Kurzgeschichte

Herbst im Morgenland

01.12.2013 - Nasreen Ahmadi

Es war wieder ein eiskalter Abend mit einem dichter Nebel, der sich lüftete. Ganz sanft berührte mich der Wind und ich fing an, langsam hin und her zu schaukeln. Auch die anderen Blätter um mich begannen, schwerelos mit dem Wind zu tanzen. Ein Rascheln macht sich laut bemerkbar. In einer gleichzeitigen Bewegung baumelten wir noch eine Weile, bis wir wieder alle an unserem Platz waren. Eine kleine Aufregung machte sich breit. Erst nachdem alle wieder ruhig waren und weiterschliefen, bemerkte ich, dass wieder einige meiner Freunde und Geschwister fehlten und sie nicht an ihrem Ast hingen.

Besorgt schaute ich mich um und sah, wie sie federartig federgleich und ungebremst zu Boden sanken. Schweigend schaute ich eine Weile zu ihnen herunter. Der helle Mondschein machte es möglich, sie zwischen den braunen und löchrigen Blättern zu erkennen. Mit ihren wunderschönen, prächtigen gelben und roten Farben leuchteten sie am Erdboden. Der Anblick schmerzte. Sie waren so nahe und doch so fern. Mit den ersten Sonnenstrahlen würden sie nicht mehr erkennbar sein, dachte ich mir. Ihre Farbe würde, wie die Farbe aller anderen losen Blätter am Boden, verblasst sein. Mit jedem weiteren Tag würden sie immer mehr Löcher bekommen, bis sie auf dem kalten und nassen Gras verfaulten. Der Gedanke, wer ihnen wohl als nächstes folgen würde, schlich sich langsam an und ließ mich starr werden. Der Baum, der im Sommer in einem satten Grün erstrahlte und dessen Äste bis zur Baumkrone mit schönen Blättern geschmückt war, ähnelte jetzt einer schwachen zerbrechlichen alten Dame. Die Herbstwinde hatten dafür gesorgt, dass die Blätter von ihren Ästen gerissen wurden. Ganz gleich mit welcher Mühe sie sich festklammerten, die Herbstwindstöße waren stärker.


„Über was denkst du schon wieder nach?“, flüsterte mir ein kleines Blatt zu, das einen Ast unter mir hing. Da ich es nicht mit meinen trüben und sorgenvollen Gedanken zu dieser späten Stunde belasten wollte, entgegnete ich ihm: „Über nichts Wichtiges.“ „Nein, ich sehe es doch! Was bereitet dir so viel Kummer und Sorgen, dass es dich jeden Tag wach hält?“, fragte es mit seiner leisen, zierlichen Stimme. Ohne auf die Frage zu antworten und von dem Thema abzulenken, brummte ich zurück: „Wieso bist du denn noch zu dieser späten Stunde wach, müsstet du denn nicht schon längst schlafen?“

„Doch, das müsste ich. Aber der Windstoß riss mich aus der Ruhe. Fortan konnte ich nicht mehr schlafen. Deshalb versuchte ich mich zu beschäftigen. Als ich nach oben sah, erspähte ich den wunderschönen Vollmond. Wie er mit seinem hellen Schein die ganze Landschaft hier in einen magischen, schimmernden Ort verwandelt und gleichzeitig so vielen Lebewesen Trost spendet. Beim Staunen über den Nachthimmel bist du mir aufgefallen. Wie bedrückt und freudlos du herunter zum Boden schautest.“


Da das kleine Blatt nicht locker lassen würde, entschloss ich mich, es an meinem Kummer teilhaben zu lassen: „ Siehst du nicht, was hier Schreckliches um uns herum passiert und wie sich alles verändert? Wie die Tage kürzer geworden sind und die Nächte kälter. Wie alles sich zum Ende neigt und der Wald schweigt. Das einzige, was noch zu hören ist, ist der traurige Ruf der Krähen. Und wie wir jeden Tag unsere Freunde und Bekannten verlieren, weil sie an Kraft verloren haben und  sich nicht mehr am Baum halten können.“

„Gewiss sehe ich es. Wie könnte mir so etwas entgehen und auch mich macht es sehr unglücklich. Doch dann denke ich wieder an die schönen Tage, die wir alle miteinander hatten. Wie wir aus unseren Knospen heraus schauten und uns an dem Duft der Blüten erfreuten. Uns in der Sonne sonnten, amüsiert dem Zwitschern der Vögel zuhörten und mit unseren bunten und prächtigen Farben die Menschen erfreuten. Das sind die Gedanken, die mich ablenken“, antwortete das kleine Blatt.


„Auch ich versuche mich, mit den Erinnerungen an die schönen warmen Tage aufzuheitern und abzulenken, doch die Angst vor dem, was mich auf dem Boden erwarten wird, ist stärker und trübt die schönen Gedanken. Ich schaue immer wieder auf das Unvertraute herunter, um es mir vertraut zu machen. Ich versuche das Fremde zu verstehen, um mich so sicher zu fühlen. Doch den Weg zur Selbstverständlichkeit finde ich nicht. Ich schaffe es nicht, das Unbekannte, das auch mich bald erwarten wird, in Eigenes umzuwandeln, das Auffällige zum Gewöhnlichen und zum Baustein der vertrauten Welt zu machen,“ erwiderte ich traurig.


Nachdenklich schaute mich jetzt das kleine Blatt eine Weile an und sagte dann:“ Ich würde dir gerne bei deinem Problem helfen, doch ich weiß leider nicht, wie das gehen soll. Mit dem Gedanken, das Fremde zu verstehen, hab ich mich noch nicht befasst. Aber vielleicht muss man es gar nicht verstehen. Vielleicht sollte man es einfach hinnehmen. Sich mit ihm anfreunden. Das wir alle an Kraft verlieren und uns nicht mehr halten werden, ist eines von den Dingen, die die Natur will. Jedes Ende ist auch gleichzeitig der Beginn von etwas Anderem.“


„Die Worte des kleinen Blattes wirkten sehr weise. „Darf ich noch etwas anderes erfahren, oder bist du schon müde?“, fragte ich das kleine Blatt. Verwundert und erfreut schaute es mich an, als ich diese Frage stellt. Damit hatte das kleine Blatt nicht gerechnet. „Natürlich, du darfst mich alles fragen was du willst“, antwortete es.


„Glaubst du nicht, dass das was uns in naher Zukunft erwartet, das größte Übel für uns sein wird und es uns Leid zufügen wird?“, fragte ich in einem ernsten Ton.  Schweigsam und nachdenklich schaute mich das kleine Blatt wieder eine Weile an und sprach dann schließlich ganz sanft: „Auch diese Frage kann ich dir nicht ganz beantworten. Niemand weiß, ob das was uns erwartet das größte Übel sein wird. Doch vielleicht wird es auch das Größte unter aller allem Guten? sein. Wie ich dir schon sagte, der Glaube an den Sinn des Ganzen, das ist wichtig und macht das Ganze ein wenig einfacher.“


„Weißt du, wenn ich so hinunter zum Boden schaue, wünschte ich mir, gar nicht auf dieser Welt zu sein. Wenn es mich nicht geben würde, würde ich auch nichts von der Welt vermissen müssen“,  gab ich murmelnd von mir. „Sag doch so etwas nicht“, erwiderte das kleine Blatt erschrocken. „Kein einziges  von all den Lebewesen auf dieser Welt ist entbehrlich, denn von jedem einzelnen Geschöpf hängt der Gesamtzustand des Universums ab. Die Welt ist ein aus Teilen bestehendes System, das wiederum ein Teil des umfassenden Ganzen ist. Die Vollkommenheit der Ordnung und Vielfalt  auf der Welt beruht auf dem Zusammenwirken von Leben und Tod. Die Existenz von Leben und Tod sorgt dafür, dass alles im Gleichgewicht bleibt. Es ist alles so gewollt. Und außerdem, wenn es dich nicht gäbe, was wäre dann mit mir“, sagte das kleine Blatt traurig.


„Wie, was wäre denn mit dir?“, fragte ich erstaunt zurück. „Immer wenn es geregnet hat und ich Angst hatte, das mich der Regen herunter reißen würde, sorgte dein Dasein dafür, dass ich nicht so viel von den Regentropfen abbekam. Wenn die Sonne zur Mittagszeit immer alles zum Glühen brachte, spendete dein Dasein mir Schatten. Wenn es dich nicht gäbe, hätte schon längst ein Vogel meinen zierlichen Ast zerbrochen. Dein Vorhandensein ermöglichte meins. Und selbst wenn du morgen nicht mehr hier am Baum hängst, heißt es nicht, dass du nicht mehr existieren wirst. Wer im Gedächtnis seiner Freunde und Verwandten weiterlebt, der ist niemals fort. Erst wenn jemand vergessen wird, ist er immer für sich allein. Ich werde dich nicht vergessen. Das verspreche ich dir.“


Die Worte des kleinen Blattes, die so weise und ehrlich klangen, berührten mich zutiefst. Inzwischen schämte ich mich schon, so eine große Furcht vor dem ganzen Unbekannten gehabt zu haben.


„Vielen Dank für deine Worte. Sie haben mir die Augen geöffnet und mir die Angst genommen. Mit allem was du gesagt hast, hast du Recht. Es ist so gewollt und vielleicht ist es das Beste was uns passieren kann. Vielleicht nimmt uns der Herbstwind mit und bringt uns an einen noch schöneren Ort“, sagte ich zu ihm.


„Nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt!“ widersprach das kleine Blatt. Dann fügte es leise hinzu: „Und wenn ich nicht mehr da bin, dann kannst du vielleicht auch an mich denken.“

„Nicht nur vielleicht, sondern ganz bestimmt. Das verspreche ich dir. Wie könnte ich dich und dieses wundervolle Gespräch nur vergessen?“, erwiderte ich.

 

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging und ich dem kleinen Blatt nochmals danken wollte, war es nicht mehr da. Als ich den Boden nach ihm aufsuchte, fand ich es nicht. Schade eigentlich, ich hätte mich so gerne noch weiter mit ihm unterhalten. Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit für das Gespräch verwandelte die Erinnerung in eine stille Freude.

 

 

 

 

Foto: © Vainsang

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen