eine einheitliche rechtskräftige Definition von Rassismus, die ebendiese Strukturen in den Blickpunkt nimmt. Dazu ist es unabdingbar eine eigenständige unabhängige Antirassismusforschungsstelle sowie ein Center für Black Studies zu institutionalisieren. Anstatt sinnlose Änderungen am Grundgesetz vorzunehmen, müssten wir Vorgaben für die Rechtsprechung entwickeln, denn auch Richter:innen sind vom Rassedenken geprägt. Das Thema muss sehr früh in die Schulcurricula Eingang finden – am besten schon in die Kindergärten und fortdauernd bis Ende der Schullaufbahn. Ebenso an Universitäten: alle Disziplinen müssen das Thema als Pflichtfach haben, v.a. die sozialen und pädagogischen Fächer. Wir müssen die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte bundesweit vorantreiben und in der deutschen Geschichtsschreibung Multiperspektivität zu lassen. Es gibt sehr viel was getan werden kann und muss als das bisher der Fall wäre.



MILIEU: Gibt es in Hinblick auf die heutige Gesellschaft Entwicklungen, die Ihnen besonders Sorgen machen?

Kelly: Ich denke, es wäre fatal den Rassebegriff aus dem Grundgesetz zu streichen. Rasse ist ja die Materialisierung des Rassedenkens, was hinter dem Begriff steht und überhaupt zu seiner biologischen Definition geführt hat. Wir müssen an den Gedanken heran und wie oben gesagt ein Umdenken forcieren. Das können wir nur, indem wir den Rassebegriff Schritt für Schritt dekonstruieren und nicht indem wir das Wort ersetzen. Ersatzvorschläge wie aktuell „aus rassistischen Gründen“ reichen zu kurz und reduzieren Rassismus auf seine individuelle Handlungsebene. Zudem muss auch die Intention nachgewiesen werden, was eine doppelte Last für die Betroffenen ist. Damit bekommen wir Rassismus als strukturelles Phänomen nicht zu greifen.


MILIEU: Bei Themen wie der Benachteiligung von Minderheiten sind es meist die von Benachteiligung betroffenen Personen selbst, die sich dagegen engagieren müssen. Etwa Menschen, die unter rassistischer Diskriminierung leiden, sehen sich gezwungen, selbst ihre eigene Benachteiligung wissenschaftlich zu erforschen, zu erläutern, und politisch für sie aktiv zu werden. Die Belastung der benachteiligten Gruppen ist dadurch also nochmal schwerer. Wie können sich Personen, die nicht von rassistischer Benachteiligung betroffen sind, am effektivsten Unterstützung leisten?

Kelly: Ein Bestandteil der weißen Vorherrschaft ist es zu suggerieren, dass Weißsein ein Ort der Neutralität ist, der weiße Fleck, das unbeschriebene und unbeschadete Außen von Rassismus. Problematisch an dieser Denkweise ist, dass Weißsein samt allen Privilegien auf diese Weise als moralisches Zentrum von Rassismus reproduziert wird. Es wird dabei nicht nur außer Acht gelassen, dass Rassismus weißen Menschen etwas zuschiebt, nämlich Privilegien, sondern auch etwas zufügt, nämlich Schaden. Es steht außer Frage, dass der Schaden, den weiße Menschen durch Rassismus erleben in keinem Verhältnis steht zu dem, was Schwarze Menschen erleiden. Dennoch kann eine rassistische Welt für niemand die bessere Welt sein.

MILIEU: Vielen herzlichen Dank für das Interview, Frau Dr. Kelly!



Zum Thema:

Natasha A. Kelly: Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! Erschienen: 23. April 2021, Atrium Verlag, 108 Seiten, 9,00 €.

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