Zwei Abenteurer im Interview

Hübbe & Neromand-Soma: "Die Mentalität passt sich dem Milieu an"

01.03.2017 - Rameza Bhatti

Ihr Motto lautet: „Macht euch auf. Geht hinaus. Packt unvoreingenommene Neugier in die linke und ein bisschen Abenteuerlust in die rechte Hosentasche und genießt die Welt“. DAS MILIEU sprach mit den zwei Reisenden Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma, Autoren des Buches „Per Anhalter durch Südamerika", über ihre außerordentliche, prägende Langzeitreise durch Südamerika, besonders emotionale Erlebnisse, die fünf kostbarsten Reiseutensilien und vieles mehr.

DAS MILIEU: Seit fast zwei Jahren seid ihr nun schon unterwegs, es ging per Anhalter von Hamburg nach Indien. Ihr bereist nun schon seit etwa einem Jahr dieses Land, wie würdet ihr die Mentalität dort im Vergleich zu unserer beschreiben?

 

Morten Hübbe & Rochssare Neromand-Soma:  Indien ist der Chaot unter den Reiseländern. Es ist schwierig, das Land adäquat zu beschreiben. Es ist so komplett verschieden von der Heimat und so intensiv, dass man es erleben muss, um eine Vorstellung davon zu erhalten. Die Straßen hier sind vollgestopft mit Autos, Motorrädern und LKWs. Kühe versperren den Weg, lassen den Verkehr erliegen und niemand stört sich daran. Es riecht nach scharfem Essen, Müll und Urin. Überall sind Menschen in bunten Kleidern, die ständig lächelnd mit dem Kopf wackeln. Die Lärmverschmutzung ist extrem. Unablässig wird gehupt und gebrüllt, Tempelmusik dröhnt ohrenbetäubend selbst durch die Gassen des kleinsten Dorfes. Im Morgengrauen entleeren die Menschen in langen Reihen am Strand ihren Darm im Meer, weil knapp 70% der Inder keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben. Die Zahl der Inder mit Mobiltelefon ist deutlich höher als die derjenigen mit Toilette. 

 

Die Mentalität passt sich diesem Milieu an. In Indien ist vieles „jugaad“, was nichts anderes als „improvisiert“ bedeutet. Die Menschen hier bedienen sich an dem, was ihnen gerade zur Verfügung steht und machen das Beste daraus. Das ist für den europäischen, auf Effizienz gedrillten Geist nicht immer nachvollziehbar. Der Kulturschock in Indien ist gewaltig.

 

DAS MILIEU: Doch das ist nicht eure erste Reise. Ihr wart zuvor schon zwei Jahre in Südamerika. Wann seid ihr auf die Idee gekommen, einfach alle Zelte abzubrechen und euch auf die Reise zu begeben?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Der Entschluss durch Südamerika zu reisen, fiel im Sommer 2011. Wir arbeiteten gerade an unserer Masterarbeit im Studiengang Literatur- und Medienpraxis an der Universität Duisburg-Essen. Nach insgesamt 18 Jahren Ausbildung, die wir vornehmlich damit verbrachten, an Schreibtischen zu sitzen, wollten wir nach unserem Abschluss nicht direkt ins Berufsleben einsteigen. Stattdessen nahmen wir uns vor, fremde Kulturen zu entdecken, zu reisen, aber auch Arbeitserfahrung im Ausland zu sammeln.

 

Dass wir uns für Südamerika entschieden, lag vor allem an unserer gemeinsamen Reise nach Kuba in den vorherigen Semesterferien im Frühjahr 2011. Dort haben wir uns in Lateinamerika verliebt. Die Mentalität der Menschen, ihre Lebensfreude und Gastfreundschaft, aber auch die atemberaubende Natur begeisterten uns so sehr, dass wir unbedingt mehr davon erleben wollten.

 

DAS MILIEU: In einem anderen Interview hattet ihr bereits erwähnt: „Für uns gibt es einen Raum nicht, in dem unser Bett und das Lieblingsbuch an der Wand steht.“ Seid ihr seit Beginn eures Studiums dieser Meinung oder ist das erst im Laufe des Reisens entstanden?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Das Zitat ist ja keine Meinung, sondern unsere momentane Realität. Wir reisen seit fünf Jahren durch die Welt. Für uns gibt es die berühmten „eigenen vier Wände“ nicht. Wir haben kein Zuhause, das wir vermissen könnten. Stattdessen bleiben wir selten länger als 10 Tage an einem Ort. Unser gesamter Besitz passt in unsere Reiserucksäcke. Wir besitzen im Moment nichts Überflüssiges, das wir in einer Wohnung oder gar in einem Haus lagern müssten.


DAS MILIEU: Ihr verbringt nun auch sehr viel Zeit miteinander, erlebt vieles intensiver und müsst euch immer aufeinander verlassen. Hat oder hatte einer von euch einmal Zweifel an der Wahl seines Partners, der den Reiseplan verderben könnte?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Nein, wir haben keine Zweifel an der Wahl des Partners. Wir kennen uns sehr gut und reisen gerne zusammen. Dennoch lernen wir uns immer wieder neu kennen. Ein neuer Ort bringt nicht nur neue Erfahrungen und Erlebnisse über die Welt, in der wir uns befinden, sondern auch Erkenntnisse über uns selbst. Das ist interessant und verblüffend zugleich. Wir sind in der glücklichen Lage zu zweit zu reisen. Das macht vieles einfacher.

 

DAS MILIEU: Ihr seid jetzt seit 2011 hauptsächlich wegen des Sprachenlernens unterwegs. Gibt es ein Ereignis oder ein Erlebnis, das euch besonders berührt hat?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Also eigentlich sind wir nicht hauptsächlich wegen des Sprachenlernens unterwegs, es ist aber ein schöner Nebeneffekt, während einer Reise die Sprache des Reiselandes zu lernen.

 

Natürlich sind uns die kuriosen Mitfahrgelegenheiten im Gedächtnis geblieben. Da war zum Beispiel die ältere Dame mit riesigen, dicken Brillengläsern in Uruguay, die uns an einer Landstraße mitnahm. Dabei besaß die gute Frau gar keinen Führerschein und fuhr ziellos hin und her, um Fahrpraxis zu sammeln. Ein anderes Mal sind wir mit einem LKW-Fahrer von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang durch die Nacht gefahren. Der Mann am Steuer hielt sich mit Unmengen Kokablättern wach, die er in seine Wangen stopfte, was seinem Gesicht ein ziemlich verbeultes Aussehen bescherte.

 

Wir erinnern uns immer wieder gerne an die unvoreingenommene Gastfreundschaft, die uns fast überall auf unseren Reisen entgegengebracht wurde. Viele Autofahrer haben uns nicht nur eine Mitfahrgelegenheit angeboten, sondern uns darüber hinaus auch zum Essen eingeladen. Hin und wieder wollten sie uns auch gerne ihr Zuhause zeigen, damit wir ihre Familien kennenlernen könnten.

 

Besonders gut gefallen haben uns Argentinien und Bolivien. Durch beide Länder würden wir gerne noch einmal reisen. In Argentinien haben wir mehrere Monate verbracht und die Mentalität der Menschen sehr schätzen gelernt. Landschaftlich ist Patagonien beeindruckend, aber auch die Anden um Mendoza sind sehr schön. Bolivien hat uns mit seiner natürlichen Vielfalt, dem Dschungel, der größten Salzwüste der Welt, der Hochebene Altiplano, den eisigen Bergen und der dünnen Höhenluft stark beeindruckt. Die unaufgeregte indigene Bevölkerung ist absolut liebenswert.

 

Aber auch die Menschen in der Türkei, dem Iran und Pakistan sind ausgesprochen liebenswürdig und sehr hilfsbereit. In der muslimischen Kultur ist es selbstverständlich für Gäste einen Extraaufwand zu betreiben, damit sie sich wohl fühlen.

 

Was uns noch immer emotional berührt, ist unser Glück, in einem der privilegiertesten Länder der Welt geboren zu sein. Obwohl auch unser Sozialstaat in den letzten 20 Jahren stark abgebaut hat, ist es noch immer unglaublich, welcher Wohlstand in Deutschland herrscht und wie groß der pure Überlebenskampf in den meisten anderen Ländern der Welt ist. Überleg dir nur einmal, dass weltweit etwa drei Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben - in Deutschland spülen wir damit das WC.

 

In Nepal oder Indien gibt es in den Wohnhäusern häufig nicht einmal Wasserleitungen. Dort müssen die Menschen ihr Wasser aus öffentlichen Brunnen pumpen und anschließend auch noch abkochen, bevor sie es nutzen können. Dort, wo es Leitungen gibt, ist das Wasser (außerhalb der westlichen Industriestaaten) dennoch nicht trinkbar. Daraus resultiert, dass die Menschen auf abgepacktes Trinkwasser großer Konzerne zurückgreifen müssen und damit unfassbar viel Plastikmüll produzieren. Jeden Tag werden mehr als 100 Millionen Plastikflaschen benutzt und weggeschmissen. Selbst Deutschland trägt täglich mit zwei Millionen Plastikflaschen dazu bei.

 

DAS MILIEU: Ihr habt euch einen Namen durch den Blog und dann durch das Buch „Per Anhalter durch Südamerika“ gemacht. Aber YouTube zum Beispiel ist bekannter und besonders wichtig für die Künstler, die mehr Fans erreichen und gewinnen wollen. Dort kann man mit mehreren Klicks Geld verdienen. Warum habt ihr keinen YouTube Channel gegründet?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Dass wir nicht auf Youtube aktiv sind, hat verschiedene Gründe. Zum einen fehlt uns einfach die Zeit neben dem Reisen und Schreiben auch noch Videos zu produzieren. Ein gut gemachtes Video benötigt sehr viel Vorbereitung und noch mehr Einsatz beim Schneiden und Editieren. Das können wir momentan nicht leisten. Außerdem muss man als Youtuber Freude daran haben, sich vor laufender Kamera selbst darzustellen. Das ist nicht unser Ding.

 

Letztendlich geht es uns gar nicht um die größtmögliche Aufmerksamkeit und die höchste Reichweite. Wir wollen das, was wir machen, gut machen. Der Rest kommt von allein.

 

DAS MILIEU: Das Buch „Per Anhalter durch Südamerika“ ist im National Geographic Verlag erschienen. Der Verlag ist sehr anspruchsvoll und nicht jeder Reisende könnte seine Berichte dort veröffentlichen. Wie seid ihr darauf gekommen?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Als wir uns entschieden, unsere Erlebnisse zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, hätten wir nicht erwartet bei NG zu landen. Natürlich hofft jeder Autor einmal von einem großen Verlag publiziert zu werden, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Auch wir sind zunächst bei einem kleinen Reiseverlag untergekommen. Aber durch Zufälle und günstige Fügungen ist der Piper Verlag, der NG auf dem deutschen Markt vertritt, selbst auf uns zugekommen und mit uns in Kontakt getreten.

 

DAS MILIEU: Viele Geschichten werden nicht von diesem Verlag aufgenommen und bleiben unbekannt. Habt ihr auch ein Erlebnis, das im Verlag nicht veröffentlicht wurde?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Wie gesagt erschien unser Buch bereits in einem kleineren Verlag, von wo aus es Piper übernommen hat. Die Erlebnisse, die es ins Buch geschafft haben, sind unsere persönlichen Lieblingsberichte oder auch die beliebtesten Artikel unseres vorherigen Blogs. Letztendlich sind im Buch wohl ein Drittel aller Artikel enthalten, die wir über die Südamerikareise veröffentlichten.

 

DAS MILIEU: Was sind für euch die Top-5 Gegenstände, die jeder Reisende dabei haben sollte?

 

Hübbe, Neromand-Soma: „Reise, Reise Seemann Reise - Jeder tut's auf seine Weise“, damit ist Rammstein ein sehr zitierfähiger Satz gelungen. Wir können nicht sagen, welche Dinge für jeden Reisenden essentiell sind. Für uns sind das aber definitiv ein Stift und Notizbuch, eine Kamera, ein e-Reader mit den gesammelten Werken von Neruda, Hemingway, García Màrquez, Eco und Ende und eine Filtertrinkflasche, schließlich weiß man nie, wo man strandet. 
 

DAS MILIEU: „Mit Gottes Segen habt ihr hilfsbereite Leute auf dem Weg getroffen“. Inwieweit spielt Religion eine Rolle auf eurer Reise?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Wir glauben an keinen Gott, wie ihn die Weltreligionen vorstellen. Aber wir respektieren jeden Glauben, solange er in den Grenzen der Menschlichkeit bleibt.

 

DAS MILIEU: Seit 2011 sind so viele Ereignisse in der Welt passiert: in Europa die Fußballmeisterschaft, tausende Revolutionen in der Welt, Flüchtlingskrise in eurem Heimatland. Nehmt ihr trotz des Reisens immer aktiv Anteil an diesen Ereignissen?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Wir sind in der erfreulichen Lage sehr viel mit ausländischen Medien konfrontiert zu werden. So erhalten wir auf ein Ereignis verschiedene Blickwinkel. Dabei erfahren wir auch wichtige Nachrichten, die in den deutschen Medien keine oder nur sehr geringe Beachtung finden. Gleichzeitig fällt uns auf, dass in Deutschland bestimmte Themen wochenlang die Schlagzeilen beherrschen, die überhaupt nicht relevant sind. Als wir in Südamerika waren, hatte etwa die Tagesschau über Monate hinweg nur zwei Topthemen: Das waren die plagiierte Doktorarbeit Gutenbergs und die Wulff-Affäre. Beides sicherlich Meldungen wert, aber definitiv keine Topthemen über einen langen Zeitraum.

 

Die Kritik an den Medien ist ja seit einiger Zeit sehr präsent. Aber so schnell wie Nachrichten im heutigen medialen Zeitalter produziert und abgerufen werden, kann doch niemand ernsthaft seriöse Recherche erwarten. Dafür bleibt doch keine Zeit. Medien fühlen sich etwa verpflichtet, einen Live-Ticker zu einem Anschlag oder ähnlichem einzurichten und können dann vor allem nur Gerüchte in Umlauf bringen, weil es noch gar keine gesicherten Meldungen gibt. Aber Medienkonsumenten wollen noch im selben Augenblick eines Geschehens darüber informiert werden. Das funktioniert vielleicht bei der Sportschau, aber nicht bei komplexen Zusammenhängen.

 

Mittlerweile verfolgen wir deutsche Medien nur noch sporadisch. Das einzige Programm, das wir regelmäßig und gerne anschauen, ist das Satiremagazin „Die Anstalt“ im ZDF. Das Team um Claus von Wagner und Max Uthoff leistet großartige journalistische Arbeit.

 

DAS MILIEU: Wie war es für euch nach Südamerika wieder nach Deutschland zurückzukehren?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Auf die Frage wie es war, wieder nach Deutschland zu kommen, haben wir eigentlich nie eine richtige Antwort gefunden. Zurückzukommen heißt ja irgendwie auch nach Hause zu kommen, einen Ort zu betreten, den man bestens kennt. Deutschland hatte sich damals während unserer Abwesenheit nicht verändert. Als wir wieder da waren, war alles noch so, wie wir es einst zurückgelassen hatten.

 

Dieses Mal, nach unserer Indienreise, wird es vermutlich etwas anders sein. Es ist viel passiert in Deutschland. Die Stimmung im Land hat sich in den letzten Jahren gleich mehrfach geändert. Wir sind gespannt, wie wir Deutschland das nächste Mal wahrnehmen werden.

 

DAS MILIEU: Ihr verzichtet freiwillig auf viel Komfort und seid immer unterwegs. Gibt es etwas, das ihr auf euren Reisen wirklich vermisst?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Wir vermissen vor allem Familie und Freunde. Wir haben bereits Hochzeiten, Geburten und runde Geburtstage von Menschen verpasst, die uns sehr wichtig sind. Das ist ausgesprochen schade, aber eben auch Teil unseres Reiselebens. Auch die schönsten Erlebnisse haben eine Kehrseite.


DAS MILIEU: Was würdet ihr dem Bürokaufmann raten, der den Traum zu reisen hat, aber auf diese alltägliche Routine nicht verzichten will?

 

Hübbe, Neromand-Soma: Wahrscheinlich würden wir ihm vorschlagen, sich von Reiseberichten inspirieren zu lassen, irgendwann ein Reiseziel zu wählen, und entsprechend der zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten zu buchen. Wer Kultururlaub plant, sollte sich ein paar freie Tage offen halten, um auch während des Urlaubs flexibel und spontan sein zu können. Überhaupt soll der Urlaub immer noch Entspannung bieten. Man sollte sich nicht zu viel vornehmen, die Tage nicht zu voll packen. Für uns ist es immer angenehmer, wenige intensive Erlebnisse zu haben als viele oberflächliche. Vielleicht kommt man ja in einem Café mit dem Wirt ins Gespräch oder trifft sich mit Einheimischen im Park. Solche Gelegenheiten am Alltag im Reiseland teilzunehmen bereichern das Urlaubserlebnis sehr. Manchmal führen diese Begegnungen zu ganz wunderbaren Erfahrungen.


DAS MILIEU: Vielen Dank für das spannende Interview!

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