Buchauszug

Fluss in die Freiheit: Meine spektakuläre Flucht aus Nordkorea

01.01.2021 - Masaji Ishikawa

Anfang der 1960er-Jahre machen sich die Eltern des 13-jährigen Masaji Ishikawa auf den Weg nach Nordkorea. Doch der Traum von einem besseren Leben entwickelt sich immer mehr zum Albtraum: 36 Jahre lang erduldet Masaji Hunger, Terror und Gewalt. Dann ist die Not so groß, dass er nur noch einen Ausweg sieht: die Flucht. Er springt in das kalte Wasser des Yalu-Flusses und es beginnt eine nervenaufreibende Odyssee, die ihn fast das Leben kosten wird. Ishikawas Bericht ist das schockierende Zeugnis der Grausamkeiten der Kim-Diktatur und ein Beispiel für die unbändige Kraft und Widerstandsfähigkeit des Menschen. Im Folgenden ein Buchauszug aus "Fluss in die Freiheit. Meine spektakuläre Flucht aus Nordkorea":

Der 8. Juli 1994 begann wie jeder andere Tag. Der Himmel über Hamhung war von Dunst dicht bedeckt. Man hätte glauben können, ein Sturm sei im Anzug, doch die wabernden Wolken waren tatsächlich nur Rauch von den Fabriken.

Wie üblich ging ich zur Arbeit. Um die Mittagszeit war über die Laut­sprecher der Fabrik die schrille Stimme einer Frau zu hören, die verkün­dete, dass wir uns auf eine besondere Nachrichtenmeldung einstellen soll­ten. Ich konnte mir nicht vorstellen, was das sein könnte.

Ich machte eine Pause, stand in einer Ecke und rauchte eine Zigarette, als aus dem Lautsprecher über meinem Kopf plötzlich eine feierliche Mu­sik dröhnte.

»Eine sehr wichtige Nachricht. Eine sehr wichtige Nachricht. Heute starb unser Großer Führer, Genosse Kim Il-sung!«

In der Fabrik wurde es mit einem Mal ganz still. Jeder hielt mit der Tä­tigkeit, mit der er gerade beschäftigt war, inne und stand nur noch wie vor den Kopf geschlagen da. Aber nicht lange. Bald erfüllte ein großes Weh­geschrei die Luft. Die Leute fingen an, zu weinen und zu klagen, während andere gegen die Werkbänke und Wände hämmerten.

Meine Zigarette rutschte mir aus den Fingern und meine Kinnlade fiel mir herunter. Zu meinem größten Erstaunen stellte ich fest, dass ich nun auch weinte. Ich habe keine Ahnung, warum, doch über meine Wangen strömten heiße Tränen. War es ein Schock? Angst? Erleichterung? Ich empfand eine seltsame Mischung der Gefühle, die ich mir bis heute nicht erklären kann.

Ich hatte mehr als dreißig Jahre in diesem von Kim Il-sung geschaf­fenen »Paradies auf Erden« verbracht; ich war kaum besser als ein Tier behandelt worden und konnte auf der untersten Stufe der Gesellschaft kaum überleben. Einmal hatte ich sogar versucht, meinem Leben ein Ende zu setzen, um meiner miserablen Existenz hier zu entkommen. Warum weinte ich also?

War die ganze staatliche Programmierung teilweise erfolgreich ge­wesen? Seit ich nach Nordkorea übergesiedelt war, hatte ich mich nie wirklich lebendig gefühlt; ein Teil von mir war eingemauert und zum Schweigen gebracht worden. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass dieser Teil von mir einfach verdorrt war, wie ein Körperteil, der aufgrund mangelnder Nutzung verkümmert. Ich dachte über den Terror nach, der mein Leben dominiert hatte – diese nie endende Überwachung, der Mangel an Autonomie, die Angst, eine Meinung kundzutun, die Hoff­nungslosigkeit und die Verzweiflung; die Unmöglichkeit, das Schicksal meines Lebens zu einem Besseren wenden zu können. Kim Il-sungs bedrohliche Herrschaft war in jeden einzelnen Aspekt meines Lebens eingedrungen, wie ein Bajonett, das nur wenige Zentimeter vor meiner Kehle innehielt.

Mehr als dreißig Jahre lang hatte ich »Lang lebe Kim Il-sung!« gesagt – und es natürlich nie so gemeint –, doch hier war ich jetzt am Weinen. Hatte all die Gehirnwäsche ihren gewünschten Effekt erreicht? Oder reagierte ich einfach auf die Gruppenhysterie? Die Leute um mich herum waren völlig aufgelöst. »Wie werden wir von nun an leben?«, klagten sie immer wieder.

Als ich nach Hause kam, klammerten sich meine Kinder an mich und weinten. Auch meine Frau weinte. Ich weiß nicht, ob irgendjemand von ihnen aus Traurigkeit. Am Tag nach seinem Tod strömten die Menschen zu seiner Bronze­statue und legten Blumen vor ihr nieder. Kinos und Kultureinrichtungen veranstalteten Gedenkversammlungen. Die Teilnahme war obligatorisch. Die Polizei war überall, nur um dafür zu sorgen, dass auch jeder erschien. Doch das war nicht nötig. Jeder war begierig teilzunehmen, um seine Ge­fühle mit anderen zu teilen, um sich als Teil von etwas Größerem und Be­deutenderem zu empfinden, als es das eigene erbärmliche, kleine Leben war.

Kim Il-sung starb am Vorabend eines Ereignisses, welches eigentlich das erste Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea werden sollte. Die Parteiführung war ganz besessen vom Optimismus über diesen Gipfel und hatte behauptet, die Vereinigung von Nord- und Südkorea werde bald Wirklichkeit und dass unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten bald hinter uns lägen.

Aber das ist das Problem mit Propaganda. Sie widerspricht sich dau­ernd selbst. Uns war gesagt worden, der Zusammenbruch der Landwirt­schaft und der Niedergang der Wirtschaft seien ganz und gar die Schuld der US-Imperialisten, die die koreanische Halbinsel in zwei Staaten geteilt hatten. Wenn der Norden und der Süden erst vereinigt seien, sei die Ge­fahr des Verhungerns vorbei.

Doch das ergab keinen Sinn. Wenn unsere Probleme einzig auf den US-Imperialismus zurückzuführen waren, warum litten die Südkoreaner dann nicht auch Hunger? Und war uns außerdem nicht erst neulich er­zählt worden, dass auch die Südkoreaner hungerten?

Masaji Ishikawa, Fluss in die Freiheit. Meine spektakuläre Flucht aus Nordkorea, riva Verlag, 192 Seiten, Erscheinungsdatum: Oktober 2020, 17,99 €

Masaji Ishikawa wurde 1947 in Kawasaki, Japan, geboren und zog 1960, im Alter von dreizehn Jahren, mit seinen Eltern und drei Schwestern nach Nordkorea. Doch das vermeintlich gelobte Land entpuppte sich als Hölle auf Erden. 1996 gelang ihm die riskante Flucht über den Yalu-Fluss nach China. Heute lebt er in Japan.

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