Kolumne

Föderalismus ist super (und das nicht trotz, sondern wegen Corona)

01.11.2020 - Nicolas Wolf

Hin und wieder haben manche BundesbürgerInnen das Bedürfnis eine Föderalismusdebatte loszutreten. Die derzeit grassierende Pandemie ist da natürlich eine Steilvorlage für alle, die mehr gebündelte Macht in Berlin wollen. Dabei ist der Föderalismus super – und das meine ich nicht einmal ironisch.

In Europa rollt die zweite Corona-Welle und auch Deutschland scheint sich ihr nicht entziehen zu können. Im Gegensatz zur Situation im Frühjahr hat sich das Infektionsgeschehen deutlich mehr über das gesamte Bundesgebiet verteilt. Parallel dazu besteht ein Flickenteppich an Regelungen, die sich von Bundesland zu Bundesland teilweise erheblich unterscheiden, denn – wie wir ja im Laufe dieser Pandemie gelernt haben – ist Infektionsschutz nun einmal Ländersache. Manch einer würde sich da zurecht mehr Einheitlichkeit wünschen, doch trotz Konferenzen mit der Kanzlerin fällt es den Länderchefs abermals schwer sich auf ein gemeinsames Maßnahmenpaket zu verständigen. "Ich glaube, dass der Föderalismus zunehmend an seine Grenze stößt", konstatierte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder kürzlich und sprach damit sicherlich vielen aus der Seele, die sich ein beherztes Durchgreifen seitens des Bundes wünschen.

Überhaupt stellte sich ja zu Beginn der Pandemie nicht nur die Frage, ob liberale Demokratien so etwas wie Ausgangsbeschränkungen und “Lockdowns” und somit wirksame Strategien zur Eindämmung des Virus durchsetzen könnten. Dazu gesellte sich noch die Befürchtung, dass föderalistische Staaten, wie zum Beispiel Deutschland, zusätzlich benachteiligt sein würden, da Föderalismus nun einmal bedeutet, dass man als Zentralregierung eben nicht per Federstrich Antivirus-Maßnahmen für das gesamte Staatsgebiet beschließen kann. Dies kann gerade im Notfall wertvolle Zeit kosten; zudem besteht die Gefahr, dass das politische Kalkül von so manchem „Landesfürsten“ zu Lasten bundesweiter Koordination und Umsetzung geht.

Die Argumente für den Föderalismus – auch in Pandemieszenarien

Doch auch wenn derzeit viel über Regelungswirrwarr und Unterschiede hinsichtlich der Corona-Beschränkungen in den Bundesländern geklagt wird, so scheint es zumindest bisher, als hätte der Föderalismus der Pandemie-Bekämpfung nicht im Weg gestanden. Es ist zwar keine wissenschaftlich fundierte Meinung, aber wenn ich mich in der Welt umschaue, dann gibt es zumindest auf dem ersten Blick keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass förderalistisch organisierte Staaten beim Umgang mit dem Virus deutlich schlechter abgeschnitten hätten als zentralistische. Stattdessen gibt es Argumente, die genau das Gegenteil nahelegen.

Föderalismus umfasst die Umverteilung von politischer Macht und Entscheidungskompetenz, weg vom Bund hinzu den „Menschen vor Ort“. Idealerweise erzeugt dies ein Gefühl von Kontrolle und Selbstbestimmtheit, was wiederum die Legitimät der Landesregierung stärken sollte. Gerade dann, wenn es darum geht Verzicht zu üben, sich einzuschränken und sich solidarisch zu verhalten – wie zum Beispiel während einer Pandemie – könnte man meinen, dass die Appelle einer Landesmutter oder eines Landesvaters eher auf die Zustimmung der Bevölkerung stoßen, als ein Diktat aus der Bundeshauptstadt. Außerdem – und damit wären wir bei einem der oft angeführten Kernargumente für den Föderalismus – sind die Verhältnisse von Ort zu Ort nun einmal verschieden, was auch für das Infektionssgeschehen von Sars-Cov-2 gilt. Hier traue ich den Landesregierungen im Großen und Ganzen schon zu, angemessen auf die regionale Lage zu reagieren und wüsste nicht, warum man annehmen sollte, dass eine zentrale Stelle in Berlin für alle sechzehn Bundesländer ein besseres Resultat produzieren würde.

Experimentieren & Risikoverteilung

Darüber hinaus gibt es allerdings noch zwei weitaus gewichtigere Argumente, warum der Föderalismus in der derzeitigen Situation mehr Segen als Fluch ist. Zum Einen ermöglicht er Experimente. Wir wissen mittlerweile zwar eine ganze Menge über das Sars-Cov-2-Virus und wie man ihn am besten entgegenwirkt, aber vieles eben auch nach wie vor leider nicht. Wenn Bundesländer angesichts dessen unterschiedliche Ansätze ausprobieren, um der Lage Herr zu werden, dann begrüße ich das – sofern jene Maßnahmen zumindest auf dem Papier nachvollziehbar erscheinen. Im günstigsten Fall ließe sich auf diese Weise mehr darüber herausfinden, was funktioniert und was nicht.

Der zweite, für mich persönliche wichtigere, aber stark unterschätzte Aspekt hat mit Risikomanagement zu tun. Es ist zwar schön und gut, wenn eine Zentralregierung mit großzügigen Befugnissen ausgestattet entschlossen und schnell handelt. Doch was, wenn sie es nicht tut oder aber dabei eklatante Fehler begeht?

Wer hierzu anschauliche Corona-Beispiele möchte, sollte sich die USA und Großbritannien vor Augen führen. In den Vereinigten Staaten regiert ein Präsident, der insgesamt sehr wenig dazu beigetragen hat, die Krise in seinem Land zu bewältigen. Glücklicherweise haben die Governeure weitreichende Befugnisse, um die Situation in den Bundesstaaten zu managen. Natürlich würde ein fähiger Präsident versuchen, seinen Beitrag zu leisten und zum Beispiel zwischen den Staaten vermitteln, koordinieren und dafür sorgen, dass Medikamente und Schutzausrüstung angemessen verteilt werden. Aber jeder ist dazu ermuntert, sich auszumalen, wie die Situation in den USA wäre, wenn Bundesstaaten nicht ohne den ausdrücklichen Segen Donald Trumps handeln könnten.

Zentralismusstudie „Vereinigtes Königreich“

Großbritannien hingegen ist deutlich zentralistischer ausgelegt. Auch wenn über die letzten 20 Jahre die englischen Regionen politisch autonomer und in vielen Bereichen Kompetenzen von Westminster nach Wales, Schottland und Nordirland übertragen wurden, so liegt die Macht nach wie vor in Downing Street No 10. Das Ergebnis: Reibereien und Misstrauen zwischen der Johnson Regierung in London auf der einen Seite, und den englischen Regionen sowie den anderen Nationen des Vereinigten Königreichs auf der anderen. Es fällt schwer zu glauben, dass dies nicht die Pandemiebekämpfung beeinträchtigt hat. Vorwürfe, die dabei im Raum stehen, sind unter anderem, dass die britische Regierung Informationen zurückhält, wo sie diese eigentlich mit den Autoritäten vor Ort teilen sollte, und unilateral entscheidet, wo Zustimmung der lokalen Stellen erforderlich wäre. Dazu gesellen sich handfeste Fehler, die von Johnson und seinem Kabinett, aber auch von zentralen Behörden begangen wurden. Man kann natürlich nur spekulieren, wie das Vereinigte Königreich mit einer förderalistischen Struktur bis zu diesem Punkt durch die Pandemie gekommen wäre. Fakt ist aber, dass wann immer sich Westminster Fehltritte leistet, der Rest des Landes die vollen Konsequenzen zu spüren bekommt – es gibt keine darunterliegenden Ebenen, die eigenständing handeln und Versäumnisse höherer Stellen auffangen und korrigieren könnten. Anders formuliert: Föderalismus schafft Redundanzen, sodass, wenn irgendwo irgendjemand Mist baut, nicht gleich alle mit im Schlamassel sitzen.

Wem Großbritannien und die USA zu weit weg sind, dem sei zum Abschluss folgendes Gedankenexperiment ans Herz gelegt: Stellen Sie sich vor, die Bundesländer hätten keinerlei Befugnisse in Sachen Infektionsschutz und die Berliner Landesregierung wäre für den Bund verantwortlich – ein Beispiel, das sich auch vortrefflich auf andere Bereiche (innere Sicherheit, Umwelschutz...) übertragen ließe. Zumindest alle Welt-, FAZ- und Focus-Leser hätte ich damit als glühende Föderalismus-Verfechter auf meiner Seite. Falls wir in Deutschland also demnächst wieder eine Föderalismus-Debatte führen sollten: Ich bin gut gerüstet. 

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