Gesellschaft

Fleischlos, geschlechtslos, sinnlos

20.08.2013 - Henryk M. Broder

Wir befinden uns auf dem Weg von der klassenlosen in die fleisch- und geschlechterlose Gesellschaft. Wer das nicht glaubt, sollte einen Blick auf das totalitäre Gebaren der Weltverbesserer werfen.

Für den Fall, dass eines Tages Angehörige einer fremden Zivilisation, intelligente Außerirdische, unseren Planeten besuchen sollten, habe ich gestern in der Abenddämmerung im Englischen Garten direkt unterhalb des Monopteros einen massiven Kanister aus Edelstahl vergraben. Er enthält nicht die letzte Erklärung von Klaus Wowereit zu den Vorgängen um den neuen Berliner Flughafen, auch nicht den Bauplan von Stuttgart 21.


Nein, in dem Kanister liegen zwei Dokumente, die auf den ersten Blick vollkommen banal erscheinen, auf den zweiten aber alles über den Zustand unserer Gesellschaft sagt. Sollten die Außerirdischen sie finden, würden sie auf dem Absatz kehrtmachen und sofort wieder heimfliegen.


Das erste Dokument ist ein Artikel, den ich auf "Spiegel online" gefunden habe. Darin geht es um eine "Vegetarier-Initiative" für einen fleischfreien Tag pro Woche: "Donnerstag ist Veggie-Tag!"


Sie wird nicht nur von inzwischen 30 Städten unterstützt, die Grünen haben schon vor zwei Jahren ein "Positionspapier" für eine Gesetzesinitiative "für mehr Klimaschutz und Ernährungssicherheit" erarbeitet, in dem sie eine "Veränderung unseres Lebens- und Konsumstils" fordern, um ein "Zeichen" zu setzen "gegen die zerstörerischen Mittel der industriellen Agrarproduktion: Raubbau an Klima und Natur, Agro-Gentechnik, übermäßigen Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln auf Basis fossiler Energie, ungerechte Verteilung von Boden, Verschwendung von Lebensmitteln und inakzeptable Lebens- und Arbeitsbedingungen" - also praktisch alles, was unser Leben zur Hölle macht.
Denn die Grünen sind nicht nur eine politische Partei, sie sind auch eine Heilsbewegung, die uns das Paradies auf Erden verspricht. Und so wie man früher nur dem Götzendienst abschwören und sich zu Jesus bekennen musste, wobei einem Tomás de Torquemada und seine Mitarbeiter hilfreich zur Seite standen, muss man heute nur auf den Konsum von Fleisch verzichten, um die eigene Seele und die ganze Welt zu retten. Sie glauben es nicht? Schauen Sie sich das kurze Video an.


Hurra, wir retten die Welt!
Als Dreiviertelvegetarier, der sich von Obst, Gemüse, Schokolade und Mehlspeisen ernährt, aber gelegentlich dem Duft eines Brathendls nicht widerstehen kann, habe ich für eine fleischlose beziehungsweise fleischarme Lebensweise großes Verständnis; als mündiger Bürger aber möchte ich nicht vorgeschrieben bekommen, wie ich mich ernähren soll. Es reicht mir schon, dass ich gezwungen werde, meine Texte im kalten Licht von Energiesparlampen zu schreiben und demnächst auch noch einen Wasser sparenden Duschkopf verwenden soll, weil in der Sahelzone das Wasser zu den knappen Gütern gehört.


Die "Donnerstag ist Veggie-Tag!"-Intiative ist Teil eines Programms, das Deutschland geradewegs in die Erziehungsdiktatur führen soll: Wir werden angehalten, unsere Wohnungen auf höchstens 18 Grad Celsius zu beheizen, öffentliche Verkehrsmittel auch dort zu benutzen, wo es sie nicht gibt, kein Übergewicht anzusetzen, weil das nicht nur ungesund, sondern auch sozialschädlich ist, und unseren Fleischkonsum zu reduzieren oder am besten ganz einzustellen. Hurra, wir retten die Welt!


Wir frieren uns daheim den Arsch ab, wir gehen zu Fuß oder nehmen das Rad, wenn wir etwas von Berlin nach Leipzig transportieren wollen, denn weniger Autos sind besser als viele Autos, wir nehmen Rücksicht auf die Bilanz der Krankenkassen, und jetzt gönnen wir uns am Donnerstag einen Veggie-Burger. Bei den Katholiken war das schon immer freitags der Fall, aber da ging es ja nur um einen religiösen Brauch, nicht um "Klimaschutz und Ernährungssicherheit".


Geschlechter-Revolution in Berlin
Verglichen mit den Grünen und ihrem Hang zum alltäglichen Totalitarismus, ist die katholische Kirche eine libertäre Organisation mit Sinn für menschliche Schwächen. Das alles, finde ich, sollten die Außerirdischen erfahren, falls sie eines Tages auf unserem Planeten landen – inmitten einer grünen Naturlandschaft, aus der nur die Turmspitzen des Kölner Doms, der Münchner Frauenkirche und ein paar Rotorenblätter von Windrädern herausragen.
Das zweite Dokument, das ich deponiert habe, ist die Drucksache Nr. DS/0550/IV aus der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg, dem Parlament eines Stadtteils mit immerhin 277.000 Einwohnern, was der Population von Städten wie Augsburg oder Wiesbaden entspricht. In der Drucksache Nr. DS/0550/IV geht es um die Einrichtung von "Unisextoiletten" in öffentlichen Gebäuden des Stadtteils.


Es handelt sich dabei nicht um Toiletten, die von Frauen und Männern benutzt werden können, wie das zum Beispiel in vielen französischen Bistros der Fall ist, denn das ist in Deutschland nicht erlaubt.


Nein, es geht um Toiletten, die von Menschen benutzt werden sollen, "die sich (1) entweder keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen können oder wollen oder aber (2) einem Geschlecht, das sichtbar nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht", also Frauen, die sich als Männer empfinden, und Männern, die sich für Frauen halten, denn dies habe, obwohl es "auf den ersten Blick" nicht "nach dem Gegenstand eines drängenden politischen Problems" aussehe, "eine große Bedeutung für den Alltag der Betroffenen".


Der Toilettengang wird zur philosophischen Übung
Der Vorteil der Unisextoiletten, heißt es weiter in dem Papier, läge in dem Umstand, dass sie "keine Selbstkategorisierung in das binäre Geschlechtersystem" erfordern. "Das kann selbst für Menschen, die sich prinzipiell zuordnen können, dazu aber nicht ständig angehalten werden möchten, angenehm sein. Sie regen außerdem dazu an, über Geschlechtertrennungen im Alltag nachzudenken."


So wird jeder Gang zu einer öffentlichen Toilette in Friedrichshain-Kreuzberg zu einer philosophischen Übung über das "binäre Geschlechtersystem", das ausgedient hat, ganz im Sinne der Philosophin Judith Butler, die das Frau- beziehungsweise Mannsein für ein "gesellschaftliches Konstrukt" hält. Zudem erfahren wir auch, mit welchen Problemen sich die Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg beschäftigt, diesmal nicht auf Initiative der Grünen, sondern der Piraten, aber von den Grünen ebenso, wie von der SPD und der Linkspartei unterstützt.
Ja, das sind Probleme, denen im Zeichen der Euro- und Europakrise höchste Priorität zukommt. Dabei haben die Piraten auch eines der wichtigsten Naturgesetze überwunden – die Schwerkraft. Sie schweben über dem Boden der Wirklichkeit, zumindest auf dem kurzen Weg in die Unisextoilette. Und wenn sich drinnen der Pirat und die Piratin begegnen, wird endlich wahr, was mit der Idee einer klassenlosen Gesellschaft begann und in der geschlechterlosen Gesellschaft vollendet wird: die Vision einer besseren Welt, in der Männer und Frauen gemeinsam spülen.

 

Erstveröffentlichung: DIE WELT

 

Foto: © Alesa Dam

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