Kolumne: Lupus Oeconomicus

Flüchtlinge sind wieder willkommen – gut so!

01.04.2022 - Nicolas Wolf

Aber warum lassen wir nicht einfach generell mehr Einwanderung zu?

Die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine ist sehr ergreifend und bewundernswert. Ähnlich wie damals im Sommer 2015 zeigt sich, was spontane Hilfsbereitschaft zu leisten vermag. Ich hoffe allerdings, dass sich die derzeitige Situation von der vor sieben Jahre in einem Punkt wesentlich unterscheiden wird, nämlich dass diesmal von der gezeigten Willkommenskultur etwas nachhaltig bleibt. Denn leider schlug seinerzeit die „Refugees welcome“-Stimmung innerhalb weniger Monate in das Gegenteil um. Die AfD trieb die etablierten Parteien vor sich her und Migration wurde eher als Problem, denn als etwas Positives gesehen. Dabei, so zumindest meine Meinung, wären Deutschland und Europa (und Millionen Menschen weltweit) deutlich besser dran, wenn sie sich als Einwanderungsländer verstehen und organisieren würden.

Für mich sieht die Sache folgendermaßen aus: Wirtschaftswachstum ist ein Imperativ; „no-growth“ ist, mit Verlaub, Mist. Eine wohlhabendere, reichere Weltgemeinschaft ist eher in der Lage Leid zu vermeiden, möglichst vielen Menschen ein würdevolles und freies Leben zu ermöglichen und sie vor den Launen der Natur zu schützen. Und eine der wirkungsvollsten Hebel die globale Wirtschaftsleistung zu steigern ist Migration. Tatsache ist, dass der bestimmende Faktor schlechthin, wie produktiv jemand ist, sein Herkunftsland ist. Wer zufällig in Europa, den USA oder Japan geboren wird, wird rein statistisch ein vielfach höheres Einkommen haben als jemand aus Afrika oder Indien. Nicht weil er oder sie schlauer, talentierter oder arbeitswilliger ist, sondern weil das institutionelle und wirtschaftliche Ökosystem um sie herum sowie das eingesetzte Kapital sie ungleich produktiver machen. Warum sollte man also nicht migrationsbereiten Menschen aus Entwicklungs- oder Schwellenländern (oder überhaupt von überall) die Möglichkeit eröffnen, sich in einer Industrienation wie zum Beispiel Deutschland niederzulassen und deutlich mehr zum Welt-BIP beizutragen als sie dies in ihren Heimatländern könnten?

Die wirtschaftliche Perspektive ist klar „pro Einwanderung“

Das ist mehr oder weniger das Argument, das viele (vor allem liberale und libertäre) Ökonome unterbreiten, wenn es um das Thema Zuwanderung geht. Der britische „The Economist“ brachte es vor zwei Jahren in einem Spezial mit dem Titel „To make the world richer, let people move“ vortrefflich auf den Punkt. Der Artikel beginnt mit dem Beispiel eines indonesischen Steinhauers, der zwei Dollar am Tag verdient und mit dem Hammer den Stein zerschlägt. In einem Industrieland, so der Economist, würde er dank besseren Equipments wohl auf 20 Dollar pro Stunde kommen. Ebenfalls vor zwei Jahren veröffentlichte der libertäre US-Ökonom Bryan Caplan ein (mit Comicillustrationen gespicktes) Buch mit dem Titel „Open Border" – ein radikales Plädoyer für unbegrenzte Zuwanderung. Der Untertitel „The Science and Ethics of Immigration“ macht klar, dass es hier nicht nur um rein wirtschaftliches Kalkül, sondern auch um eine moralische Dimension geht.

Wer Liberalen oder gar Libertären nicht so sehr über den Weg traut, dem sei ein kürzlich erschienener Aufsatz auf Noah Smiths Substack empfohlen. In dem Essay „Give us all the refugees, dammit!“ beschwört der mittel-linke Wirtschaftsjournalist und Blogger Amerikas Konzeption als Einwohnerland und führt sämtliche Studien auf, die die wirtschaftlich positiven (oder zumindest nicht negativen) Effekte von Migration und Fluchtbewegungen belegen. Denn ein (auch von politisch linker Seite) immer wieder hervorgekramtes Anti-Immigration-Argument ist bekanntermaßen, dass Migranten ja angeblich Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Ohne jetzt auf die Empirie im Detail eingehen zu wollen, aber dass „mehr Menschen“ gleichbedeutend ist mit „weniger Arbeit für alle“, müsste ja auch bedeuten, dass normales Bevölkerungswachstum oder der vermehrte Eintritt von Frauen in das Erwerbsleben zu steigender Arbeitslosigkeit führen. Das ist allerdings nicht der Fall, was daran liegt, dass „Arbeit“ im Gegensatz zu Platz am Badestrand eben nicht fix ist und die bloße Anwesenheit von Menschen Arbeit schafft, weil sie ihrerseits gewisse Bedürfnisse haben, die gedeckt werden müssen. Davon abgesehen verrichten viele Migranten Tätigkeiten, die Einheimische nicht machen wollen, in der Regel harte, körperliche und weniger gut bezahlte Arbeit.

Wir brauchen besseres Einwanderungs-Marketing

Doch wenn Migration durchaus eine Win-Win-Situation für Einwanderer und Einwanderungsland darstellen kann, warum machen wir es potenziellen Migranten dann so schwer legal nach Deutschland bzw. Europa zukommen? Warum diese Festung, dieser Schutzwall, der Menschen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben immer wieder zu Verzweiflungstaten verleitet? Oder anders gefragt: Warum ist das Pendel im Diskurs um Zuwanderung nach dem Sommer 2015 soweit in die andere Richtung geschwungen und dort verharrt? Natürlich gibt es leider Gottes Rassismus, Xenophobie sowie diffuse Ängste, die in der Migrationsfrage Menschen eine „Anti-Haltung“ einnehmen lassen. Aber erklärt dies ausreichend, warum unser Einwanderungssystem so restriktiv und selektiv ist?

Ich will nicht so tun, als wäre Migration ein Selbstläufer. Im Gegenteil: Man braucht Strukturen und eine Infrastruktur, die Integration fördern, und vor allem eine Gesetzeslage, die es Einwanderern möglichst einfach macht Arbeit aufzunehmen und zur Gesellschaft beizutragen. Denn ein Eindruck, der sich wahrscheinlich nicht nur mir aufdrängt, ist, dass Migration unter einem Image-Problem leidet. Damit meine ich nicht irgendwelche „kulturellen“ Aspekte (die halte ich für vollkommen überbewertet), sondern dass Migranten auch von Migrationsbefürwortern oftmals als in erster Linie Hilfsbedürftige porträtiert werden und weniger als Menschen, die etwas leisten und zu unserem wirtschaftlichen Wohlstand beitragen können. Ich hingegen glaube, dass viele BürgerInnen Einwanderung deutlich positiver gegenüberstünden, wenn man Migranten als Leute darstellt, die „anpacken“ und langfristig die deutsche Wirtschaft stützen. Darüber hinaus gibt es dann noch dieses seltsame Phänomen, dass, wenn gewisse Leute eine bestimmte Position beziehen, eine andere Personengruppe reflexartig dagegen argumentiert. Wenn also die Grünen-Politikerin Kathrin Göring-Eckhardt die syrische Flüchtlingsbewegung 2015 mit den Worten „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt“ kommentiert, dann ist das für alle rechts der Mitte leider ein gefundenes Fressen und eine objektive Debatte um das Thema ungleich schwieriger. Man könnte es auch so sagen: Wer für mehr Zuwanderung nach Deutschland werben möchte, der sollte die Grünen davon abhalten, sich zu dem Thema zu äußern.

Die politische Tendenz geht Richtung „Einwanderungsland“

Und so basieren meine politischen Hoffnungen auf FDP und CDU, denn so wie nur eine rot-grüne Regierung das deutsche Sozialsystem reformieren konnte, braucht es den Buy-in von Bürgerlichen und Liberalen, um mehr Migration zu ermöglichen. Dabei gibt es durchaus Grund zum Optimismus: Die CDU hat ja zusammen mit der SPD 2020 immerhin das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen. Es scheint mir zwar noch immer arg kompliziert, restriktiv und bürokratisch, aber es ist zumindest ein Anfang. Die FDP wiederum hat sich 2021 in ihrem Wahlprogramm zu Deutschland als Einwanderungsland bekannt und zudem betont, dass auch nicht-akademischen Fachkräften die Möglichkeit eröffnet werden muss, legal und unkompliziert nach Deutschland zu emigrieren. Ich würde mir wünschen, dass dem auch Taten folgen und Deutschland sich tatsächlich zu einem Einwanderungsland wandelt, idealerweise zusammen mit dem Rest der EU – unaufgeregt, unemotional und ohne großes Tam-Tam. Und ich hoffe auch, dass wenn sich die Fluchtbewegung aus der Ukraine legt, der Diskurs hierzulande und europaweit nicht wieder in eine hysterische Anti-Einwanderungs-Kakophonie abdriftet. Ich bin überzeugt, dass mehr Migration zum Vorteil wäre – zu unserem, und dem von Millionen Menschen weltweit, die auf eine bessere Zukunft hoffen und bereit sind dafür ihre Heimat zu verlassen.

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