
Ein Roma-Mädchen bricht aus (Teil 2)
01.06.2016 -Das ist der zweite Teil der Reportage über das Roma-Mädchen Muflehah, ihr Erwachsenwerden in einem Roma-Haushalt und ihre Befreiuung aus den Fängen einer (un)gewöhnlichen Lebensart in eine selbstbestimmte Freiheit.
Nachdem Muflehahs Freundin ihrer Familie eine Lügengeschichte auftischt, wird sie damit beauftragt, Muflehah so schnell wie möglich zurückzuholen. Sie gehen davon aus, dass sie bei ihren Bekannten ist. Tatsächlich findet Muflehah keinen anderen Zufluchtsort und ist somit relativ schnell in der Nähe einer Bus-Haltestelle gefunden. Sie wird ins Auto gezerrt und nach Hause gebracht. Dort muss sie sich derselben Prozedur aussetzen, wie ihre Freundin. Obwohl Muflehah gesteht, dass sie sich umbringen wollte, glaubt niemand der Version ihrer Geschichte. Wieder sind alle Verwandten aus ihrer Familie zusammengekommen, um dem Fall auf den Grund zu gehen. Nachdem sie Muflehah anhören, fangen sie nacheinander an sie zu schlagen und zu bespucken. ,,Anspucken heißt bei uns: du bist der letzte Dreck", erklärt Muflehah. Während die dürre Muflehah auf dem Boden liegt und wimmert, stellt sich ihr Vater, der wuchtige 110 Kilo wiegt, auf sie drauf und beginnt damit auf sie einzutreten.
Irgendwann, nach stundenlange Qualen, hat Muflehah keine Kraft mehr und sagt genau das, was ihre Familie hören will. Sie lügt, sie sei keine Jungfrau mehr. Hierfür erfindet sie Einzelheiten über den Vorfall, die eigentlich verdeutlichen, dass sie keine Ahnung hat, wovon sie spricht. Ihre Familie aber ist mit dieser Version zufrieden. Sie stellen Muflehah vor die Wahl: entweder solle sie sich prostituieren oder ihren Cousin heiraten, damit nicht mehr über sie geredet werde. Muflehah wird wütend und schreit: ,,Dann bringt mich doch lieber um! Ich habe euch das doch nur erzählt, weil ihr mir nicht glaubt! Ich habe euch von Anfang an die Wahrheit gesagt, aber ihr wolltet die Wahrheit nicht hören!". Das Desinteresse der Menschen an der Wahrheit hat sie immer wieder in ihrem Leben erfahren müssen. Daher ist sie überzeugt: ,,Man kann es im Leben niemanden recht machen. Ob du die Wahrheit sagst, oder lügst. Jeder Mensch will seine eigene Wahrheit hören".
Doch Muflehah hat Glück im Unglück. Ihr Onkel glaubt ihr. Er glaubt zu wissen, dass sie tatsächlich keine außereheliche Beziehung mit einem Jungen hatte und verspricht ihr, sie gut zu behandeln. Auch nimmt er ihren Eltern das Versprechen ab, Muflehah nicht mehr zu schlagen. Muflehah fasst neuen Mut und schmiedet den Plan, während der Hochzeitszeremonie zu fliehen. Doch so weit sollte es nicht kommen: der Bräutigam, ihr Cousin, ist schwer drogenabhängig und entscheidet sich gegen die Heirat mit Muflehah. Seine Absage wird akzeptiert. Um Muflehah herum wird es ruhig. Sie wird in Frieden gelassen, aber innerlich leidet sie weiterhin.
Zwischen Prügeleien und Privatunterricht
In dieser schwierigen Zeit steht Muflehah ein anderer Onkel bei. Er ist Zeuge Jehovas und so gar nicht angepasst. ,,Er ist immer ehrlich, offen und nicht hinterhältig". Ihr Onkel spricht viel über Gott und die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer. Er nimmt Muflehah mit zu Sitzungen in den Königreissaal, dem Gemeindehaus der Zeugen Jehovas, um ihren großen Wissensdurst zu stillen. Sie ist fasziniert von dem Enthusiasmus der Gläubigen. Es folgt eine Art Privatunterricht von einer Zeugin Jehovas, die sie alle Wochen regelmäßig zuhause besucht und ihr die Bibel lehrt. Das ist ihr erster tiefergehende Kontakt mit Religion überhaupt. Ihre Eltern glauben zwar an Jesus als Gottheit, aber praktizieren ihren Glauben nicht. Es gibt auch einige Roma-Rituale, wie das alljährliche Schlachten eines Lammes aus Dankbarkeit zu Gott, die ausgeführt werden. Ansonsten spielt Religion kaum eine Rolle.
Muflehahs Faszination weitet sich auch auf andere Religionen aus. Sie beginnt sich vermehrt Fragen zu stellen: Warum gibt es Leid auf der Welt? Warum gibt es so viele böse Menschen? Auch politische Fragen werden interessanter: Warum zerstören wir die Erde und unsere Umwelt? Warum gibt es Demokratie ausgerechnet bei uns? Wie leben Menschen in anderen Ländern? All diese Fragen schwirren in ihrem Kopf herum und geben ihr Anlass, nach Antworten zu forschen. „Weil ich die Hintergründe kennenlernen wollte, habe ich angefangen in der Stadtbibliothek verschiedene Bücher zu lesen, darunter verstärkt zum Thema Religion“, erinnert sich Muflehah.
Sich von ihrem alten Umfeld zu lösen, schafft sie bisher allerdings nicht. In der Schule umgibt sie sich mit Freundinnen, die mit ihr zusammen die Schule schwänzen, losziehen um andere Schüler zu verprügeln, mit ihr Joints rauchen und klauen. Nicht nur in der Schule hat sie diesen schlechten Einfluss. Auch in ihrem Wohnviertel sieht sie täglich Drogenabhängige und Drogendealer öffentlich im Park ihre Geschäfte abwickeln. ,,Die Polizei ist zwar jede Stunde mit dem Auto vorbeigefahren, aber sie hätte mal zu Fuß durchgehen können, um aktiv etwas gegen die Kriminalität zu tun", klagt Muflehah. Sogar im Treppenhaus ihrer Wohnung sieht sie immer wieder junge Mädchen beim Experimentieren mit harten Drogen, wie Kokain und Ecstasy. Muflehah selbst bleibt aber beim Haschisch, aus Angst vor einem zu starken Kontrollverlust und wegen der großen Angst vor ihren Eltern. ,,Ich kannte die Wirkung von Gras und wusste, wie lange sie anhält. Bei anderen Drogen wusste ich das nicht und wie ich sie wohl vertragen würde", sagt Muflehah.
Das ist auch der Grund, warum sie kein Alkohol trinkt. Schon als kleines Kind darf sie am Glas der Erwachsenen nippen und schon bald so viel trinken wie sie möchte. Als sie einmal sturzbetrunken an Silvester von einem fremden Mann nach Hause getragen werden muss, schwört sie dem Alkohol ab. Zwar bekommt sie dafür keinen Ärger von ihren Eltern, dass sie die ganze Wohnung verwüstet und an einigen Stellen erbrochen hat, doch sie selbst hasst sich für diesen Kontrollverlust. Sie will so etwas nie wieder erleben. Ihr Bruder hingegen ist komplett in die Drogenszene abgerutscht. „Alles Mögliche an Drogen hat er schon ausprobiert. Dabei ist er unglaublich begabt und eloquent“. Muflehah liebt es, sich mit ihm zu unterhalten, denn "er redet so schön" und das ohne Schulabschluss. Traurig blickt sie auf seine Lebenssituation.
Muflehah erlebt als Kind regelmäßig Gewalt seitens Ihrer Eltern. Das Verprügeltwerden erzeugt Aggressionen in ihr, die sie auf dem Schulhof an andere rauslässt. ,,Ich war ein Schlägermädchen, das sich allein durch einen falschen Blick eines Mitschülers provoziert fühlte", erinnert sich Muflehah. Heute schämt sie sich dafür. Immer wenn der Direktor ihrer Mutter von den Schlägereien erzählt, ist sie stolz auf ihre Tochter. In der siebten und in der achten Klasse fliegt Muflehah schließlich von der Schule.
In dieser Zeit lernt Muflehah das arabisch-muslimische Mädchen Aveen kennen. Sie ist 14 Jahre alt und muss Sozialstunden im Kindergarten ableisten. Als Muflehah eines Tages ihre jüngere Schwester aus dem Kindergarten abholen will, hält Aveen ihr die Tür auf. Das ist der Beginn einer tiefgreifenden Freundschaft. ,,Sie war besser zu mir, als zu sich selbst. Sie war eine so liebevolle Freundin. Ich bin zurzeit auf der Suche nach ihr", erzählt sie. Obwohl Aveen damals selbst kifft, bringt sie Muflehah von ihrem Drogenkonsum ab. Sie habe ihr gesagt: ,,Bitte mach das nicht. Ich hab damit auch jung angefangen und kam nicht mehr davon los". Aveen verbringt sehr viel Zeit mit Muflehah, übernachtet oft bei ihr und schenkt ihr neuen Lebensmut. Ihre Selbstlosigkeit ist für Muflehah neu.
Nach und nach entwickelt Muflehah ein besonderes Interesse für Biographien großer Frauen. Ein Buch geklaut habe sie aber noch nie, betont Muflehah lachend. Eines Tages bekommt sie ein Buch in die Hand, das sie vollkommen in den Bann zieht. Es ist der erste bewusste Berührungspunkt mit dem Islam: ,,Nicht ohne meine Tochter", ein Weltbestseller von Betty Mahmoody. Darin berichtet die Autorin, wie sie mit ihrer Tochter vor ihrem Mann aus dem Iran flüchtet, der sie immer wieder schlägt. Muflehah, die selbst regelmäßig Gewalterfahrungen macht und noch dazu beinahe zwangsverheiratet wurde, findet sich darin wieder. Dass es eher patriacharlische Traditionen als religiöse Gebote sind, denen Menschen in solchen Fällen folgen, wusste sie damals nicht. Sie fragte sich generell: ,,Wie kann es sein, dass es soviele Frauen gibt, die sich freiwillig verschleiern, ihre Schönheit verbergen und sich zum Islam bekennen?".
Obwohl Muflehah das Lesen eigentlich hasst, macht es ihr plötzlich Spaß lange und viel zu lesen. Manche Texte liest sie zwei oder drei Mal. Ihre Neugier kennt scheinbar keine Grenzen. Zur selben Zeit entschließt Muflehah sich dazu, eine Ausbildung als Friseurin zu beginnen. ,,Ich wollte einen Beruf erlernen der mir Spaß macht und auch noch in 10 oder 20 Jahren gefragt ist", erklärt sie. Allein diese Ausbildung beginnen zu dürfen und abzuschließen, ist ein harter Kampf mit ihren Eltern. Es ist ihnen fremd, weil sie selbst und ihre Verwandten keinen Abschluss haben, kaum lesen und schreiben können. Die meisten brechen die Schule irgendwann einfach ab. ,,Wenn sie einen Hauptschulabschluss haben, sind sie unglaublich stolz darauf", fügt Muflehah hinzu. Besonders ihre Mutter hält eine Ausbildung für Zeitverschwendung. Dabei ist ihre Mutter selbst mit ihrem Leben sehr unzufrieden und beschwert sich oft über die Sinnlosigkeit ihres Alltages. Auch einige Selbstmordversuche hat sie hinter sich. Muflehah hat zwar Mitgefühl mit ihr, aber gleichzeitig empfindet sie eine Abneigung. Sie beschreibt die Beziehung zu ihrer Mutter als ,,Hass-Liebe".
Schließlich darf sie die Ausbildung beginnen, aber nur unter der Bedingung, dass ihre Eltern Muflehahs Einkommen einbehalten dürfen. Nur ihre Bus-und-Bahn-Karte solle sie selbst bezahlen. Wenn sie den Bus verpasst und von ihrem Vater mit dem Auto zur Ausbildungsstätte gefahren werden soll, freut er sich, weil sie ihn dann bezahlen muss.
Die Konversion zum Islam
Auf ihrer Sinnsuche möchte Muflehah mehr über den Islam erfahren. Sie will eine Moschee besuchen und einen Imam treffen, damit er all ihre Fragen beantwortet. Eine muslimische Klassenkameradin hilft ihr bei der Erkundung und führt sie zu einer islamischen Gemeinschaft, die regelmäßig Dialogveranstaltungen organisiert. Zeitgleich setzt sie sich wieder intensiv mit dem Christentum auseinander und hat einen verstärkten Kontakt zur Schwester von Aveen, die auf Muflehah sehr religiös, aber ziemlich buchstabengläubig wirkt. Sie warnt Muflehah vor der islamischen Reformbewegung und fordert sie auf, sich sofort von ihr zu distanzieren. Diese harsche Ablehnung der Ahmadiyya Muslim Jamaat, einer islamischen Reformbewegung, macht sie umso neugieriger. ,,Ich dachte mir nur: Jetzt erst recht! Ich war motiviert und wollte einfach alles über diese Bewegung wissen", blickt sie zurück.
Als die Eltern erfahren, dass Muflehah sich sehr intensiv mit dem Islam beschäftigt, schlagen sie ihre Tochter und verbieten ihr eine weitere Beschäftigung mit dieser Religion. Trotz des Verbotes besucht Muflehah die dreitägige Jahresversammlung der Ahmadiyya in Mannheim. In ihrem Kopf schwirrt ihr eine lange Zeit unbefriedigend beantwortete Frage herum: Was ist der Sinn des Lebens? Einem Imam, an deren Namen sie sich nicht erinnern kann, gelingt es, ihre brennende Frage sehr gut zu beantworten. Auf einem Foto aus dem Jahre 2008 erkennt Muflehah den Poeten und Schriftsteller Hadayatullah Hübsch, und den Nationalen Amir, Abdullah Uwe Wagishauser, die ihre Fragen zufriedenstellend beantworten.
Muflehah erinnert sich noch sinngemäß an folgende Worte des Imams: „Unser Sinn ist es, mit unserem Verhalten die Liebe Gottes auf uns zu ziehen, um sich damit den Einlass in das Paradies zu verdienen. Das können wir nur, wenn wir an uns selbst arbeiten, unseren Charakter veredeln und die weisen Gebote Gottes einhalten."
Im Anschluss daran nimmt sie sich fest vor in die Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya einzutreten. Sie ist fasziniert von dem harmonischen Verhältnis von Wissenschaft und Religion, von Glaube und Vernunft. Kurze Zeit später erfolgt noch vor Ort ihre Konversion.
Mittlerweile sind acht Jahre vergangen. Die intensive Beschäftigung mit der Religion hat sie verwandelt: ,,Die größte und wichtigste Veränderung kam dadurch, dass ich aufgehört habe, zu lügen". Zuhause lernte sie, nie zu vertrauen. Von klein auf sah sie, wie ihre Eltern und Verwandte logen und sie dazu aufforderten, nicht zu lügen. Eine Doppelmoral, die sie immer störte. „Im Islam gilt die Lüge als Wurzel aller Sünden“, weiß Muflehah.
Um sich von ihrer Familie zu lösen, zieht sie aus. Sie heiratet nach ihrem eigenen Wunsch einen Deutsch-Pakistaner und besitzt heute die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie fühlt sich angekommen, ist glücklich und frei. Früher habe sie sich von den sozialen und kulturellen Zwängen lähmen lassen. Trotz der demütigenden Erfahrungen war es ihr wichtig, die Erwartungen ihrer Familie zu erfüllen und nach ihrer Anerkennung zu streben. Heute geht es ihr in erster Linie darum, mit Gott im Reinen zu sein.
Muflehah hat in Zukunft noch einiges vor. Sie will gemeinsam mit einer Pädagogin einen Kindergarten für muslimische Kinder eröffnen. Ihre Gier nach Wissen kennt noch immer kein Ende. Ihren kritischen Geist hat sie beibehalten. Es ist ihre wichtig zu wissen, was in der Welt passiert. Sie schaut gerne Dokumentationen und informiert sich über Weltpolitik mittels unterschiedlicher Quellen. „Es ist wichtig immer beide Seiten einer Medaille zu kennen. Natürlich will ich gerne lesen, dass die Welt in Frieden und Harmonie lebt und dass es keinen Krieg gibt. Aber leider ist es nicht so". Sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen, auch wenn sie schmerzhaft ist, ist ihre persönliche Lehre aus ihrer Vergangenheit.
„Den Roma fehlt eine feste nationale Identität, weil sie in ihrer Vergangenheit nie sesshaft waren“, glaubt Muflehah. Diese fehlende Identität suchen Roma in ihrer Kultur. Was aber ist fester und positiver Teil der Roma-Kultur? Und was, die blinde Weitergabe eigener schmerzlicher Erfahrungen, durch Gewalt, Kriminalität und permanentem Misstrauen? Was gehört zur Roma-Identität und was ist eine schlechte Angewohnheit? Über diese Fragen muss man endlich reflektieren.
Für Muflehah ist klar: „Wissen ist der Schlüssel zum Erfolg“, damit falsche Traditionen abgelegt werden können. Es brauche frische Motivation, neues Vertrauen und ein aufgewecktes Bewusstsein. Es muss Motivation her, die Welt neu zu erkunden, ohne festegefahrene Denkschablonen und Vorurteile. Es muss Vertrauen her, dass es auch einen anderen Weg gibt, sich zu schützen als durch Gewalt und Lügen. Es muss das Bewusstsein her, dass der bequeme Weg im Leben oftmals genau der ist, der einen langfristig unzufrieden macht. Und dafür muss der Glaube her, dass es das Gute in der Welt gibt. Muflehah hat das geschafft, was für viele in ihrer Generation und Kultur unmöglich scheint. Dafür ist sie dankbar.
