Erziehung

Ganztagsbetreuung raubt Lebensfreude

01.08.2018 - Dr. Albert Wunsch

In kaum einem anderen Bereich unseres Staatswesens wird so undifferenziert mit Bedarfsäußerungen umgegangen wie im Bereich der Ganztagsbetreuung von Kindern. Riefe das Volk, die Steuern abzuschaffen oder das Parken auf Bürgersteigen zu erlauben, es würde ignoriert. Wollen Eltern aber schon morgens um 6.00 Uhr ihr Kind am Kindergarten abgeben, zusätzliche Krippenplätzen oder Ganztagsschulen, schon wird das Ganze als wichtige Bedarfsäußerung aufgegriffen. Die Frage, ob die Väter und Mütter sich hier überhaupt als Erziehungs-Personen – in Abgrenzung von Eigeninteressen – äußern, bleibt meist unberücksichtigt. Denn solche Willensbekundungen dürften wegen Befangenheit und offensichtlicher Interessenkollision mit dem Kindeswohl gar nicht ungeprüft bearbeitet werden.

Oft wird eingebracht, dass viele Eltern auf eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder angewiesen seinen, weil die ökonomische Situation Väter und Mütter zu Doppelverdiener machen würde. Auf den ersten Blick scheint es nachvollziehbar, dass Notlagen den Entscheidungsspielraum minimieren, zum Beispiel bei starker Finanzknappheit von Eltern. Hätte der Nachwuchs eine Chance zum Einbringen seiner Interessen, würden die Kinder als Betroffene ernst genommen und dem Kinder- und Jugendhilfe Gesetz (KJHG / StGB VIII) entsprochen, weil hier die Bedürfnisse der Kinder beschrieben werden und gegenüber den Eltern-Bedürfnissen Vorrang haben. Auf jeden Fall darf ein zu knappes finanzielles Familien-Budget nicht auf dem Rücken von kleinen oder größer werdenden Kindern ausgeglichen werden. Hier wäre ein Kinderzuschlag für Geringverdiener bei gleichzeitigem Nachweis eines erfolgreich absolvierten Erziehungs-Qualifikations-Seminars die nachhaltigste Maßnahme. Denn wichtige Kinder-Bedürfnisse sollten nicht auf dem Altar ökonomischer Interessen geopfert werden. So haben alle gesellschaftspolitischen Kräfte den Auftrag dafür zu sorgen, dass sich Produktions-Prozesse am Menschen zu orientieren haben und nicht umgekehrt. Fakt ist, dass eine umfangreiche außerhäusige Betreuung die Entfremdung zwischen Kindern und ihren Eltern fördert.

Es geht um optimale Bedingungen zu einer förderlichen kindlichen Entwicklung

Kinder wollen in der Regel weder in Kinderkrippen, zu Tagesmüttern noch in Ganztagsschulen. Sie möchten einfach in der Lebenswelt, in die sie hinein geboren wurden, möglichst viele gute Erfahrungen mit ihren Vätern und Müttern machen. Und je älter sie werden, je mehr brauchen sie kompetente Erwachsene, um sich an ihnen orientieren zu können. Viele Untersuchungen, zum Beispiel die seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführten Shell-Jugendstudien, belegen: „Der größte Wunsch von Kinder ist, mehr Zeit mit ihren Eltern zu verbringen!“ Oft wird argumentiert, Ganztagsbetreuung sei der „Königsweg“ zu einem stattlicheren Kindersegen. Dieser Irrglaube wird auch durch den Trend in den neuen Bundesländern widerlegt. Denn trotz eines superbreiten ganztägigen Betreuungs-Angebotes – selbst für Kleinstkinder – ging die Geburtenrate nach der Wende rapide nach unten. Besonders in Schweden und den übrigen skandinavischen Ländern geht die Geburtenrate ebenfalls trotz eines Überangebots an Betreuungsplätzen stark zurück. Demnach haben persönliche Wertsetzungen eine viel größere Bedeutung für eine Entscheidung zum Kind, als das Vorhandensein von Kinderkrippen oder Ganztagsschulen. Wenn jedoch prägende Kräfte in einer Gesellschaft immer noch meinen, Mütter und Väter aus dem vermeintlich engen Korridor zwischen Kinderzimmer und Küche in Richtung Erwerbsarbeit befreien zu müssen, werden so gleichzeitig Kinderinteressen und Erziehungsleistungen torpediert. Kinder brauchen Elternhäuser und keine Verschiebebahnhöfe zwischen öffentlich favorisierter und finanzierter Ganztagsbetreuung und familiärem Nachtquartier.

Wer eine falsche Richtung einschlägt, wird nicht am richtigen Ziel ankommen

Was bei einem durch Hektik geprägten Tagesablauf häufig aus dem Blickfeld gerät: Kinder brauchen zur Entwicklung von Urvertrauen sichere Bindungen und reichlich Beziehungs-Zeit. Ob nun Schmusen und Knuddeln, das Teilen von Freude, Unsicherheit oder Kummer der Anlass ist, es geht um aktuell gesuchte Nähe und Zuwendung. Und diese lässt sich nicht in einer als ‚Quality-Time’ deklarierte abendliche 15 Minuten-Einheit realisieren. Der Impuls des Soziologen und Philosophen Theodor W. Adorno (https://de.wikipedia.org/wiki/11._September1903-1969): „Zeit aber steht für Liebe, nur die Gewalt ist rasch“ regt zur Überprüfung der persönlicher Prioritätensetzung an. Denn er verdeutlicht, dass eine zu knapp bemessene oder nicht auf die Bedürfnisse des Kindes eingehende Zeit im Grunde eine Entwertung offenbart.

So wird von Tag zu Tag deutlicher: ‚Wer Eltern klar zu machen sucht, dass Kindererziehung und Haushaltsführung recht leicht neben einer außerhäusigen Berufstätigkeit ausgeübt werden kann, hat entweder vom jeweiligen Tätigkeits- und Zeitaufkommen keine Ahnung oder huldigt selbst dem Scheinideal, dass nur der Gelderwerb Lebenssinn gibt. Setzt hier kein Kurswechsel ein, geraten noch mehr Kinder mitsamt ihrer vielfältigen Bedürftigkeiten auf den Verschiebebahnhof zwischen Geburts-Elternhaus, Fremdbetreuung und Selbstüberlassung als Ausdruck der nonverbalen Kernaussage: „Du bist mir nicht so wichtig!“ Aber ein Kinderlächeln lässt sich nicht in Gold aufwiegen und es gibt auch keine zweite Chance für originäre Beziehungszeiten mit dem eigenen Nachwuchs.

Die Ganztagsschule als wundersames All-Heilmittel ist komplett gescheitert

Zur Verdeutlichung ein Streitgespräch: „Es liegt an den größeren Trinkgefäßen, anders ist die hervorragende Qualität des Bayrischen Bieres nicht zu erklären“, so die Äußerung eines begeisterten Nordländers. – „Solch einen Quatsch habe ich noch nicht gehört, von Bierhumpen oder Großgläsern auf den Inhalt zu schließen“, meinte ein Gegenüber. „Es muss an der Zusammensetzung und am Brauverfahren liegen. Qualität lässt sich doch nicht durch quantitative Merkmale erklären.“ Aber die Argumente halfen nicht, unser einfältiger Gerstensaft-Fan blieb bei seiner Auffassung. – Dieses Gespräch ist fiktiv. Real sind die unisono zu hörenden Rufe von Politikern unterschiedlichster Richtung: „Ganztagsschulen fördern ein gutes Lernklima und verbessern den Unterricht“. Die stärkste Relativierung dieser „abstrusen Denke“ kam innerhalb der PISA-Folgediskussion per Leserbrief von einem langjährigen Schulleiter: „Was haben wir davon, wenn wir das Elend des Vormittages auch auf den Nachmittag ausdehnen?“

Trotzdem werden die politisch Verantwortlichen nicht müde und betonen fast schon gehirnwäscheartig immer neu, dass Ganztagsbetreuung – am besten direkt nach der Mutterschutz-Zeit – ein wichtiger Bildungsimpuls sei. Dadurch soll einerseits das schlechte Gewissen von Eltern beruhigt werden und andererseits Arbeitskräfte im Wirtschaftkreislauf bleiben. Eine 24 Stunden-Kita beispielsweise ist dann die Krönung eines Kinder-Entsorgungsprojektes, um so rund um die Uhr willige Arbeitskräfte verfügbar zu haben. Das dabei Väter und Mütter ihre wichtige Erziehungsaufgabe vernachlässigen, wird um des Profits willen in Kauf genommen. Es stimmt schon bedenklich, dass für Hunde ein rechtlich geregelter Welpenschutz existiert, bis zu welchem Zeitpunkt sie nicht vom Muttertier getrennt werden dürfen, aber über eine Babyschutzzeit wohl noch nicht nachgedacht wurde. Alle Kinder – besonders die ganz Kleinen – benötigen präsente Väter und Mütter, welche erfüllende Beziehungs-Zeiten garantieren.

Schule als Ort des Erlernens von Bildung oder als Ganztags-Parkplatz für Kinder?

Wenn eine Ganztagsschule eine sinnvolle Ergänzung zum Halbtagesbetrieb und kein Etiketten-Schwindel sein soll, dann müsste als erstes ein pädagogisches Gesamtkonzept erarbeitet werden, in welchem die Eltern als aktive Partner verpflichtend einzubinden wären, um den erzieherischen Kurs festzulegen. Der häufige Hinweis, dass dies doch entfallen könne, weil in der Schule schließlich speziell ausgebildete Kräfte seien, belegt Kurzsichtigkeit. Denn Fachlichkeit sagt nichts darüber aus, von welchem Grundverständnis erzogen wird und welche Werte dabei nicht oder doch eingebracht werden. Lehrer können ihren Unterrichtsstoff meist gut vermitteln, evtl. auch besser Konflikte oder Motivationsprobleme lösen. Aber gerade die Schule der 68er hat über Jahrzehnte unter dem Vorzeichen von Fachlichkeit deutliche Spuren eines fragwürdigen Wertebewusstseins hinterlassen. Wenn hier kein Konsens angestrebt und gefunden wird, rutscht Deutschland noch mehr in eine konturlose öffentliche Erziehung.

„Schule ist nicht alles, aber ohne gute Schulleistungen ist vieles Nichts.“ Auch wenn der Satz recht salopp Realitäten auf den Punkt bringt, lustlos dahindümpelnde Schüler wird er nicht aus der Reserve locken. Als ganzheitliche Wesen können sie weder als abgekoppelt von den Primär-Erfahrungen ihres – wie auch immer wirkenden – „Zuhause“ und den übrigen Bezugsfeldern gesehen werden, noch mutieren sie am Schultor zu frei programmierbaren Festplatten unterschiedlichster Inputgeber. Wer Schülern im Dreiviertel-Stunden-Takt verschiedenste Mixturen einer curricularen Rezeptur zumutet, sollte sich nicht über „Wort-Durchfall“ beziehungsweise „Verschluss-Symptome der Hirnwindungen“ wundern. Und je unsicherer die Zukunft von jungen Menschen gesehen wird, weil die Familienverhältnisse instabil, die Berufsaussichten trübe und der Lebensraum unter ökologischen Gesichtspunkten düster erscheint, je unsinniger muss es dem Einzelnen vorkommen, mit Elan, Freude und Power – kurz: „motiviert“ – auf diese Zukunft hin in der Schule lernen zu sollen.

Entscheidende Fragen sind weiterhin offen?

Weiterhin ist offen, wo die Diskussionen über die nun notwendigen Erziehungsfragen im Zusammenwirken von Eltern und Schule stattfindet. Soll der Nachmittag eine bloße Beaufsichtigungszeit sein? Dann wären auch arbeitslos gewordene Parkplatzwächter in Pausenhallen einsetzbar. Will Schule jedoch wirklich nachmittags ein pädagogisch qualifiziertes Freizeitprogramm durchführen, mit welchen Fachkräften? Aber vielleicht ist dies ja entbehrlich, weil Eltern ihre Kinder möglichst umfangreich und fraglos der Schule einfach nur überlassen wollen? Und wenn dann die Noten den elterlichen Vorstellungen nicht entsprechen sollten, dann kann ja immer noch per Rechtsanwalt ein gutes Abitur erfolgreich eingeklagt werden, wie unlängst durch die Mitwirkung einer Schulaufsichtbehörde geschehen.

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