
Ein symbolisches Jahr
01.01.2021 -Liebe Leserinnen und Leser,
Liebe Autorinnen und Autoren,
ein neues Jahr ist faktisch natürlich nur die Änderung einer Datumszahl. Alte Probleme, Gewohnheiten und Glaubenssätze werden uns wie unser Schatten folgen. 2021 werden wir genauso über Impfungen, Lockdowns, Verschwörungen, Fake News diskutieren, wir werden weiterhin Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Tod haben. Die Ängste sind tief in unserem Unterbewusstsein verwurzelt, werden durch Glaubensätze bedingt und durch wiederkehrende Erlebnisse befeuert. Und teilweise ist es natürlich gut, Ängste zu haben: Niemand braucht sich leichtsinnig der Gefahr einer Krankheit aussetzen, niemand muss sich überhaupt keine Gedanken um finanzielle Sicherheit machen. Gewisse Ängste sind einfach Resultate unserer intuitiven menschlichen Intelligenz, die bereits durch tausende Jahre Evolution verfeinert wurde und uns in unserer Entwicklung größtenteils erfolgreich vorangebracht hat.
Doch manche Ängste sind alles andere als hilfreich. Zu viel Skepsis an der falschen Stelle kann zu Verwirrung und Stagnation führen. Zu viel Furcht vor der Zukunft kann die Gegenwart verdunkeln und in einem ungelebten Leben resultieren. Und zu viel Glauben an etwas Bedingtes und Temporäres kann in Desillusion und Verzweiflung enden. In einem Jahr, das so viel Tod, Trauer, Enttäuschung, Wut und Zweifel gebracht hat, wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass wir unsere Hoffnung auf die richtigen Dinge werfen können. Was genau das ist, kann natürlich jeder Mensch nur individuell für sich selbst bestimmen.
Was wir alle gemeinsam haben ist allerdings, dass unsere einzelne Wahrnehmung von unseren jeweiligen Glaubenssätzen beeinflusst wird. Unser Glauben gestaltet unsere Gedanken, unsere Gedanken verursachen Emotionen und unsere Emotionen führen zu Handlungen (welche, sobald wir sie in unserer Außenwelt wahrnehmen, wiederum unsere Glaubenssätze stärken oder schwächen). Wir haben freie Wahl zu entscheiden, woran wir glauben. Aber ganz egal, was es ist – es wird unsere Wahrnehmung bestimmen.
"Ein Mensch bleibt eingesperrt in einem Raum mit einer Tür, die unverschlossen ist und sich nach innen öffnet; solange es ihm nicht in den Sinn kommt, an der Tür zu ziehen, statt zu schieben." hat Wittgenstein gesagt. Vielleicht war die Coronakrise uns eine Lehre in der Tatsache, dass wir über äußere Umstände wenig Macht haben. Vielleicht kann die Änderung des Datums eine symbolische Bedeutung haben, die uns dazu inspiriert, dennoch in unserem Inneren etwas zu ändern.
Wie wir alle inzwischen oft genug gehört haben, war für die heutigen Generationen kein Jahr so kollektiv einschneidend wie 2020. Was mich an der ganzen Pandemie fasziniert, ist, was für eine "universale" Erfahrung damit gemacht wurde. Wie das Internet hat auch die Coronakrise eine Art von Grenzen überwindender, internationaler Solidarität erweckt – oder zumindest ein gewisses Empfinden dafür.
Daher haben wir für unsere neue Ausgabe eine Reihe von Menschen aus Deutschland und anderen Ländern gefragt, welche Lektionen sie aus 2020 mitnehmen. Es war mir eine große Freude, diese Texte zu sammeln, und zu lesen, wie Menschen unterschiedlichster kultureller und sozialer Hintergründe eine bedeutungsvolle Bilanz aus diesem schwierigen Jahr ziehen.
Ein weiteres wichtiges Thema, das sich durch die Erfahrungen von Schmerz und Ungerechtigkeit aufwirft, ist die Frage nach Heilung. Wie sollten wir mit Verletzung umgehen, wir können wir entstandene Schäden transzendieren? In spirituellen Lehren fällt oft das Wort "Vergebung" – aber ist es überhaupt psychologisch sinnvoll, zu vergeben? Vielleicht wird dadurch alles noch schlimmer, die Ungerechtigkeit gefestigt, die Verletzung verzerrt. Bezüglich dieses vielschichtigen Themas haben wir dem Psychiater und Therapeuten Dr. Martin Grabe die folgende Frage des MILIEUs gestellt: Soll man seinen Feinden verzeihen?
Ich wünsche Ihnen Freude an unseren neuen Artikeln, aber vor allen Dingen natürlich beste Gesundheit und ein segensreiches 2021!
Olivia Haese
Chefredakteurin
