Literaturwissenschaftler im Interview

Dr. Wolfram Ette: "Eltern sollten die Wut gegen ihre Kinder nicht verdrängen"

01.11.2019 - Alia Hübsch-Chaudhry

Kinderbücher wie "Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann gelten trotz der darin geschilderten grausamen Erziehungsmaßnahmen immer noch als Klassiker der deutschen Literaturlandschaft. Berichte von wild gewordenen Kindern, die ihren Eltern auf der Nase herumtanzen und wieder unter Kontrolle gebracht werden müssen, füllen unsere Ratgeber-Bücher. DAS MILIEU sprach mit dem Philosophen und Literaturwissenschaftler Dr. Wolfram Ette über sein neues Buch "Das eigensinnige Kind", das nach dem Märchen der Gebrüder Grimm benannt ist, seine Kindheitserfahrungen, die richtige Erziehungsmethode zwischen Kontrollwahn und Anarchie, die Rolle des Staates in der Kindererziehung und den Pippi-Kult.

DAS MILIEU: Waren Sie ein rebellisches Kind?

Dr. Wolfram Ette: Ich war nicht sonderlich rebellisch – zumindest als Kind, als Jugendlicher weit mehr. Ich habe mich für einen Weg entschieden, der in dem Buch über das eigensinnige Kind interessanterweise keine besonders große Rolle spielt, nämlich für die innere Emigration. Ich habe sehr viel gelesen und in Fantasieräumen gelebt, über die ich zu verfügen glaubte. In der mich umgebenden Wirklichkeit, die von Angst und Enttäuschungserfahrungen durchdrungen war, war das nicht der Fall.

MILIEU: Wie wurde mit Ihnen umgegangen?


Dr. Ette: Es gibt sicherlich eine Übereinstimmung mit dem Märchen vom eigensinnigen Kind. Meine Mutter war die entscheidende Figur, um die sich alles drehte. Sie war nervenschwach, eher hartherzig, teilweise brutal (wenn man ihre Biografie kennt, kann man das durchaus nachvollziehen). Mein Vater war anders, auf seine Weise auch distanziert, aber eben nicht kalt. Er war aber schwach und ist familiären Konflikten in der Regel aus dem Weg gegangen. Das heißt, er war in gewisser Weise auch abwesend, wie der Vater im Märchen.

MILIEU: Wann haben Sie das Märchen „Das eigensinnige Kind“ zum ersten Mal gehört und was hat das mit Ihnen gemacht?

Dr. Ette: Das war im Sommer 2010, ich las das in Oskar Negt und Alexander Kluges Geschichte und Eigensinn. Was soll ich sagen? Ich stand unter Schock – bis heute geht es mir so, wenn ich das Märchen höre oder lese. Nach wie vor bildet es einen Angstkreis um mich, und meine Versuche, durch das Schreiben dieses Buches diesem Angstkreis zu entkommen, waren wohl nur partiell erfolgreich.

MILIEU: Gibt es überhaupt so etwas wie ein „eigensinniges“ Kind?

Dr. Ette: Ja natürlich. Jedes Kind ist eigensinnig. Mal mehr, mal weniger. Aber im Grunde gibt es kein Leben ohne Eigensinn. „Eigensinn ist Leben“, heißt es bei Kluge und Negt.

MILIEU: Sie vergleichen den „Eigensinn der Dinge“ mit dem Eigensinn der Menschen. Manchmal scheine es so, als hätten sich Gegenstände gegen uns verschworen. Was meinen Sie damit genau?

Dr. Ette: Wie bei vielen anderen meiner Generation steht das, was ich tue, im Zeichen von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung: ich versuche dieses Buch, das ich für eine Schlüsselschrift der Moderne halte, von seinen Fehlern zu befreien und fortzusetzen. Es besagt, auf die einfachste Formel gebracht, dass Aufklärung als Herrschaft über die Natur ‚dialektisch‘ in sich zurückschlägt. Eine Form solchen Rückschlags ist der Eigensinn und da ist es zunächst mal egal, ob wir unsere Kinder unterdrücken, die innere oder die äußere Natur. Immer wenn wir das tun, verwandelt sich etwas Lebendiges in etwas Totes. Es ist aber gar nicht tot sondern rächt sich unter Umständen an der unterdrückenden Instanz. Das gilt auch für Dinge, über deren inneren Zusammenhang wir uns systematisch oder in Gelegenheiten besondere Anspannung hinwegsetzen. Dann heißt es „Ungeschick lässt grüßen“.

MILIEU: Das Märchen ist von einer Beziehungslosigkeit und Gleichgültigkeit der Mutter zu ihrem Kind geprägt. Inwiefern spiegelt es die derzeitige gesellschaftliche Realität wider?


Dr. Ette: Es gibt wohl nicht die eine gesellschaftliche Realität, und wenn wir den Blick über Westeuropa hinaus tun, schon gleich gar nicht mehr. Aber es gibt bestimmte Schichten, in denen ich das als Problem sehe. Ein Grund dafür kann sein, dass man aggressive Regungen gegenüber dem eigenen Kind unterdrückt. Man trägt sie nicht aus, sondern geht aus dem Konflikt raus und wendet sich ab, überlässt das Kind sich selbst.

MILIEU: Die letzte Stern-Ausgabe titelte „Aaaahh! Warum so viele Eltern Ihre Kinder nicht mehr im Griff haben!“ Dort werden unterschiedliche Horror-Szenarien geschildert, wonach Kinder ihren Eltern auf der Nase herumtanzen. Was halten Sie von Reportagen dieser Art?

Dr. Ette: Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, es kommt darauf an, wie die jeweilige Reportage gemacht ist. Problematisch finde ich es, wenn sie auseinanderfällt in Betroffenenberichte und Expertenmeinungen. Die stehen sich dann meist ganz abstrakt gegenüber.

MILIEU: Unser Autor, der Philosoph, Dr. Christoph Quarch kritisiert in einem Artikel den sogenannten  Pippi-Kult. Er fragt: „Wie, wenn Trump tatsächlich die lebende Projektionsfläche all derer ist, die sich nach jener Pippi Freiheit sehnen, die nicht mehr fragt, was gut und wahr ist, sondern nur noch, was gefällt?“ Wie sehen Sie das?

Dr. Ette: Da bin ich anderer Meinung. Zum einen möchte ich bezweifeln, dass der Pippi-Kult im Moment gesamtgesellschaftlich eine große Rolle spielt. Das war in den 1970er Jahren wahrscheinlich anders. Die schmale Schicht, die dem noch huldigt, mag kulturell tonangebend sein, eine gesellschaftliche Mehrheit repräsentiert sie mit Sicherheit nicht. Zum anderen glaube ich nicht, dass jemand wie Trump aus diesem Grund gewählt wird. Es sind wohl eher Rachefantasien und autoritäre Sehnsüchte von Menschen, die jahrzehntelang gedemütigt wurden, die solchen Leuten an die Macht verhelfen.

MILIEU: Sie analysieren in Ihrem Buch viele Kinder-Märchen, die grausame pädagogische Erziehungsmaßnahmen vermitteln. Beispielsweise Gottfried Kellers Geschichte vom Meretlein und Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ oder Wilhelm Buschs „Max und Moritz“. Welche Rolle spielen solche Märchen und die dort angewandten Erziehungsmaßnahmen heutzutage?

Dr. Ette: Also, diese Texte sind raus, sie spielen in der Erziehung keine große Rolle mehr. Ich habe aber den Verdacht, dass die von ihnen thematisierten Mechanismen unterirdisch noch immer weiter wirken.

MILIEU: Die Vorstellung, dass Kinder gezähmt und gezüchtigt gehören, ist uralt. Wie konnte sie sich etablieren?

Dr. Ette: Der Hauptgrund ist wohl die Annahme, dass man Kinder mit Gewalt zwingen muss, erwachsen zu werden. Über Jahrhunderttausende waren es Initiationsprozesse, durch die dieser Vorgang bewerkstelligt wurde, der Junge zum Jäger und das Mädchen zur Mutter gemacht wurden. Diese Prozeduren waren meistens extrem gewaltsam; im Grunde waren es Todeserfahrungen, durch die die Kinder und Jugendlichen hindurchgeschickt wurden. Ihre Kindheit musste sterben und sie wurden als Erwachsene neu geboren. Das wirkt bis heute nach, also in einer gesellschaftlichen Situation, in der es keine Notwendigkeit mehr gibt, den Weg vom Kind zum Erwachsenen auf diese Weise zu gehen.

MILIEU: Der Historiker DeMause vertritt die These, dass die Geschichte der Kindheit ein Alptraum ist, aus dem wir gerade erst erwachen. Wie sehen Sie das? Gibt es einen geradlinigen Fortschritt?

Dr. Ette: Ja und nein. Gerade in der Moderne sind gewisse Fortschritte in der Kindererziehung unübersehbar. Aber DeMause räumt selber ein, dass daran nur eine schmale Schicht partizipiert. Noch schwerer wiegt, dass er, geprägt von den antiautoritären Experimenten, die sich mit Summerhill verbinden, von der Unaufhaltsamkeit des pädagogischen Fortschritts zutiefst überzeugt ist. Dafür spricht aber nicht viel. Wir haben schon in den letzten Jahrzehnten einen Rollback erlebt und in dem Maße, in dem die Erde in der kommenden Zeit unwirtlicher werden wird und die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe härter werden, wird es auch der Humanität in der Kindererziehung zu Leibe gehen. Märchen wie das vom eigensinnigen Kind werden dann leider wieder aktueller.

MILIEU: Wie können Eltern in der Kindererziehung die Mitte finden, zwischen Kontrollwahn und Anarchie ?

Dr. Ette: Es gibt keine Rezepte. Jede Eltern-Kind-Beziehung sieht anders aus. Ich kann nur an die Eltern appellieren, erstens die Gefühle der Wut oder des Unwillens gegenüber den eigenen Kindern nicht zu verdrängen; sie fressen sich sonst fest oder diffundieren in Gleichgültigkeit. Und zweitens macht es vieles leichter, wenn man sich alle Vorstellungen von dem, was das eigene Kind mal werden soll, so früh wie möglich entschlägt. An einer entscheidenden Stelle nimmt man da den Druck raus.

MILIEU: Welche Rolle soll Ihrer Meinung der Staat im Kontext der Kindererziehung spielen?


Dr. Ette: Ich lebe ja nun seit langer Zeit in Ostdeutschland und denke, man tut gut daran, sich das, was die DDR in dieser Hinsicht geleistet hat, interessiert anzusehen. Ich meine natürlich nicht die ideologische Indoktrination, sondern die lückenlose pädagogische Selbstinanspruchnahme des Staats ab dem Kindergarten. Das ist die eine Seite. Die andere liegt in der kulturellen und ökonomischen Wertschätzung aller pädagogischen Kräfte, die in den Schulen und in den vorschulischen Institutionen tätig sind. Da ist viel verloren gegangen, das mir sehr wichtig zu sein scheint. In der Gesellschaftsutopie, die Erich Kästner am Ende der Konferenz der Tiere entwirft, heißt es: es soll nur noch wenige Beamte geben; die Lehrer aber sollten von allen die bleiben, am besten bezahlt werden. Ich finde, da hat er im Prinzip recht.

MILIEU: Vielen Dank, Herr Dr. Ette!

 

 

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