
Europa, das Meer und die Welt - Eine maritime Geschichte der Neuzeit
15.11.2018 -Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegränzte Wasserwüste, hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber mögte, daß man es nicht kann, daß man Alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Fluth, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel, vernimmt. (Clemens Brentano)
Die Geschichte Europas vom Meer her zu entfalten ist nichts Außergewöhnliches. Oft erfolgt ein solches Vorgehen vom Mittelmeer aus; manchmal auch auf die Nordsee fokussiert. Das Buch von Jürgen Elvert, Professor für Geschichte an der Universität Köln, reiht sich in diese historiographische Tradition ein. Elvert schreibt eine Art Globalisierungs-Geschichte, bei dem die Verflechtungen der Nationen, ihr Austausch von Gütern und Erkenntnissen, schon viele Jahrhunderte einsetzen, bevor der Begriff “Globalisierung” in unseren Tagen zum mainstream Terminus geworden ist. Elvert geht sorgfältig und detailliert vor. Er beginnt mit den nautischen Grundlagen: Bevor die durchs Meer vermittelten (wirtschaftlichen) Aktivitäten erfolgen konnten, musste erst ein technischer Stand beim Schiffbau erreicht werden, mussten die navigatorischen Kenntnisse ein bestimmtes Niveau erreicht haben. So macht uns der Autor auf die Wichtigkeit des Karavellen-Baus, auf die Bedeutung des Kompass und die fortschreitenden Erkenntnisse in der astronomischen Navigation aufmerksam. Zentral in dieser meeresinduzierten “Weltgeschichte” ist das portugiesische Reich und hier natürlich vor allem die Entdeckungsreise von Christoph Kolumbus 1492. Liest man, wie friedlich sich die Begegnung der portugiesischen Seefahrer mit den Einwohnern auf San Salvador, einer kleinen Insel der Bahamas-Gruppe, gestaltete, wirkt die spätere Unterjochung bis Ausrottung der Ureinwohner Südamerikas durch die Portugiesen und Spanier umso fataler. Der Focus dieser und anderer Fern- und Entdeckungsreisen war der Handel, vor allem die Suche nach exotischen Gewürzen, später Tee, Kaffee und Edelmetalle. Ein solcher Handel war ohne Handelsstützpunkte und Häfen nicht möglich, deren Darstellung Elvert zu recht viel Aufmerksamkeit widmet. Im Aufbau solcher Handelsgeflechte waren die Niederlande führend, die niederländische Ostindien-Kompanie geradezu beispielhaft. England war ein zweiter big player im internationalen Meereshandel, hier besonders durch die East India Company. Außerdem nennt Elvert auch die große Bedeutung des Hamburger Hafens.
Näher hin zur Gegenwart erweitert sich die Bedeutung des Meeres über den Handel hinaus zu seiner wichtigen Funktion für die internationale Migration speziell von Europa nach Nordamerika. Schließlich entdeckten phantasiereiche Kaufleute (u.a. Thomas Cook) bereits im 19. Jahrhundert auch die Möglichkeit, Schiffe als Vergnügungsvehikel auf den Meeren fahren zu lassen: der Boom Aufstieg der Kreuzfahrten begann. Schließlich weist der Autor auf die Bedeutung der (militärischen) Meeresherrschaft hin.
Elvert beschließt sein Buch mit einem Epilog, der über den Einfluß des Meeres auf das Denken der Menschen reflektiert. Sowohl die Küste als Grenze zwischen Land und Meer als auch der Ewigkeitscharakter des Meeres haben Dichter und bildende Künstler immer wieder fasziniert, wie unter anderen Melville, C.D.Friedrich und Thomas Mann.
Das Buch ist eine großartige Enzyklopädie der Meeresgeschichte, die uns sensibel macht, dass es beim Element Meer nicht einfach nur um Wind und Wellen geht, sondern im weiteren Sinne auch um Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Das reichhaltig enthaltene Bildmaterial trägt in attraktiver Weise zum Verständnis dieser Aspekte bei.
Jürgen Elvert: Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit. Deutsche Verlags-Anstalt. 2018. 591 Seiten. 45 Euro
