Flüchtlingskrise

Europa ist herzkrank

01.07.2015 - Dr. Christoph Quarch

In der Flüchtlingsproblematik tritt die Krankheit unseres Kontinents deutlich zu Tage: Ihm fehlt eine beseelende Vision. Es steht schlecht um Europa. Die Krankheit unseres Kontinentes tritt in diesen Tagen deutlich zu Tage. Nicht nur im Streit um Griechenland. Vielmehr noch im Gezerre um die Flüchtlinge aus Afrika.

Es ist beschämend zu erfahren, dass Frankreich seine Grenzen dichtmacht, um zu verhindern, dass Afrikaner von Italien aus ins Land gelangen. Es ist beschämend, dass ein Land wie Großbritannien sich unsolidarisch von dem Rest Europas abwendet, um keine Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. Es ist beschämend, dass sich osteuropäische Staaten wohl groß damit tun, schwere NATO-Waffen bei sich zu stationieren, aber keine Flüchtlinge. Die ganze Art und Weise, wie die europäische Politik mit den Flüchtlingen umgeht, schreit zum Himmel.

Es ist wie einst im alten Rom, und das ist kein gutes Zeichen: Der Niedergang beginnt am Rand. Wenn dort nicht bald tragfähige Lösungen gefunden werden, wird aus dem Niedergang ein Untergang. Erschütternd ist, dass diese Lösungen nicht in Sicht sind. Ja, dass man sich nicht einmal die Mühe macht, wirklich couragiert nach ihnen zu suchen: Symptome eines inneren Zerfalls, der an den Grenzen klar zutage tritt. In Griechenland und in der Ukraine, im ganzen Mittelmeerraum und nun auch noch an den innereuropäischen Grenzen, an denen wir uns wieder auf Kontrollen einstellen müssen.

Wir haben die Tugenden vergessen

Wo liegt das Problem? Das Problem steckt im Zentrum, es steckt im Herzen. Europa ist herzkrank. Europa fehlt etwas, das wirklich eint. Wenn in diesen Tagen von einer „Wertgemeinschaft“ gesprochen wird, dann verrät sich darin erst recht, dass es an einem echten geistigen Gravitationskern mangelt. Denn die Werte, die benannt werden, sind alt und verbraucht: Demokratie und Freiheit. Das sind zwar schöne Qualitäten, ohne Zweifel, doch beider Wert besteht von alters her darin, dass sie im Dienste anderer Ideen stehen – im Dienst von Idealen oder Tugenden: Gerechtigkeit, Harmonie, Lebendigkeit, Menschlichkeit. Und eben die scheinen in Vergessenheit geraten zu sein. Man lobt die Mittel und vergisst den Zweck. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Klare Linie an den Grenzen

Europa fehlt die Seele. Europa fehlt eine Vision. Nur ein Wirtschaftsraum zu sein, ist nicht genug. Zumal die Wirtschaft schwächelt und das System der freien Marktwirtschaft immer deutlicher zu erkennen gibt, dass es seine Wohlstandsversprechen auf Dauer nicht wird einhalten können – und dass das schon jetzt nur bedingt durch Ausbeutung und Naturzerstörung, Entfremdung des Menschen und Auflösung sozialer Strukturen gelingt. Europa braucht eine Vision, die trägt, die stark genug ist, die Menschen an sich zu binden und die Neuankömmlinge zu integrieren. Die stark genug ist, den Mut zu einem Schuldenerlass für Griechenland aufzubringen und eine klare Linie an den Grenzen zu ziehen. Nur wer im Innern fest ist, kann an der Grenze sicher sein.
Europa braucht ein Maß von innen. Es kann nicht ewig wachsen – nicht wirtschaftlich und auch nicht geographisch. Wir wären gut beraten, eine klare Grenze im Osten zu ziehen. Bis hier und nicht weiter. Um dann eine offensive und couragierte Politik mit den Ländern jenseits dieser Grenze zu verfolgen: der Ukraine, der Türkei, den nordafrikanischen Staaten. Dort sind unsere Kräfte und Energien gut investiert. Dort Infrastrukturen und einen nachhaltigen Grenzverkehr aufzubauen, ist viel besser, als das bisherige Rumlavieren und die lächerliche Strategie, mithilfe von Fronttex Schiffe-Versenken spielen zu wollen.

Eine ökologische Vision

Der klaren Grenze nach außen entspricht ein klares Maß nach innen: Wirtschaftliches Wachstum kann nicht das Maß sein. Dies kann nur menschliches Wachstum sein: ein Mehr an Menschlichkeit, an Nachhaltigkeit im Umgang miteinander und mit der Natur. Europa braucht eine ökologische Vision. Die Vision eines gesunden und lebendigen Oikos: eines gemeinsamen Hauses – eines Hauses, in dem für viele Platz ist; in dem man sich gemeinsam hilft, weil man weiß, dass man zusammengehört. Es braucht die Vision eines Lebens in spannungsvoller Harmonie, in der die Vielfalt ebenso bestehen darf wie das Bewusstsein darum, dass man ein gemeinsames Haus bewohnt. Die Vision einer Kultur, die es als höchstes Ziel erkennt, im Einklang mit der Natur und den großen Gesetzen der Erde zu leben. Der Grüne Kontinent – das wäre die Vision, die eint und die uns stark macht. Wer sich auf sie verpflichtet, gehört dazu. Wer nicht, bleibt draußen – und darf sich einer guten Nachbarschaftspflege gewiss sein.

Doch davon sind wir weit entfernt. Im Augenblick gilt: Jeder ist sich selbst der Nächste. Man spielt „Flüchtlinge verschieben“. Ist doch egal, was in Italien und Griechenland geschieht – hauptsache der eigene Wohlstand ist nicht in Gefahr, so scheint das Credo, und das nicht nur in Deutschland. Überall treibt der Ökonomismus im Augenblick seine unheilvollen Keile ins europäische Haus. Griechenland ist nur ein Beispiel dafür, TTIP und CETA ein anderes: die europäischen Wurzeln (die nun einmal in Griechenland liegen) werden ignoriert, die kulturelle Identität Europas wird um eines Freihandelsabkommens mit Amerika willen geopfert.

Neu denken lernen

Was ist konkret zu tun? Ich weiß es nicht. Einfache Lösungen wird es nicht geben. Gut wäre es, wenn wir die Größe aufbrächten, den Griechen zu vertrauen und der Regierung Tsipras die Chance gäben, ihr Land auf ihre Weise zu reformieren, anstatt ihnen die Rezepte einer gescheiterten Marktideologie aufzwängen zu wollen. Gut wäre es, ein für alle mal die Grenzen der EU festzulegen – ohne die Türkei und ohne die Ukraine, um diesen Staaten, ebenso wie den nordafrikanischen Mittelmeeranrainern, im selben Atemzug ein langfristiges und nachhaltiges Nachbarschaftshilfeprogramm vorzulegen. Gut wäre es, Italien und Griechenland mit den Flüchtlingen nicht allein zu lassen.
Am besten aber wäre es, ein Denken zu gebären, doch ist das leider das, was den Menschen am allerschwersten fällt. Gleichwohl sollten wir die alte Formel von Jacques Delors zu neuem Leben erwecken und als Bürgerinnen und Bürger einen Diskurs darüber beginnen, wie wir Europa eine Seele geben können - eine Seele und ein Herz. Europas Herz wird nur gesunden, wenn es seinen Geist kuriert.

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