Israelischer Journalist im Interview

Gideon Levy: "Israel ist besatzungssüchtig"

01.01.2016 - Bele Krüger

Er ist ein harter Kritiker der israelischen Siedlungspolitik in Palästina. Kürzlich erschein sein neues Buch „The Punishment of Gaza“. DAS MILIEU sprach mit dem Journalisten Gideon Levy.

 

DAS MILIEU: In den letzten Monaten kam es zu einer neuen Terrorwelle in Israel. Die Ursache dafür ist laut Medienberichten ein Aufflammen des Streits um die al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem. Was ist Ihrer Meinung nach der Hintergrund der Vorfälle?

Gideon Levy: Es geht hier nicht um Terror durch radikale Islamisten oder religiöse Angelegenheiten. Es geht um nichts anderes, als sich der Besatzung zu widersetzen. Das ist alles. Das ist der Kern der Geschichte.

DAS MILIEU: Obwohl die Besatzung palästinensischer Gebiete durch Israel nach dem Völkerrecht illegal ist, dauert sie mittlerweile 48 Jahre an. Zuvor war Palästina lediglich 19 Jahre lang „frei“. Bis 1948 gehörte es zum britischen Mandatsgebiet, vor 1917 zum Osmanischen Reich. Inwiefern ist es angesichts dieser Bilanz naiv die Besatzung als etwas Vorübergehendes zu betrachten?

Gideon Levy: Es ist sehr naiv, denn Israel hat kein Interesse daran, die Besatzung zu beenden. Und solange die internationale Gemeinschaft Israel nicht zwingt, wird sich das auch nicht ändern. Genau deswegen ist sie nicht temporär. Es wird weiter so bleiben, wie es ist, solange Israel die Gelegenheit dazu hat.

DAS MILIEU: Einige jüdische Siedlungen liegen nicht einmal 30 Autominuten von den Wohnstätten der Palästinenser entfernt. Von dem alltäglichen Desaster dort erfahren die meisten Israelis jedoch nur sehr wenig. Warum?

Gideon Levy: Weil sie es nicht wissen wollen. Weil es eine Gesellschaft ist, die es verleumdet. Wüssten sie was sich dort abspielt, würden sich viele legale und moralische Fragen aufwerfen. Deswegen versucht man, nichts zu wissen, nichts davon zu hören und nicht dort zu sein. Wie so viele glauben auch die Israelis: Wenn man nichts davon weiß, existiert es nicht.

DAS MILIEU: Was ist der wichtigste Fehler im israelischen Denken?

Gideon Levy: Es gibt viele, aber der wichtigste ist, dass man die Palästinenser nicht als gleichwertige menschliche Wesen sieht. Wenn die Israelis die Palästinenser als gleichwertig ansehen würden, wären alle anderen Probleme viel einfacher zu lösen.

DAS MILIEU: Laut der Anwältin und Friedensaktivistin Huwaida Arraf gibt es in Israel über 50 Gesetze, die in Ihrer Anwendung Palästinenser diskriminieren, etwa das Einwanderungsrecht. Entspricht das noch dem Geist westlicher Demokratie?

Gideon Levy: Es ist ein Irrtum, dass man annimmt Israel sei eine Demokratie. Israel ist eine Demokratie – aber nur für seine jüdischen Bürger. Ansonsten ist es ein Regime, das palästinensische Bürger diskriminiert oder ein Apartheidsregime für die Palästinenser, die unter der Besatzung leben. So gesehen wäre Israel eine halbe Demokratie. Aber so etwas wie eine halbe Demokratie gibt es nicht. Man kann auch nicht halbschwanger sein. Entweder man ist schwanger oder man ist es nicht. Entweder man ist eine Demokratie oder man ist keine. Jeder der glaubt, Israel sei eine Demokratie, kennt die Fakten nicht.

DAS MILIEU: Der ehemalige israelische Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Schimon Peres hat einmal gesagt: „Die schwere Entscheidung ist niemals eine strategische. Es ist eine ethische. Es gibt etwas das über der Strategie steht. Und das ist die Moral. Das ist der Punkt an dem Frieden oder Krieg beginnt, der Punkt an dem über das Leben von Menschen entschieden wird.“ Welche Bedeutung hat diese Aussage heute?

Gideon Levy: Das sind sehr schöne Worte, aber sie sind total hohl und leer, wie die meisten Worte von Peres. Dieser Mann ist für die Besatzung nicht weniger verantwortlich als andere. Er hat nichts getan, um das kriminelle Projekt, das sich israelische Besatzung nennt zu beenden.

DAS MILIEU: Seit Jahrzehnten gibt es Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern. Bislang hatten diese Bemühungen keinen dauerhaften Erfolg. Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Zukunft?

Gideon Levy: Keine. Jetzt gerade gibt es keine Möglichkeit. Denn Israel hat kein Interesse daran, die Besatzung zu beenden. Und solange sich das nicht ändert, wird kein Friedensgespräch irgendwohin führen. Der nächste Schritt wird nicht aus Israel selbst kommen. Den nächsten Schritt muss die internationale Gemeinschaft machen – und zwar mit Druck. Aber nichts deutet darauf hin, dass der nötige Druck in nächster Zeit ausgeübt wird, jedenfalls kein wirklicher. Und genau der wird hier gebraucht.

DAS MILIEU: Welche Bedeutung haben die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Israel und dem Westen in der Besatzungsfrage?

Gideon Levy: Israel ist besatzungssüchtig. Und der Westen versorgt Israel mit Geld, das ausgegeben wird, um die Besatzung zu finanzieren. Das ist keine Freundschaft.

Sagen wir, ein Freund oder Verwandter ist drogenabhängig. Es gibt zwei Wege, wie man die Situation handhaben kann. Die erste Option ist, ihm Geld zu geben. Er wird sehr dankbar sein. Aber man ist kein wahrer Freund, denn man sorgt sich nicht wirklich um ihn. Die andere Möglichkeit ist, ihn zu einer Rehabilitationsanstalt zu schicken. Er wird sehr wütend sein. Aber das ist wirkliche Fürsorge, das ist wahre Freundschaft.

Der Westen spielt die ihm zugedachte Rolle nicht. Und genau das ist das Problem an der Sache. Aufgabe des Westens ist es, die Besatzung zu beenden, genauso wie der Westen des Apartheidsystems in Südafrika beendet hat.

DAS MILIEU: Am 11. November wurde von der EU die Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln und Kosmetika aus jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten beschlossen. Sie dient der Umsetzung einer Richtlinie zum Verbraucherschutz, hat aber natürlich auch eine politische Komponente. Bis zu einer Neubewertung der Angelegenheit will Israel die EU nicht länger als Vermittler anerkennen. Wie beurteilen Sie das Geschehen?

Gideon Levy: Die Angelegenheit ist lächerlich. Die Lebensmittelkennzeichnungspflicht als solche ist lächerlich. Es ist ein Minimum von dem, was die EU hätte tun sollen. Die Europäische Union hätte viel weiter gehen müssen als das. Die Kennzeichnung ist nicht das Recht der Union, es ist ihre Pflicht. Die Konsumenten in Europa müssen wissen, wo und unter welchen Umständen etwas hergestellt wurde. Wenn etwas auf gestohlenem Land angebaut wurde, dann hat jeder Konsument ein Recht darauf, das auch zu erfahren. Das ist das absolute Minimum. Davon abgesehen kann Israel der EU in keiner Weise drohen, denn Israel ist viel stärker von der EU abhängig als die EU von Israel.

DAS MILIEU: Wenn es um Kritik an der Politik Israels geht, steht schnell der Vorwurf des Antisemitismus im Raum …

Gideon Levy: Kritik und Antisemitismus sind zwei grundlegend verschiedene Sachen. Die meiste Kritik gegen Israel bezieht sich ausschließlich auf die Besatzungspolitik. Für Israel ist es natürlich sehr bequem diese als Antisemitismus auszuzeichnen, aber das ist lächerlich, denn sogar Freunde Israels üben Kritik. Zu Recht, denn Israel liefert Gründe dazu.

DAS MILIEU: Herr Levy, vielen Dank für das Interview!

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