Kurzgeschichte

Flüchtlingskinder

01.11.2015 - Dr. Sarfraz M. Baloch

A. H. war 63 Jahre alt. Auffällig graue Haare bedeckten seinen Kopf. Er wirkte stets besonnen und nachdenklich. Wäre ich ihm auf der Straße begegnet, so wäre er mir bestimmt nicht im Gedächtnis geblieben, so unauffällig war seine Gesamtpersönlichkeit. Ein Flüchtling aus Syrien, einer von Tausenden.

Er war unser Übersetzer während der 5-tägigen medizinischen Hilfe, die wir in einem von den Politikern vergessenen Flüchtlingslager leisteten. Über 800 Flüchtlinge waren vor Ort. Und es werden weitere kommen. Eine bunte Menge unterschiedlichster Mentalitäten und Charaktere. Von den Gebildeten bis zu den absoluten Analphabeten war alles dort vertreten. Die Familienstrukturen waren durch die Massenunterkünften blockiert. Die Beweglichkeit der Menschen war begrenzt.

Die umliegende Ortschaft war ihnen nicht unbedingt freundlich gesonnen Die Ortsansässigen schienen kein Verständnis für sie zu haben. Irgendwie erwarteten sie von den gerade nach Deutschland gekommenen Flüchtlingen vollkommene Kenntnisse nicht nur der Sprache, sondern auch der ihnen bisher  unbekannten deutschen Kultur. Eine kinderreiche Familie war ihnen von vorneherein unsympathisch. Die medizinische Versorgung verlief über 112 oder gar nicht. Die niedergelassenen Kollegen waren überfordert.
Die Situation dort war für mich als einen „Deutschen“ unvorstellbar bevor ich sie selbst gesehen hatte. Ich selbst bin ein Flüchtlingskind. Dass ich mich zu Deutschland bekenne, war das Ergebnis einer langen inneren Reise, die mich zu dem machte, was ich heute bin; ein Deutscher, der mit aller Kraft für die Verteidigung jener Werte stehen wird, die er in Deutschland und seiner Gesellschaft fand, nämlich die Menschenrechte. Die Kenntnis der Menschenrechte, die ich in dieser Gesellschaft erwerben konnte, ist das wahre Geschenk Deutschlands. Der Wohlstand ist nur zweitrangig.

Unter Tränen sagte mir A. H., wie sehr er seine 3 Töchter vermisste. Seine Frau ist mit den drei zusammen noch in Damaskus bei ihren Eltern. Er und sein 11 Jahre alter Sohn seien die Flüchtlingsroute nach Deutschland angetreten, nachdem er sein Haus und alles  verkauft habe; zu Fuß, auf dem Boot, in Bussen und Zügen. Nun hoffe er auf eine friedliche Zukunft. Vom Morgen bis zum Abend stand er uns zur Seite. In den Pausen sah ich ihn mit seinem Sohn Fußball spielen. Wenigstens dann lächelte er. Die einzige Hoffnung, die er hegte, war, einen friedlichen Platz in dieser großen Welt für ihn und seine Familie zu finden. Den Kindern wolle er eine gute Bildung zukommen lassen.
„Geflüchtet“ war ich auch in meiner Kindheit, aber doch nicht auf diese Weise. Unter der beschützenden und liebevollen Hand meiner Mutter wurde ich aus Pakistan in den Flieger gesetzt. Unter der Fürsorge meines Vaters wurde ich vom Frankfurter Flughafen nach draußen begleitet. Ein echter Flüchtling war mein Vater, später auch meine Mutter. Für mich war das wie ein Schulwechsel. Von der einen Schule herausgerissen und in einer völlig fremden Schule hineingesteckt, wo ich niemanden und mich niemand verstehen konnte. Ich sehe da keine Parallelen zu diesem alten Mann. Er ist um sein Leben und für ein Stückchen Glück geflüchtet.

Später als mein Kollege und ich uns mit einer kleinen Gruppe der Flüchtlingsjugendlichen unterhielten, haben wir ihnen erklärt, was Deutschland für uns bedeutet, uns, die doch überhaupt nicht blond oder blauäugig sind. Das waren vielleicht mal früher Kennzeichen der Deutschen und viele möchten es vielleicht wieder so haben.  Aber von Tag zu Tag wird die Zahl derer größer, die sich zu klaren Werten bekennen, die in der hiesigen Gesellschaft mehrheitlich vertreten werden. Ihr Aussehen, ihre Religion und vielleicht auch die Mentalität mögen anders sein, doch allmählich wird aus dem Pakistaner mit dem deutschen Pass ein Deutscher mit pakistanischen Wurzeln. Das ist das neue Deutschland, wie es bereits viele erhofften und davon sprachen.
A. H. und tausend andere werden mit anpacken. Da bin ich mir sicher. Aus Langeweile hat er uns den ganzen Tag bestimmt nicht geholfen, ohne je einen Wunsch für sich zu äußern. Auch der Anästhesist aus Afghanistan, der 20 seiner Landsleute kurzfristig mobilisieren konnte, um die Schränke für die weiteren Flüchtlinge zu bauen, wird weiter positiv wirken. Es gibt noch viele weitere Beispiele. Aus den jetzt Fußball spielenden Kindern werden später konstruktive Mitbürger, die sich zu den großartigen Werten dieser Gesellschaft bekennen werden. Manche werden bestimmt vor dem Bundestag auf der Wiese spazieren und sich in ihrer Heimat fühlen. Manch einer wird auf der gläsernen Wand hinter dem Bundestag den 1. Artikel durchlesen und seine Tränen heimlich wegwischen, so wie A. H. es tat, als ich ihm eine Tasse Kaffee am Ende des Tages reichte.

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