Kolumne: Lupus Oeconomicus

Eine dramatische Selbsterkenntnis: Die Pandemie hat mich liberaler gemacht

01.01.2022 - Nicolas Wolf

Die Corona-Pandemie dauert nun fast zwei Jahre und ich frage mich: Wie hat mich diese Periode in meinem Denken und meiner Weltsicht beeinflusst? Nach langer Introspektion komme ich zu dem Schluss, dass ich wahrscheinlicher deutlich empfänglicher für politisch liberale Positionen geworden bin. Vom typischen FDP-Wähler bin ich wohl allerdings dennoch ein gutes Stück entfernt.

Wir alle sehen die Welt durch unterschiedliche ideologische Brillen. Beim Hören eines Podcasts (welcher genau, weiß ich nicht mehr) begegnete ich vor einiger Zeit dem Ausspruch, dass Konservative die Welt in erster Linie als Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei betrachten, während Linke sie als Konflikt zwischen Gruppen mit und ohne Macht begreifen. Liberalen hingegen geht es vornehmlich um den Schutz des Individuums vor dem Staat. Ich selbst halte mich insgesamt für einen politisch sehr zentrischen, ja geradezu technokratischen Menschen, aber tief in mir schlummert dann doch ein linkes Temperament. Es sind nun einmal die Ungerechtigkeiten dieser Welt, die mich am ehesten in Rage bringen und eben nicht ein angeblicher „Werteverfall“ oder ein vermeintlich übergriffiger Staat.

Doch die Erfahrung ist ein äußerst effektiver Lehrer und wenn ich mich ehrlich frage, welche Erkenntnisse ich aus diesen nunmehr fast zwei Jahren Pandemie gezogen habe, dann stelle ich fest, dass sich mein Weltbild bzw. mein Wertesystem in Richtung „Liberalismus“ verschoben hat. Das heißt nicht, dass meine Ansichten sich nun eins-zu-eins mit denen eines Christian Lindners oder Wolfgang Kubickis decken oder dass ich mich in einen texanischen „Ain’t no government gonna tell me what I can't do“-Libertären verwandelt habe. Ich will lediglich zum Ausdruck bringen, dass sich meine Weltsicht – wo sie auch immer zuvor auf der ideologischen Landkarte zu verorten war – auf die liberale Ecke zubewegt hat, was mich sicherlich zukünftig bei der Beurteilung politischer Fragen beeinflussen wird.

Der enttäuschende Staat

Was ist also geschehen? Das Erleben der Pandemie hat mich dazu veranlasst, im Wesentlichen zwei Aspekte zu überdenken: das Verhältnis von Staat und Privatwirtschaft sowie den Wert individueller Freiheitsrechte. Ich habe Hardcore-Libertäre, die öffentlichen Sektor nur Übel und Unfähigkeit sehen, stets belächelt und wenig ernst genommen. Daran hat sich auch nicht wirklich etwas geändert. Aber eine gewisse Enttäuschung hinsichtlich unserer Politiker und staatlichen Institutionen kann ich nicht verhehlen. Nein, es war kein Versagen oder Scheitern, was wir in Deutschland in Sachen Pandemie-Management erlebt haben. Aber wie viele Menschen würden Sätze wie „Das haben unsere Behörden super hinbekommen!“ oder „Ein Glück hatten wir während dieser Pandemie genau jene Minister und Regierungschefs in Amt und Würden“ sagen? Vielleicht denken dies die Neuseeländer über ihre Premierministerin Jacinda Ardern. Aber welcher Deutscher, Brite oder Amerikaner wird dies ernsthaft behaupten?

Gewisse Dinge haben zweifelsohne sehr gut funktioniert: Zentralbanken und Finanzministerien haben durch ihr beherztes und schnelles Eingreifen eine Finanzkrise und ein Abgleiten in die wirtschaftliche Depression verhindert. Staatliche Behörden haben ihre Aufgaben angesichts der Notlage überwiegend anständig bewältigt. Und dennoch bleibt das Gefühl, dass die Dinge oftmals nicht schnell genug gingen, sei es die Zulassung bzw. Freigabe von Impfstoffen für gewisse Altersgruppen oder aber ihre Beschaffung und Verteilung. Man erinnere sich nur an den Vakzin-Einkaufsprozess der EU oder die Impfkampagne in Deutschland, die teilweise ja doch recht holprig verlief.


Unsere Wirtschaft, unsere Politiker

All dies steht in einem krassen Kontrast zu der Dynamik, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die die Privatwirtschaft an den Tag gelegt hat. Lieferketten standen und stehen nach wie zwar unter Druck, aber es gab und gibt keinen weitreichenden Mangel an Waren. Die Innovationen der letzten zwei Jahrzehnte im digitalen Bereich erlaubten es Abermillionen von Menschen ihre Arbeit von zu Hause aus zu verrichten. Lieferdienste lieferten und die von der Pandemie arg gebeutelten Restaurant- und Hotelbetriebe versuchten ihr Möglichstes, um irgendwie doch Gäste sicher zu bewirten und zu beherbergen. Die größte Erfolgsstory bleibt aber nach wie vor die Entwicklung, Massenproduktion und -distribution von höchst wirksamen und sicheren Impfstoffen in Rekordzeit – eine herausragende und höchst eindrucksvolle Leistung.  

Daraus eine „Privatwirtschaft hui, Staat pfui“-Narrative zu spinnen wäre falsch. Auch darf man nicht vergessen, dass viele der Technologien, die uns in dieser Pandemie vor Schlimmeren bewahrt haben, auf staatlich finanzierte Grundlagenforschung oder öffentliche-private Zusammenarbeit zurückgehen. Aber wer aufgrund seines linken Naturells dem Staat viel zutraut und davon überzeugt ist, dass er mehr kann als nur Geld umzuverteilen, der sollte angesichts der letzten 24 Monate seine Position noch einmal gründlich überdenken. Und damit spiele ich nicht nur auf die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen und Behörden an, sondern auch auf die Eignung und Integrität von Ministern oder Spitzenbeamten. Wie viele Posten werden aus Dank für politische Gefallen vergeben? Werden Minister Minister, weil Sie etwas von der Sache verstehen und gute Manager sind, oder weil Sie in erster Linie gute Parteipolitiker sind (Achtung: rhetorische Frage)? Und nicht zuletzt: Was sagt es über unsere politische Klasse aus, wenn sie sich auf windige Maskendeals einlässt, der eigentlich nicht zu haltende Verkehrsminister nicht gehasst wird, dem frischgewählten Kanzler die Cum-Ex- und Wirecard-Affäre anhaften und die neue Außenministerin einen so starken Geltungsdrang hat, dass sie ihren Lebenslauf aufbauscht und in einem Buch „inkorrekt zitiert“?

Ich bin kein Zyniker, aber es fällt manchmal schwer keiner zu werden. Auch will ich nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und so tun als wären der Staat und seine Behörden nur Problem und nie Lösung. Allerdings hat die Pandemie deutlich gezeigt, dass Institutionen fehlbar und Menschen korrumpierbar sind. Der liberale Impuls, ihre Macht nach Möglichkeit zu beschränken und ihnen mit einer Portion Misstrauen zu begegnen, ist absolut gerechtfertigt.

Freiheit zu schätzen wissen

Der andere Aspekt, in dem ich mich auf den Liberalismus zu bewegt habe, ist das Hochhalten von individuellen Freiheitsrechten – nicht etwa, weil ich diese vorher für unwichtig gehalten hätte, sondern weil ich sie für selbstverständlich hielt. Doch wie die Pandemie gezeigt hat, lassen sie sich mitunter sehr stark einschränken und, wie in einigen Fällen von Gerichten bestätigt, schießt der Gesetzgeber auch manchmal über das Ziel hinaus. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die überwältigende Mehrzahl an Beschränkungen und Maßnahmen, die wir so erlebt haben, waren bzw. sind meiner Meinung nach richtig und gerechtfertigt. Auch habe ich wenig Verständnis für ein dogmatisches Pochen auf „Eigenverantwortung“, wenn wir es mit einem durch die Luft übertragenden, hochinfektiösen und gefährlichen Virus zu tun haben. Mir geht es vielmehr um unsere Haltung zu jenen Einschränkungen unser aller Freiheit: Wir sollten uns im Klaren sein, was da genau geschieht und darauf achten, dass sie ausreichend begründet werden und jederzeit verhältnismäßig bleiben. Vor allem sollten sie nicht länger als erforderlich bestehen und zurückgenommen werden, sobald dies geboten ist. Und so bereitet es mir schon ein wenig Sorge, wenn auf Zeit-Online Kommentare mit dem Titel „Mehr Autorität wagen“ verfasst werden und der Weltärzte-Präsident gegen „kleine Richterlein“ ätzt, weil diese 2G im Einzelhandel kippten. „Mehr Autorität“ wird schließlich auch in Polen und Ungarn gewagt und Ausdrücke wie „kleine Richterlein“ würde ich eher bei Antidemokraten verorten.

Mehr Liberalismus wagen (aber bitte nicht zu viel)

Die Pandemie hat mich sicherlich nicht in einen Vollblut-Liberalen verwandelt, aber auf eine gewisse Art und Weise sensibilisiert. Die Frage, die ich mir nun naturgemäß stelle, ist, was aus all dem folgt. Denn: Wir leben in einer dynamischen, komplexen und vernetzten Welt, die einen starken und präsenten Staat braucht, unter anderem auch weil privatwirtschaftliche Interaktionen so kompliziert geworden sind – das müssen sogar Libertäre wie der US-Ökonom Arnold Kling einräumen. Staatliche Institutionen, Organisationen, Ämter und Behörden im großen Stil abschaffen oder sie bewusst unterfinanzieren, um sie auszuhöhlen, kann daher nicht der richtige Schluss sein, auch dann nicht, wenn man sie für unzureichend oder unfähig hält. Vielleicht ist „State Capacity Libertarianism“, wie Tyler Cowen (ebenfalls US-Ökonom) es nennt, Teil der Lösung: ein Staat, der sich aus möglichst vielen Dingen heraushält, aber dafür gut gerüstet ist für die Aufgaben, die ihm zufallen. Das ist natürlich herrlich abstrakt und unpräzise und es wäre sicherlich spannend, wenn jemand mit den dafür notwendigen geistigen Fähigkeiten sich dran machen würde, dies einmal genauer auszubuchstabieren. Ich für meinen Teil bleibe bis auf Weiteres ein Mitte-Linker, der nun etwas mehr Verständnis für die Politik der FDP mitbringt.

In diesem Sinne: Frohes neues Jahr und alles Gute für 2022!

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