Sozialsystem

Get Well Soon!

15.10.2013 - Goran Vidovic

Seit Monatsbeginn legt der „Shutdown“ eine große Nation lahm. Der Streik im öffentlichen Sektor der USA sorgt für einen Marathon der Hiobsbotschaften.

Am Anfang war der Strei k/t
Seit dem 1. Oktober liefern sich Demokraten und Republikaner einen unerbittlichen Debattenkampf um die Einführung eines für jeden Bürger zugängliche Krankenversicherungssystems. Die Entschlossenheit eine endgültige Entscheidung treffen zu wollen ist dadurch gekennzeichnet, dass der größte Teil staatlicher Mitarbeiter in den unbezahlten Urlaub geschickt wurde, bis eine Lösung verabschiedet wird. Dieser sogenannte „Shutdown“ entzieht dem Staat nahezu alle Handlungsmöglichkeiten. Der Status-Quo ist in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage des Landes äußerst problematisch.


Nicht doch…

Bevor an dieser Stelle schon der Eindruck entsteht: „Oh, nicht noch ein amerikakritischer Artikel!“, ist womöglich ein kleiner historischer Exkurs nötig, um den wahren Kern ein wenig anzudeuten:
Während in vielen europäischen Staaten ausgiebig über Zuwanderung, Migration und daraus resultierende Gefahren debattiert wird, baut das Wesen der US-amerikanischen Nation von den ersten Tagen an auf Migration auf. Vor wenigen Monaten sagte Barack Obama, die Stärke der Vereinigten Staaten von Amerika baue auf der Vielfalt der Kulturen, die zu einer Einheit verschmolzen seien. US-Bürger zu sein bedeutete und bedeutet US-Amerikaner zu sein, unabhängig von Herkunft oder Abstammung.

Für viele Menschen symbolisierten die USA das gelobte Land, das Land, in dem man den amerikanischen Traum leben konnte. Selbst die Traumfabrik Hollywood sorgte für einen exzessiven Kulturexport und repräsentierte einen weltweit gültigen Maßstab für Unterhaltung, Werteordnung und eine globale Einheitssprache. Denn so sehr die Verbreitung der englischen Sprache dem Kolonialismus und dem British Empire zu verdanken ist, um so mehr ist es der wachsenden geopolitischen Relevanz der USA zu verdanken.

Die Wende
Seit dem Vietnamkrieg stieg die Kritik am föderalistischen Kulturexportweltmeister. Mit der Wende und dem Ende des Kalten Krieges, begann ebenfalls die Wende für Washington. Mit dem Wegfall der Sowjetunion, gelang es den USA für einige Jahre die Position einer Supermacht einzunehmen. Dieses Alleinstellungsmerkmal verschaffte darauffolgenden US-Politikern freie Handlungsvollmacht, geprägt von zahlreichen Militärinterventionen. Die Popularität der USA erreichte einen historischen Tiefpunkt.


Wohin führt nun die Reise?
Auch die Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrisen, ob bezogen auf die Finanzmärkte oder die Eurozone, sind ebenso in Spekulationen und einem maroden Immobilienmarkt an der Wall Street zu suchen.
Besorgniserregend ist die bereits im letzten Jahr in Washington beschlossene Lösung für das Schuldenproblem: die Schuldengrenze ist aufgestockt worden; eine etwaige Aufstockung steht auch aktuell zur Diskussion. Mehr oder weniger überraschender Weise schraubten kurz darauf US-amerikanische Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit der USA hoch.
Ausgerechnet jetzt verhandeln Demokraten und Republikaner unerbittlich über die mögliche Etablierung eines Sozialwesens und einer Krankenversicherungspflicht. Beide Seiten sind fest entschlossen, nicht von ihrem Standpunkt abzuweichen. Solange nicht entweder die von Demokraten geforderte Krankenversicherungspflicht oder die von Republikanern erwartete Ablehnung des Vorschlages befürwortet wird, wird der Shutdown die Lahmlegung des Landes gewährleisten. Rechtlich wirkt sich dies wie ein Generalstreik im öffentlichen Sektor aus; der Unterschied dabei ist, dass Beamte und staatliche Bedienstete, mit wenigen Ausnahmen wie Parlamentariern, vom Arbeitgeber in unbezahlten Urlaub geschickt werden. Ob inländische Verwaltung, Gerichtsbarkeit, öffentliche Tourismuseinrichtungen wie die Nationalparks, Auswärtiges Amt und laufende Visaanträge oder Armee, es sind zurzeit kaum bis keine Handlungen zu erwarten.

Konservativismus, Krankenversicherer, Kompromiss
Zusammengefasst geht es nicht um den Shutdown, sondern um die aktuelle Debatte bezüglich der Krankenversicherung; der Shutdown dient dabei als Entscheidungsdruckmittel. Es ist zwar ungewöhnlich, dass eine Diskussion in einer Wohlstandsnation über die soziale Absicherung seiner Bürger überhaupt notwendig ist, nichtsdestotrotz steht jegliche Verpflichtung seitens des Staates im Widerspruch mit der US-amerikanischen Verfassung; die einzige Ausnahme stellt dabei die Fiskalpolitik dar und noch bis 1973 die Wehrpflicht. Auf diesem Widerspruch beharren ebenfalls Republikaner, und insbesondere Ultrakonservative der Tea-Party-Bewegung. Zudem wird befürchtet, dass die Krankenversicherer mit der Neuregelung überfordert werden könnten, da sie zur Annahme eines jeden Antragstellers verpflichtet wären, unabhängig von seinem Gesundheitszustand. Somit stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit eines staatlich angeordneten Krankenversicherungssystems in einem verschuldeten Land, das zunehmend in wirtschaftliche und folglich auch in politische Abhängigkeit von ausländischen Kreditgebern wie etwa China gerät. Ohne die Ausgangslage des Mittelstands der USA mit der des Mittelstands Russlands vergleichen zu wollen oder überhaupt zu können, sind die deutlich gestiegene geopolitische Relevanz Moskaus, die Verschuldung gegenüber China und teilweises Outsourcing von Arbeitsplätzen Grundpfeiler der Schwächung der Vereinigten Staaten. Letzteres wird schon dadurch verdeutlicht, dass selbst der ehemalige US-Präsidentschaftskandidat John McCain, sogar während der Wahlkampagne, mit Investitionen in den Aufbau von Arbeitsplätzen in China Schlagzeilen machte. Auch in anderen zukunftsrelevanten Fragen sinkt die Zahl neidischer Blicke auf den Staatenbund zwischen Pazifik und Atlantik. Das Bildungssystem beispielsweise gilt als überholt und insbesondere finanziell angeschlagen.

Get well soon!

Aus US-Sicht dürften diese Ausführungen apokalyptisch erscheinen. Sie sind dennoch nicht zu bestreiten. Aber es erinnert auch an das Sprichwort „Todgesagte leben länger“. Und ein weltpolitisches Gleichgewicht braucht die USA, so wie die Gegenüberstellung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion während des Kalten Krieges für eine politische Balance sorgte.

Es gilt nichts zu verschweigen: Korea- und Vietnamkrieg, Rassismus, Stellvertreterkriege, Umweltbelastung, Vorwurf des Raubtierkapitalismus und Neoimperialismus, Vielzahl an militärischen Alleingängen und Spionageaffären. Die Geschichte der USA beginnt jedoch deutlich früher. Den Gründervätern ging es um die Kreierung einer neuen Heimat für die Menschen, deren Grundrechte im Alten Kontinent bedroht waren, auf der Grundlage einer damals revolutionären freiheitlich-demokratischen Grundordnung und inspiriert von den Ideen der französischen Revolution. Seit jener Zeit zählten die Vereinigten Staaten zum Ziel derer, die auf der Suche nach Freiheit und einer neuen Chance waren, wo auch immer sie herkamen. Diese Ideale verdienen eine besondere Wertschätzung und verdienen die Aufrechterhaltung.

Betrachten wir somit die Vereinigten Staaten von Amerika als einen momentan handlungsunfähigen Patienten und wünschen eine gute Besserung: baldiges Ende des Shutdowns und ein Sozialsystem, das dem 21. Jahrhundert entspricht. Verfolgt die Debatte wirklich die Gewährleistung der medizinischen Versorgung von US-Bürgern oder wird hier mit allen Mitteln primär die Lobby der Krankenversicherer geschützt? In diesem Sinne:

 

Get well soon!

 

 

 

 

Foto: © Francisco Diez

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