Dionysos

Er ist wieder da

15.04.2015 - Dr. Christoph Quarch

Athen erlebt die Rückkehr des Dionysos – des Gottes, der den Wandel bringt. Man erträgt sie kaum mehr: die Arroganz und Ignoranz, die Häme und Selbstgefälligkeit, mit der in Deutschland über die griechische Regierung hergezogen wird. Da wird nach Herzenslust verspottet und verhöhnt, geschulmeistert und psychologiert; aber selten gedeutet oder noch seltener verstanden. Dabei bräuchte es nur ein bisschen klassischer Bildung und eines achtsamen Geistes, um sich einen stimmigen Reim auf das Stück zu machen, das derzeit auf der Athener Bühne gegeben wird.

Da wird etwa lamentiert, die Athener Regierung versteife sich auf ein kategorisches „Nein“ zu Reformen, dem mit gesunder politischer Vernunft nicht mehr beizukommen sei. Nota bene: Man liest solches just einen Tag, nachdem die Regierung Tsipras ein Gesetz auf den Weg gebracht hat, mit dessen Hilfe der notleidenden griechischen Bevölkerung mit 200 Millionen Euro unter die Arme gegriffen werden soll. Was das lehrt? Dass vor dem „Nein“ gegen eine expertokratische Bevormundung einer gewählten Regierung ein entschiedenes „Ja“ zum Leben steht – zum Leben derer, die jetzt und hier Hilfe brauchen und niemanden haben, von dessen Schuldendienst sie profitieren könnten.


Die Hauptakteure in Athen sind nicht der Geist, der stets verneint. Der Patriarch, der rastlos ruft: „Tut nichts, der Grieche wird zur Kasse gebeten“ sitzt in Berlin, nicht in Athen. Der Geist, der in Athen zum Stelldichein erscheint, ist ein ganz anderer – und wer auch nur ein bisschen mit Kultur und Mythos dieses Volks vertraut ist, erkennt ihn sofort: es ist der Geist des Dionysos – ein Geist, der stets bejaht und einzig deshalb auch verneint.


Die alten Griechen waren klug genug zu wissen, dass in Gestalt des Dionysos eine heilige Kraft verdichtet ist: die Kraft der Erneuerung und Transformation, die allem Leben innewohnt. Wo immer diese Kraft sich zeigt, zerbrechen morsch gewordene Strukturen, die der Entfaltung von Lebendigkeit im Wege stehen. Epiphanien des Dionysos sind deshalb meist zerstörerisch, doch stets im Dienst eines neuen Lebens.


Einen Archtetypus dieser Kraft findet man in der jüngeren Literatur in Gestalt des Alexis Sorbas aus dem gleichnamigen Roman von Nikos Kazantzakis: ein Held, der den Zusammenbruch der Seilbahn, die er seinem englischen Auftraggeber baute, nicht anderes zu kommentieren weiß als: „Boss, hast du jemals etwas so schön zusammenkrachen sehen?!“ So spricht das Dionysische.
So zeigt es sich auch in Athen. Wie sollte es anders sein? Dort ist Tragödienzeit, wie schon vor 2500 Jahren. Da wurden im Frühjahr zu Füßen der Akropolis die großen Dionysien gefeiert – die Theaterfestspiele zu Ehren des Gottes Dionysos, dessen Ankunft festlich begangen wurde, indem man Tragödien zur Aufführung brachte: Tragödien, die Macht und Wirksamkeit des Gottes zeigten: die sein katastrophales Wirken als heiliges Geschehen feierten und zu verstehen gaben, wie mit der Macht des katastrophalen Gottes umgegangen werden kann.


Wo aber ist das Publikum, das dessen Wirken auf der heutigen Athener Bühne zu gewahren wüsste? In den Redaktionsstuben der „Qualitätspresse“ findet man es jedenfalls nicht. Wäre es anders, sähe man dort, welches Stück hier gegeben wird: die Tragödie vom Aufbegehren der Athener Polis gegen die übermächtigen Giganten des Ökonomismus: der dionysische Protest gegen eine erstarrte globale Finanzarchitektur, die Länder und Menschen an die unsichtbaren Ketten der Verschuldung legt. Es geht hier nicht um Tagespolitik – es geht um den Einbruch einer mythologischen Kraft in eine erstarrte Welt, in der die Todräume ständig wachsen.


Warum man darauf achten sollte? Weil unsere Vorfahren sehr genau wussten, was zu tun ist, wenn das Dionysische sich zeigt. Auch das lehrt die Tragödie. Man kann es halten wie der thebanische König Pentheus, der in der Verblendung seiner Macht glaubte, den Andrang des Dionysischen ignorieren zu können. Am Ende der „Bakchen“ des Euripides wird er von Mutter und Schwestern in Stücke gerissen. Blockupy lässt grüßen. Klüger hielt es Ariadne, die minoische Königstöchter. Sie sträubte sich nicht dem Kommen des Gottes – und aus beider Verbindung erwuchs eine segensreiche, lebensfrohe neue Welt.
Ist das Dionysische entfesselt, lässt es sich von nichts und niemandem mehr aufhalten. Das ist es, was die Weisheit der Alten lehrt – und das ist der Stoff, aus dem Tragödien sind. Dann kehrt, um es mit Hölderlin zu sagen, „das uralte Chaos“ wieder und eine sterbende Ordnung weicht einer neuen. Und seien wir ehrlich: Wissen wir nicht längst, dass die alt gewordene globale Finanzarchitektur dem Untergang geweiht ist – weil sie mehr Leben raubt als Leben spendet? Wissen wir nicht längst, dass es kein gutes Ende nehmen kann, wenn in (fast) allen Ländern des Planeten, die Staatschulden im Sekundentakt in die Höhe schnellen – nur noch übertroffen durch das Wachstum des Vermögens des einen Prozents der Superreichen?


Wir wissen es, und sollten deshalb nicht länger mit Arroganz und Hohn der Athener Tragödie spotten. Mag sein, dass wir derzeit erst ihrem ersten Akt beiwohnen, dem noch weitere Akte und Dramen folgen werden. Am Ende aber standen in der Antike stets der Triumpf des Dionysos und die fröhliche Feier der Katastrophe. Sollte es je dahin kommen, dürfen wir sicher sein, dass sie nicht in Berlin stattfinden wird – sondern in Athen.

 

 

Christoph Quarch: "Das große Ja: Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens"
Goldmann Verlag, 2014, 256 Seiten
ISBN: 978-3442220908

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