Eine Frage des MILIEUs

"Haben wir Religion falsch verstanden?"

01.11.2020 - Prof. Heinrich Watzka

Nach der brutalen Ermordung des Lehrers Samuel Paty am 16. Oktober in einem Pariser Vorort ist das Gewaltpotential der Religion, oder besser die Gefahr, die von religiös motivierten Tätern und ihren Unterstützern ausgeht, erneut ins Bewusstsein gerückt. Der Geschichtslehrer hatte seinen Schülern Mohammed-Karikaturen aus dem Satiremagazin „Charlie Hebdo“ gezeigt und damit eine Hetzkampagne im Internet losgetreten, die zu seiner rituellen Hinrichtung führten. Viele befürchteten eine Wiederholung der Gewaltexzesse, die am 7. Januar 2015 ihren Höhepunkt erreicht hatten, als mehrere Bewaffnete die Redaktionsräume von „Charlie Hebdo“ stürmten und elf Menschen töteten, darunter vier Zeichner des Magazins. Die Politiker beteuern, diesmal unnachgiebig die Werte der Republik und der Meinungsfreiheit zu verteidigen und den islamistischen Gruppen die Basis zu entziehen.

Die im säkularen Rechtsstaat menschenrechtlich verankerte positive und negative Religionsfreiheit, sowie die Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit beinhalten die Freiheit zur Religionskritik, nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit literarischen und journalistischen Stilmitteln wie Polemik, Satire und Karikatur, die vor dem Anprangern, Schmähen und Verspotten nicht Halt machen. Die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit ergeben sich aus dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht. Allerdings zieht die Kunstfreiheit dem Persönlichkeitsrecht enge Grenzen.

Älter als die verfassungsrechtlich verankerte Religionsfreiheit ist das Verbot der Gotteslästerung (Blasphemie). Waren die Gläubigen, die Theologen und die Lenker der Staaten bis zur Schwelle der Aufklärung davon überzeugt, dass Gott nicht mit sich spotten lasse und die Lästerung seines Namens umgehend mit Hungersnöten, Erdbeben und Seuchen strafe, so fürchten wir im 21. Jahrhundert nicht mehr die Rache Gottes, aber den Zorn seiner fanatisierten Anhänger. Der „Blasphemieparagraph“ § 166 des deutschen Strafgesetzbuchs in der Fassung vom 01.04.1987 (der selbstverständlich nicht mehr so heißt) argumentiert mit der „Störung des öffentlichen Friedens“, die von der „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ ausgehen könnte. Der Gesetzgeber lässt unbestimmt, wer die Störer sind? Stören die Künstler, Karikaturisten, Journalisten, die unter der Berufung auf die Kunst-, Meinungs- und Pressefreiheit kalkuliert Grenzen überschreiten, oder stören die Gläubigen, die sich durch eine Karikatur, eine Filmszene, eine Satire oder ein Werk der bildenden Kunst in ihren religiösen Gefühlen zutiefst verletzt sehen und auf Gegenwehr sinnen?

Religiöse Menschen sind in einer Kultur, die alles relativiert und kritisiert, ins Hintertreffen geraten, stehen sie doch für etwas ein, das über jede Kritik erhaben und heilig ist. Vor allem trachten sie danach, „sich dieses Heiligen ihrerseits als würdig zu erweisen“ (Hans-Joachim Höhn). Je mehr für die Gläubigen die Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft oder einem religiösen Bekenntnis zu einer Frage ihrer Identität geworden ist, je mehr werden sie die ironische Herabsetzung oder Kritik ihrer Symbole und zentralen Inhalte als Herabwürdigung ihrer Person und als ehrabschneidend empfinden. Die neue Furcht vor der Blasphemie ist also keine Furcht vor dem Zorn Gottes, vielmehr die Furcht vor zornigen (Über-)Reaktionen seiner Gläubigen.

„Gott braucht nicht geschützt werden“, so Robert Spaemann (Beleidigung Gottes oder der Gläubigen?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07.2012). „Er ist es, der schützt. Geschützt werden aber müssen Menschen, denen es um Gott geht. Menschen, die an Gott glauben. Sie sind es, die durch Religionsbeleidigung beleidigt werden, und zwar schwerer und tiefer als durch Beleidigung ihrer Person.“ Die Würde jener Gläubigen, die sich die Herabwürdigung ihrer Religion nicht gefallen lassen, wiegt ebenso schwer wie die Freiheitsrechte derer, die in säkularen Medien, in Wissenschaft und Kunst tätig sind. Spaemann lässt keinen Zweifel daran, dass das Mittel der Gewalt für Gläubige nicht einmal als ultimaratio in Frage kommt. Christsein, so Spaemann, schließe zwar die prinzipielle Bereitschaft ein, das Bekenntnis zu Gott und zu Jesus mit dem Tod zu bezahlen, „allerdingsmit dem eigenen Tod, nicht mit dem eines anderen“.

Ich lese in diesem Semester mit meinen Studenten Immanuel Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, die 1793 erschien und einen Skandal verursachte. 1794 flatterte ein Schreiben der preußischen Zensurbehörde auf seinen Schreibtisch, in dem man ihm vorwarf, dass er seine Philosophie zur „Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums“ missbraucht habe. Aber auch von Seiten seiner Philosophenkollegen schlug ihm Erstaunen und Ablehnung entgegen, unterzog er doch in seiner Religionsschrift ausgerechnet die Grundlehren des Christentums – Erbsünde, Christologie, Lehre von der Kirche und den Letzten Dingen, Rechtfertigung und Gnade – einer philosophischen Relecture und stellt sie als etwas Vernünftiges hin. Für Kant gibt es einen reinen Vernunftglauben, der dem Inhalt nach mit dem moralischen Gesetz bzw. dem Handeln aus Pflicht, d.h. der Tugend, und dem Glauben an Gott als dem moralischen Welturheber und die sichtbare Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit dem Ideal eines moralischen Reiches Gottes auf Erden zusammenstimmt.  Kant lässt keinen Zweifel daran, dass Gott allein durch moralisches Handeln und Herzensbildung gedient sein will, aber nicht durch Pflichten, die aus einer gesonderten „Offenbarung“ abgeleitet werden können. Letztere gelten ihm als „Afterdienst (cultusspurius)“ und „Religionswahn“, wonach das, was als Mittel der moralischen Besserung durchgehen könne, als ihr alleiniger Zweck gelte.

Ein gängiges Vorurteil lautet, dass die islamische Welt zu keinem Zeitpunkt ein Pendant zur westlichen Aufklärung durchlaufen habe, ja dass dem Islam jegliche Form der Aufklärung wesensfremd sei. Der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hat zeigen können, dass die islamische Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts eine Aufklärungstradition kennt, die durch die Rezeption der „europäischen“ Aufklärung durch muslimische Gelehrte des 19. Jahrhunderts bestätigt und verschüttet worden ist. In den mystischen Traditionen des Islams (Sufismus), angefangen mit dem Philosophen und Mystiker IbnˁArabī(1165-1240), finden sich Elemente einer autochthonen Aufklärung, die die Merkmale der Verinnerlichung mit denen der Religionskritik verbindet.

Die Idee einer „natürlichen Religion als Moral“ (Kant) lebt in der Gegenwart als Zivilreligion (civilreligion) fort. Für Niklas Luhmann bezeichnet die „Zivilreligion“ Mindestelemente eines quasi-religiösen Glaubens, für den sich bei allen Mitgliedern einer aufgeklärten Gesellschaft Konsens unterstellen lässt, z.B. die universelle und ungeteilte Geltung der Menschenrechte, die extensive Beteiligungs- und Teilhaberechte einschließen, Ausschluss jeglicher Art von Diskriminierung, Solidarität mit den Opfern, Anspruch auf Lebensqualität und Diversität, Erhalt der natürlichen Umwelt. Die Zivilreligion koexistiert prächtig mit der verfassten Religion und dem Konfessionsglauben, sie sorgt jedoch dafür, dass sich dessen Gehalte verwässern und neutralisieren. Die Hölle wird abgeschafft, der Himmel wird inklusivistisch und diesseitig, Riten und Symbole werden zu Konsumgütern, die spirituelles Wohlbefinden schaffen, Gebet wird zur Meditation, verändernde Praxis ersetzt Orthodoxie.

Der zivilreligiöse Konsens verlangt zu Recht, die Würde von Kindern, Frauen, Homosexuellen, sexuell Diversen, Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Beeinträchtigungen zu achten. Witze über Juden, Frauen, Schwarze, Schwule sind auch im Satiremagazin, im Kabarett und in der Talkshow tabu. Kunstschaffende, Karikaturisten, Journalisten müssen eine Sensibilität dafür entwickeln, dass sich auch heute Menschen mit ihrer Religion identifizieren, so ambivalent Religion auch sein mag und es immer gewesen ist, und dass Religion mehr ist als der zivilreligiöse Konsens westlicher ‚aufgeklärter‘ Gesellschaften.

 

Prof. Heinrich Watzka ist Professor für Philosophie and der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Seit 2007 hat er den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik inne.

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