WM in Katar

Fieberhaftes Fußballfest

01.12.2022 - Mehdi Musawi

Sieht man vom Ersten und Zweiten Weltkrieg und den darauf folgenden Konflikten des 20. und 21. Jahrhunderts ab, hat in der abrufbaren Geschichte unserer supervernetzten Welt selten ein globales Ereignis solche Spaltung verursacht wie die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar.

Boomer, Gen X, Millennials, Gen Z, Gen Alpha, TikTok, Facebook, Instagram, usw... wohin man sich auch wendet und mit wem man auch spricht, irgendwo hat irgendjemand etwas zu den 32 Mannschaften zu sagen, die derzeit um die begehrteste Auszeichnung des Fußballs kämpfen: etwa, ob das Turnier sehenswert, moralisch vertretbar oder ein Affront gegen den Sportsgeist ist. Wie viele braune Umschläge waren im Spiel, wie viele braune Menschen wurden ausgebeutet und dem Tod überlassen? Seit wann ist Katar eine Fußballdestination und warum hat niemand die Entscheidung in Frage gestellt, dem Land im Golf, das bisher keine sichtbaren Abdrücke in der globalen Sportweltkarte hatte, die Gastgeberrechte für 2010 zu geben? Wie und wann und warum... das fragen sich alle, und niemand scheint eine endgültige Antwort zu haben.

 

Virales Tugendhaftigkeitssignal

Obwohl die von der westlichen Welt erstellte Liste der aktuellen Missstände und ihre halbherzige Verurteilung der beklagenswerten Menschenrechtslage in Katar sachlich korrekt sind, wirken sie auf mich fast wie eine polemische Parodie. Wie Gianni Infantino, der umtriebige Präsident der FIFA, in einer Pressekonferenz vor dem Anpfiff sagte, sollten sich Europa und der Westen "für die nächsten dreitausend Jahre entschuldigen, bevor sie moralische Lektionen erteilen", aufgrund dessen, was aufgeklärte, edelgesinnte, gesetzestreue, liberale Kreuzritter dieser Welt in den letzten dreitausend Jahren angetan haben.

Dennoch darf man nicht unterschätzen, in welchen Notlagen sich die unterbezahlten, vertraglich versklavten Arbeiter befinden, die die glitzernden Hotels, die schicken und überteuerten Restaurants und Unterhaltungseinrichtungen der Weltmeisterschaft sowie natürlich mehrere hochmoderne, aus dem Nichts geschaffene Stadien gebaut haben. Man sollte auch nicht jene vergessen, die in katarischen Gefängnissen sitzen, weil sie ihre Meinung im Internet geäußert oder Gedichte geschrieben haben, die die Machthaber in einem weniger erfreulichen Licht erscheinen ließen. Darüber hinaus darf man auch nicht die Rolle Katars bei der Finanzierung des Bürgerkriegs in Syrien und die Beherbergung eines Sektierer-Apologeten vergessen, dessen kürzlicher Tod vor Ort einen kleinen Staubsturm von Trauer ausgelöst hatte.

Politische Spielchen  

In Ländern wie England, in denen das ehemalige Empire noch immer still und leise verherrlicht wird und in denen man sich nicht für den blutgetränkten Lebenslauf Britanniens entschuldigt, deutete der Fußballverband mit einem neu entdeckten Sinn für Gewissenhaftigkeit an, dass englische Spieler ein Zeichen setzen könnten, indem sie eine "OneLove"-Regenbogenarmbinde tragen, um ihre öffentliche Unterstützung für Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und LGBTQ+-Gemeinschaften zu bekunden. War dies der richtige Zeitpunkt und Ort, um diese Themen anzusprechen? Viele sagten ja, während viele, darunter der britische Außenminister James Cleverly, das Gegenteil behaupteten. Hat jemand das Thema angesprochen? Nein. Sobald die FIFA Druck machte und davor warnte, jedem eine gelbe Karte zu zeigen, der "Accessoires trägt, die nicht offiziell sanktioniert sind", sagte niemand etwas oder trug eine Armbinde. Die deutsche Startformation hingegen hielt sich auf dem Mannschaftsfoto vor ihrem Eröffnungsspiel den Mund zu. Wenigstens taten sie etwas.  


Rassismus zurückgewiesen

Die nicht enden wollenden Schuldzuweisungen an Katar wurden von vielen als islamfeindliche und rassistische Verleumdungskampagne aufgefasst, obwohl dies von jenen, die mit dem Finger auf Katar zeigten und wortgewaltige, vielschichtige Tweets verfassten, vehement bestritten wurde. Die Menschenrechte seien universell und nicht verhandelbar, behaupteten sie, während sie den andauernden Krieg im Jemen mit amerikanischer und britischer Feuerkraft und politischer Unterstützung – sowie Israels ständige Verstöße gegen das Völkerrecht auf palästinensischem Gebiet und die kaltblütige Ermordung der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh durch einen aufgedrehten israelischen Verteidigungsminister – ignorierten. Nichts davon schien so wichtig zu sein wie die oft vergessenen südasiatischen Bauarbeiter und katarischen Menschenrechtsaktivisten. Saudis und Bahrainis können wegen eines destabilisierenden Tweets im Gefängnis verrotten, solange das Öl weiter fließt und namenlose Magnaten sekündlich reicher werden – doch die Bilanz der bürgerlichen Freiheiten in Katar soll untersucht werden, damit ein paar Staatschefs sich besser fühlen können.


Fokus auf Fußball

Was Bälle, Dramatik, Intensität, Tore und umstrittene Entscheidungen der Video-Assistenten-Schiedsrichter (VAR) angeht, so hat die Weltmeisterschaft bisher einige Überraschungen hervorgebracht, daneben gab es jede Menge Hochspannung und große Emotionen. Zu nennen sind hier vor allem der 2:1-Sieg Saudi-Arabiens gegen Argentinien und der 2:0-Sieg Marokkos gegen Belgien sowie der historische 1:0-Sieg Tunesiens gegen Frankreich, den amtierenden Weltmeister und ehemaligen Kolonialherren. Alle drei Spiele wurden in der gesamten arabischen Welt als ein wahres Fest der Fußballbrüderschaft gefeiert, bei dem die ethnische Einheit an die Stelle der politischen Spaltung trat. Zu den weiteren erwähnenswerten Ergebnissen gehören die hart erkämpften Siege Japans gegen Deutschland und Spanien sowie der spannende 3:2-Triumph Ghanas gegen Südkorea.

Wenn die erste Hälfte des vierwöchigen Turniers etwas hergibt, steht uns eine spannende zweite Hälfte bevor.

 

Mehdi Musawi ist irakischer Schriftsteller und lebt in London.


(Deutsche Übersetzung des Textes von Olivia Haese)

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