Reflexionen

Eine entzauberte Welt

01.12.2022 - Daniela Ribitsch

Bis heute weiß ich nicht, wie Vati es damals angestellt hat. Als ich ein Kind war, war unser Wohnzimmer an jedem 24. Dezember versperrt, damit das Christkind alles für den Heiligen Abend vorbereiten konnte. Sogar das Schlüsselloch war von innen zugeklebt. Am Abend dann, nach unserem traditionellen Familien-Weihnachtsfondue, läutete das Christkind die Glocke. Bing - bing - bing. Das war das Signal für meine Familie und mich, das mit Kerzen beleuchtete Wohnzimmer endlich betreten zu dürfen. Meine Augen funkelten beim Anblick all der köstli-chen Süßigkeiten und der schön verpackten Geschenke, die nur darauf warteten, von mir ge-öffnet zu werden.

Wie meine Freundinnen legte auch ich meine Wunschliste ans Christkind immer auf die Fensterbank. Eines Morgens im Dezember jedoch erzählte mir meine beste Freundin, dass ihre Mutter in der Nacht ins Zimmer geschlichen sei und einfach die Wunschliste mitgenommen habe. Natürlich erzählte ich meinen Eltern davon. Und in diesem Jahr achtete ich am Abend des 24. Dezember ganz besonders darauf, Vati nicht aus den Augen zu lassen. Ich war überzeugt davon, dass er es war, der die Glock läutete. Die Glocke läutete auch an diesem Heiligabend - obwohl Vati bei uns in der Küche saß. In den folgenden Jahren, als ich schon nicht mehr ans Christkind glaubte, war es weiterhin Vati, der die Kerzen am Baum anzündete und die Glocke läutete. Und er bewahrte auch sein Geheimnis, wie er mich an jenem Heiligabend trotz meiner ständigen Beobachtung so erfolgreich austrickste.

Tief in seinem Herzen war Vati immer ein Kind geblieben und hatte die Gabe, eine wunderschöne Fantasiewelt für mich zu erschaffen. An einem 24. Dezember schlichen wir uns gemeinsam auf den Balkon, der an das verbotene Wohnzimmer grenzte, und spähten vorsichtig hinein. Plötzlich flüsterte Vati: „Schau, das Christkind!“ Freilich gab es da nichts zu sehen. Dennoch war ich überzeugt davon, das Christkind flüchtig gesehen zu haben. Dann drängte Vati mich auch schon vom Balkon, bevor es uns womöglich entdeckte und davonflog.

Wie Vati bin auch ich im Herzen immer noch ein Kind. Ich vermisse unsere gemeinsame Fantasiewelt. In der Welt der Erwachsenen sehe ich so viele Leute, bei denen sich alles nur um Zeit, Geld und Verpflichtungen dreht. Ich sehe auch so viel Gewalt und Hass, und wenn ich dann den Fernseher einschalte, sehe ich noch mehr Menschen, die einander bekämpfen - in Filmen und Fernsehserien. Wie ich in einem Kurs von der auf Angst spezialisierten Soziologin Margee Kerr erfahren habe, ist fiktive Angst für uns eine Möglichkeit, den Umgang mit Angst, Gefahr und Risiko in der realen Welt zu erlernen. Indem wir sehen, dass Held*innen niemals aufgeben und schlussendlich Erfolg haben, werden wir optimistischer und fühlen uns sicherer, in der Realität überleben zu können. Nun, ich fühle mich keineswegs sicherer. Gewalttätige Filme wühlen mich emotional auf und schüren meine Ängste. Kerr weist durchaus darauf hin, dass fiktive Angst tatsächlich nicht für alle Menschen geeignet ist. Ich frage mich aber, ob negative Reaktionen wie meine auch etwas mit Hochsensibilität zu tun haben könnten.

Vor ein paar Jahren stufte ein Test mich als hochsensibel ein. Grob 15-20% der Bevölkerung sind hochsensibel, und obwohl mein Mann selbstsicher erklärte: „Ich bin auch hochsensibel!“, erreichte er bei dem gleichen Test nicht die benötigte Punktezahl. Der Test* wurde von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron entwickelt, die Hochsensibilität als ein Persönlichkeitsmerkmal versteht. Wie sie angibt, neigen hochsensible Menschen dazu, Sorgen, Ärger und Schmerz tiefer zu fühlen als andere Menschen, und nehmen Reize aus der Umwelt, wie Geräusche oder Gerüche, stärker wahr. Sie können sich daher emotional überfordert fühlen, wie ich es etwa tue, wenn ein Film zu gewalttätig ist, wenn die Umgebung zu laut ist oder wenn andere Lebewesen leiden.

Wenn ich mich überfordert fühle, schreit mein Herz nach Stille und Verzauberung. Solche magischen Orte sind mittlerweile rar geworden, denn in unserer modernen Welt gibt es keinen Platz für die Geheimnisse der Natur oder irgendwelchen Zauber. Das Unbekannte wird als Bedrohung empfunden. Alles muss erklärt und analysiert werden. In unserem Bestreben, der Erde all ihre Geheimnisse zu entlocken, haben wir Menschen in beinahe jedem Winkel unseres Planeten Spuren hinterlassen. Der amerikanische Musiker Bernie Krause, berühmt für seine Aufnahmen von Naturklängen, sagte in einem Interview mit dem britischen Klang- und Kommunikationsexperten Julian Treasure, dass 1968 noch eine Stunde brauchbares Klangmaterial in zehn Stunden Naturaufnahmen enthalten war. Heute muss er beinahe 2000 Stunden aufnehmen, um etwas Brauchbares zu finden. So stark haben wir Menschen die Natur verändert.  

Vor einigen Jahren sind meine Familie und ich in ein paar Wäldern in Finnland gewandert. Noch nie zuvor hatte ich solch verzauberte Orte im wirklichen Leben gesehen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es sie gibt. Die Klänge der Wälder, die saftiggrünen Bäume, die verrottenden Baumstümpfe und die Mossgeflechte erinnerten mich lebhaft an den Animationsfilm Merida - Legende der Highlands aus dem Jahre 2012. Ganz deutlich sah ich die Szene vor mir, in der sich Prinzessin Merida in einem verwunschenen Wald befindet und Irrlichtern zu einem versteckten Hexenhaus folgt. Ja, der Film spielt im schottischen Hochland. Die finnischen Wälder sahen allerdings genauso wie im Film aus und klangen auch genauso. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte weder Trolle noch Feen entdecken.

Eigentlich spielt es keine Rolle, ob wir hochsensibel sind oder nicht. Unsere Erwachsenenwelt braucht Zauber. Unser Materialismus und die Spaltung unserer Gesellschaft sind so dominant geworden, dass wir dringend magische Orte zum Erholen schaffen sollten. Wäre es denn nicht wundervoll, wenn die Geheimnisse und Klänge der Natur wieder gedeihen dürften und wir zur Fantasiewelt unserer Kindheit zurückkehrten, in der es nur Platz für Liebe gab - und nicht für Gewalt und Hass?

 

*Der Test ist online verfügbar unter https://www.hochsensibilitaet-netzwerk.com/hochsensibel-test/

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