
Glanz und Grösse. Der Aufbruch Europas 1648–1815
01.02.2023 -“Die Natur und ihre Gesetze waren in Nacht gehüllt;
Gott sprach: Es werde Newton! Und alles ward lichterfüllt”
(Alexander Pope für Newtons Grabplatte in der Westminster Abbey)
Tim Blanning, emeritierter Professor an der Universität Cambridge, hat ein voluminöses Buch über 150 Jahre europäischer Geschichte vorgelegt. Die/der Leser*in muss allerhand Geduld aufbringen, sich die Fülle des von ihm aufbereiteten Materials anzueignen. Dies auch deshalb, weil Blanning sehr ins Detail geht, was den Überblick über die großen Gesamtthemen dieser Epoche bisweilen doch erschwert.
Attraktiv ist bei Blannings Buch, dass der Autor keine rigide Chronologie vorlegt, sondern seine Zeitepoche unter vier großen inhaltlichen Themen präsentiert:
1. Leben und Sterben
2. Macht
3. Religion und Kultur
4. Krieg und Frieden
In Teil 1 “Leben und Sterben'' zeigt Blanning die eindrucksvolle Erweiterung der Verkehrslinien auf der Straße und auf dem Wasser. Die Qualität der Landstraßen nahm eindrucksvoll zu, so dass sich z. B. die Fahrzeit zwischen Manchester und London von 90 Stunden im Jahr 1700 auf nur noch 33 Stunden im Jahr 1800 verkürzte. Auf schiffbaren Wasserstraßen wiederum wurden Passagiere und beförderte Güter nicht mehr abhängig von der Änderung der Gezeiten und auch weniger von der Unberechenbarkeit des Wetters überhaupt. Die wachsende Beliebtheit von Uhren trug das ihre dazu bei, dass Reisen besser planbar wurden. Und schließlich ermöglichte die Qualitätsverbesserung im Postwesen, dessen Netzwerk sich über ganz Europa erstreckte, Kommunikation für immer mehr Menschen. Briefe Schreiben wurde eine große Mode, die sogar Briefschreib-Lehrbücher hervorbrachte.
Natürlich gab es in dieser Epoche auch allerhand Schattenseiten. Hungersnöte, Kriege und Seuchen waren eine allgegenwärtige Bedrohung für die Bevölkerung.
Auch wenn es im "industriellen" Sektor einige bahnbrechende Neuerung gab wie z. B. die Dampfmaschine, den Beginn von Eisenbahnproduktion und erste Vorläufer der späteren Eisenbahnen, lag der Schwerpunkt des Arbeitens jedoch in der Landwirtschaft. In diesem Sektor waren nicht nur Herausforderungen für das Ertragswesen im engeren Sinne zu überwinden (z. B. durch eine sinnvollere ertragreichere Bewirtschaftung der zur Verfügung stehenden Ackerfläche bzw. durch den Einsatz neuer Nutzpflanzen wie Mais und Kartoffeln). Die arbeitende Bevölkerung sah sich auch mit Herrschaftsinstrumenten wie Leibeigenschaft oder der Abgabe des Ertragszehnten (gegenüber dem Klerus) konfrontiert.
Im 2. Teil “Macht” stellt Blanning zunächst Louis XIV. als Personifizierung der absoluten Monarchie dar, behandelt aber auch andere Monarchien wie z. B. Preußen (mit fortschrittlicher Bürokratie und Habsburg). Diesen gefestigten Monarchien stand der Abstieg des "Heiligen Römischen Reichs" gegenüber, das sich gegen das Machtstreben und die Karriere Napoleons nicht mehr behaupten konnte.
Das Schlüsselwort im damaligen politischen Diskurs war zweifellos die Nation: Die Völker definierte sich stärker im „Anders Sein“ gegenüber anderen “Nationen”. In der Französischen Revolution fanden dann mancherlei bereits schon vor 1789 vorhandene Instabilitäten ihren Ausbruch, wobei die Proklamation der Menschenrechte, der Code Civile Napoleons und die Aufstellung eines eigenen “Rvolutionsheeres” sicherlich mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht sogar bedeutsamer waren als die Abschaffung der Monarchie.
Im 3. Teil "Religion und Kultur” geht Blanning der Bedeutung des Papsttums und der Jesuiten ins “seiner” Epoche nach, gibt aber auch gute Überblicke zu Hume, Kant, Montesquieu, Voltaire. Ebenso ausgiebig wird die Architektur der Paläste und Gärten (zum Beispiel Versailles) geschildert. Die meisten von ihnen waren vom französischen Stil dominiert, aber in der Habsburger Monarchie gab es dazu auch Alternativen. Und Blanning gibt auch einen Einblick in die zahlreichen makabren (Jagd)Vergnügungen des Adels.
In diesem dritten Teil führt Blanning die interessante Kategorie der Gefühlskultur ein: Ein sich bildender Gegenpol zur Vernunftkultur, die zunächst mit Newtons Physik und Diderots Enzyklopädie einen imposanten Sieg zu erringen schien. Vertreter der Gefühlskultur, wie z. B. Goethe und Rousseau widersetzen sich aber dieser Hochschätzung der Vernunft, indem sie Glauben, Intuition und Dichtung in den Vordergrund ihres Denkens stellten.
Musikalischer Höhepunkt der Gefühlskultur ist zweifellos das Opus von Johann Sebastian Bach.
Maßgebend für die Epoche war auch das rasche Anwachsen von lesekundigen Menschen. Der Roman wurde zum maßgeblichen Kategorie der Dichtkunst und in England waren eine wichtige Institution beim öffentlichen Diskus dieser Zeit zweifellos die sog. “Kaffeehäuser”, wo man frei diskutierte, kritisierte und auch schimpfen konnte.
Der 4. Teil “Krieg und Frieden” wird von den politischen und militärischen Ereignissen zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Wiener Kongress geprägt. Wichtigster Akteur ist hier Frankreich, sein Aufstieg als Hegemonialmacht, sein Niedergang im Zuge des Spanischen Erbfolgekrieges, schließlich nochmals ein Aufstieg unter Napoleon, der aber auch nicht von Dauer war.
Aber auch im Norden (Nordischer Krieg) und im Osten Europas (Polnische Teilungen) drückte kriegerisches Geschehen der Epoche ihren Stempel auf. Dankenswerterweise belässt es Blanning in diesem vierten Teil nicht bei dem Aneinanderreihen der militärischen Ereignisse, sondern erhellt das militärische Geschehen z. B. durch Analysen des finanziellen Aspektes der damaligen Kriegsführung.
Blanning zieht in seiner Bucheinleitung und in seinem Schlusskapitel ein in mehreren Dimensionen angelegtes Resümee seiner vorgestellten Epoche. Davon sollen zwei hier genannt werden:
Der Aufstieg von Rationalismus und Säkularisierung in einem bisher unbekannten Maße (die das bis dahin vorherrschende theozentrische Weltbild ablösten).
Eine Neujustierung des europäischen Staatensystems, das an die Stelle von Napoleons rigoroser Machtpolitik (und dessen Sackgassen) tritt.
Innenpolitisch sieht Blanning zwei mögliche Narrative für die von ihm behandelte Epoche Zum einen ein konservatives pessimistisches Narrativ, das den Schwerpunkt auf die alten beharrenden Kräfte legt: Leibeigenschaft und Sklaverei, Aberglaube und Herrschaft der grundbesitzenden Eliten. Die Staaten wurden despotischer, die Kriegsführung barbarischer.
Im Kontrast dazu kann man auch ein progressives optimistisches Narrativ vertreten: Das Ende des Festhaltens der Erde als Mittelpunkt der Welt, das Anwachsen von Bildung und Kommunikationsmöglichkeiten, Wirtschaftsaktivitäten, die französische und die amerikanische Revolution.
Nach Blannings Ansicht kann keines dieser beiden Narrative in seiner Ganzheit Gültigkeit beanspruchen und er überlässt es somit dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Tim Blanning hat eine imposante Publikation vorgelegt. Die Fülle des dargestellten Materials ist eindrucksvoll und kann bisweilen die/den Leser*in überwältigen. Immer wieder spürt man die Freude des Autors am Erzählen und man kann sicher sein: Blanning könnte noch mehr erzählen, wenn ihn der Verlag gelassen hätte.
Diese immense Stofffülle ist allerdings auch ein Einwand bei diesem Buch. Denn bisweilen fragt man sich: Für wen hat Blanning eigentlich geschrieben? Für seine geschichtswissenschaftlichen Kolleg*innen wohl eher nicht, denn wer könnte eine derartige Detailfülle noch überbieten. Wenn es aber für Leser*innen gedacht ist, die sich über die dargestellte Epoche in allgemeiner Art informieren wollen, dann tragen die immens vielen Einzelheiten eher zur Verwirrung als zur Klärung bei. Da wäre es gut gewesen, wenn Blanning im Laufe des Buches mehr Zusammenfassungen verfasst hätte, mit der die Faktenfülle für die/den Leser*in sinnvoll gebändigt worden wäre.
Zwar ist es durchaus positiv zu vermerken, dass Blanning nicht einfach krude chronologisch vorgeht, sondern vier Themenbereiche präsentiert (vgl. das oben dazu am Anfang der Besprechung Gesagte). Aber auch bei dieser thematischen Aufschlüsselung der behandelten Epoche bleibt noch eine erhebliche Faktenfülle, in der der Leser etwas verloren hindurch navigieren muss. Das ist bedauerlich, denn die Wörter des Titels “Glanz, Grösse und Aufbruch” suggerieren doch, dass Blanning der von ihm vorgestellten Epoche eine herausgehobene Qualität zumisst. Diese Kategorien nicht in kleinere, den Gesamtzusammenhang gut charakterisierende Teilabschnitte vorzustellen, ist leider ein Defizit des Buches. Dabei fehlt es Blanning keineswegs an Zwischen-Überschriften, die durchaus zahlreich sind. Aber sie kommen mehr enzyklopädisch und ohne stringenten Zusammenhang daher.
Trotz dieses mehr didaktischen Einwandes liegt hier ein eindrucksvolles Werk vor, das rund 150 Jahre wichtiger Europäischer Geschichte in einer atemberaubenden Faktenfülle abhandelt. Wer immer sich für diesen Zeitraum interessiert, und seien es auch nur Teilaspekte, wird Gewinn aus Blannings Buch ziehen. Am besten kann das gelingen, wenn er/sie sich ausgewählten Einzel-Themen zuwendet, an denen in diesem Buch kein Mangel herrscht. Auch wenn ein solches Vorgehen vielleicht den Intentionen des Autors nicht exakt entspricht, ist es vielleicht besser geeignet, als an der Fülle des Materials zu scheitern.
