
Hörverlust
01.10.2016 -Soll ich dir ein Geheimnnis verraten? Du kannst nicht mehr zuhören. Du hast es verlernt, zuzuhören. Also hör mir nicht zu, bitte. Hör auf mir zuzuhören. Was ich jetzt sage, ist nicht interessant für dich.
Hör mir nicht zu, wenn ich sage, du hast das alles nicht verdient.
Dir wird etwas versprochen, das dir nicht gegeben werden kann. Du selbst brichst deine Wahrheit Tag für Tag. Spürst du diesen Schmerz, der in dir wohnt? Er sitzt in deiner Brust. Ein einsamer, unterdrückter und wirklicher Schmerz.
Sie sagt dir: Verwirkliche dich selbst!
Auch sagt sie dir: Andere können es besser als du!
Sie sagt dir: Du hast tausende unzählige Möglichkeiten! Nutze sie gefälligst!
Sie sagt dir auch: Du musst zahlen. Bezahl gefälligst!
Sie sagt dir: Binde dich nicht zu sehr an andere! Das nimmt dir deine Unabhängigkeit!
Dann sagt sie dir: Was du brauchst ist Ruhm und Anerkennung.
Sie sagt dir: Du darfst dich nicht festlegen! Du musst neue Erfahrungen sammeln!
Obendrein sagt sie dir: Du liegst falsch.
Ich hab doch gesagt. Hör mir nicht zu. Ich bin zu einseitig, ich verwirre dich doch, ich bin eine Konstruktion.
Sie sagt dir: Zweifel alles an! Hinterfrage alles!
Stimmts oder habe ich recht?
Nutze dich ab, bis der Arzt kommt, lebe dein Leben zweimal, dreimal, hundertmal, schließlich lebst du nur einmal. Und in deiner Hand. Ja, in deiner Hand ist ein Anker, den du ständig mit dir rum schleppst. Irgendwann ist es soweit, sagst du dir. Irgendwann, legst du diese schwere Kette ab. Aber bis dahin, bis dahin: schwitzt du, bis dahin, zeigst du allen wie groß du bist. Und wenn du das Geld nicht hast, egal. Und wenn du den Körper nicht hast, egal. Und wenn du die Zeit nicht hast, egal. Du suchst den nächsten Kick.
Du kannst und willst nicht zur Ruhe kommen.
Summ. Summ. Summ.
Sei immer gut drauf! Sauf! Kauf! Sauf, kauf! Sei immer gut drauf! Rennen, pennen, rennen, pennen! Und was tust du. Renn doch mal, schneller. Was tust du. Renn, gefälligst. Sehnsucht nach vertrauter Vergangenheit. Renn, weiter! Melancholie. Nicht stehenbleiben. Nicht stehenbleiben, hab ich gesagt! Verstummen auf der Straßenbahn. NEIN!
Stumm. Stumm. Stumm.
Stille.
Geflüstert: Der Schmerz. Du kannst ihn nicht mehr betäuben. Er prallt sich gegen die Fensterscheiben dieser Welt, gegen die Schreibenden und Schweigenden, gegen das Universum, das im intergalaktischen Weltraumrätsel überlebt und immer weiter expandiert.
Sie haben doch keine Ahnung, was du fühlst. Sie verpassen nichts. Sie wissen genau was sie tun und was sie nicht tun. Sie sind intakt. Intakt, wie eine gerichtete, nach pathologisch-sortierten, florierenden Worten, verdichtete Uhr, nach der du ihre Zeitung messen kannst. Dieser unendliche Spaß. Ein Überbleibsel einer verendeten, leblosen Sinnsuche.
Es ist so, als ob sich ein unkontrollierter Teil deiner Atmung, deiner Spucke, deines Lebenssaft, nach außen presst, bis die innere Anspannung explodiert und zum Faustschlag ausholt. Du spürst ein Brodeln, ein Zucken, ein tiefes Kollabieren. Hör auf, sagst du dir. Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Du kannst nicht mehr zuhören. Du hast verlernt zuzuhören.
Elizabeth, 16 Jahre alt. ,,Andere sagen mir oft, wie gut ich Zeichnen kann und außerdem liebe ich es, anderen Trost zu spenden, zuzuhören und für sie da zu sein. Ich glaube, ich kann das am besten: Einfach da sein."
Ayse, 37 jahre alt: "Ich weiß, dass meine Kinder mich lieben, für sie bin ich groß. Sie kennen keine anderen Mamis. Aber lieben sie mich immer noch, wenn sie alt sind und ich klein geworden und nicht mehr die große allwissende Mami spielen darf?"
Murat, 20 Jahre alt: "Ich hasse es, diese Ungewissheit. Ich will am liebsten meine Vorbestimmung kennen. Einfach wissen, was ich am besten kann und es tun. Aufhören zu zweifeln."
Mona, 26: "Ich sehe soviele Frauen in meinem Alter, die schon so viel erreicht haben und denke: phh...du hast eh keine Zukunft. Ich komme nie so weit, wie die."
Volker, 55: "Menschen aus fremden Kulturen passen nicht zu uns und wir passen nicht zu ihnen. Das ist die Realität."
Du bist ein Ergebnis deiner falschen Erwartungen. Du bist das Brennen deiner eigenen Hitze. Dein eigenes Kind. Nichts was dich höher wachsen lässt, was dein Werden attestiert. Sondern ein Zeugnis. Ein Zeugnis eines überhöhten Ideals, eines gebrochenen Tages, eines verwunschenen Ortes, einer Lüge, die sich tief in dir eingebrannt hat: DU SOLLST SO UND SO SEIN UND NICHT ANDERS; SONST BIST DU ALLEIN. DU SOLLST SO UND SO SEIN, UND NICHT ANDERS; SONST DARFST DU NICHT SEIN. DU SOLLST SO UND SO SEIN UND NICHT ANDERS; SONST BIST DU KLEIN. Klein; klein, klein, wie ein Ball, drehst du dich um dich selbst, vergisst deine Sonne, deinen Mond, deine Sterne, vergisst deine Größe, und schreist innerlich. Du bist der Mensch, der verlernt hat, den Zwang zu besiegen. Der verlernt hat, die Stärke zu besitzen, Schwäche zu zeigen und voranzuschreiten. Der aufhört, sich etwas vorzumachen.
,,Ich wusste ich hatte Angst. Angst Fehler zu machen, Angst im Wettstreit zu verlieren. Ich wollte nichts anderes, als Ruhe und Sicherheit. Ich wollte nichts anderes, als dass andere mir sagen, dass ich gut bin, dass ich es gut mache. Aber alle anderen wollen auch nur Ruhe und Sicherheit. Alle anderen, wollen auch immer nur alles richtig machen. Wer macht dann die Fehler?"
Du bist nicht allein, egal ob besser oder schlechter. Hinter dir stehen tausende, die sich weniger zutrauen. Vor dir stehen tausende, die sich mehr zutrauen. Du bist nicht allein. Du bist nicht allein. DU SOLLST UND DARFST AUCH ANDERS SEIN. DU BIST NICHT ALLEIN. Hör auf, zu viel zu wollen. Hör auf, immer so pragmatisch zu sein und hör auf, deine Zeit zu verschwenden, mit nicht endenden Enden. Mit selbstgebastelteten Geländen, die sich den Horizont verneinen, die sich auftürmen und über den Erfolg des anderes verneigen. Du bist kein Automatismus, kein Funktionalismus, keine Kreatürlichkeit, kein Aus-dem-Leben-der-Anderen-geborenes Ungeborenes, das auf ewig wartet, sich selbst zu verwirklichen. Dieses Unwirkliche Sich-Selbst-Verwirklichen. Ein Verwirken, auf ewige Suche, verworfen.
Dein Blick ist scharf. Dein Blick ist scharf. Dein Blick ist scharf. Hör auf zu schlafen.
Du bist schon der, der du sein willst, indem du aufhörst krampfhaft, der sein zu wollen, der du nicht bist, und anfängst zu sein.
