Kurzgeschichte

Ihr Moment

01.12.2015 - Meltem Bayir

Stille lag in der Luft. Einen Moment. Ganz für sich. Allein und doch zusammen. Weder die Vergangenheit, noch die Zukunft. Es schien, als wären die Gedanken leise. Die Gedanken, die redeten, rieten, schrien, weinten. Die lebten, aber nie verstummten.

Sie lauschten jetzt. Sie lauschten ihr. Ein Moment, der ihnen genauso neu war wie ihr. Sie lag dort. Mit weit aufgerissenen Augen, die in die Leere starrten. Kein einziger Gedanke, nur das Gefühl. So muss es sich wohl anfühlen, wenn das Herz triumphiert. Sie atmete schwer. Gelehnt an seine Brust und lauschte mehr ihrem eigenen Atem als seinem.

Sie hatte das Gefühl, dass eine Ewigkeit verging. Doch wollte sie, dass die Zeit stehen blieb. Anhält für immer.

Für immer. Ewigkeit. Diese Worte weckten sie aus ihrem Dämmerzustand, den sie so zu vor noch nie erlebt hatte. Sie schlugen ihr ins Gesicht und lachten. Nie hätte sie es gedacht. Nie erlebt. Nie hätte sie es erahnen können, dass es passiert. Dass es jetzt passiert. Irgendwo. Irgendwann. Weit weg von dem Gewohnten. Allein gelassen. Auf sich selbst gestellt. Doch es war echt. Real. Die Realität, die schön hätte enden können, begann nun ihr wahres Gesicht zu zeigen. Unwissen und Angst kamen langsam daher. Unwissen und Angst. Davor fürchtete sie sich am meisten. Die Angst vor der Angst. Doch bald war es soweit.

Sie versuchte ihn aufzufangen. Ihn noch einmal zu erleben. Doch die Gedanken rüttelten sich auf. Bald würden sie wach werden. Sie wurde panisch, doch es blieb ihr nicht mehr lange. So atmete sie das letzte Mal den wundervollen Duft des Moments ein und verabschiedete ihn mit einem Lächeln. Ein schwaches Lächeln, mit großer Bedeutung. Für diesen einzigen winzig kleinen Moment. Doch eins wusste sie und würde sie immer wissen:
Es war dieser Moment. Der Moment für die Ewigkeit.

Sie lebte hier, sie lebte jetzt. Verlor sich in diesem mächtigen neuen Gefühl. Doch war es das wert, das Risiko einzugehen? Das Risiko, vor dem sie alle Erfahrenen warnten. Eine leise Stimme tief in ihr, versuchte sie mit aller Kraft wachzurütteln. Doch sie lebte es. Jeden Atemzug, jeden Geruch, jede Berührung nahm sie so intensiv wahr, wie niemals zuvor. Irgendwann wäre sie dran gewesen, dass zu erleben, wovon so manch anderer erzählt hatte. Irgendwann war in diesem Moment.

Doch je stärker sich ihr die Realität näherte, desto surrealer erschien der Moment. Desto stärker und intensiver wurde aber ihre Besessenheit nach dem Gefühl.

Es kann anders enden – eine Hoffnung an der sie bis zum Schluss festhielt. Eine Hoffnung, mit der sie dieses Gefühl aufrechterhalten wollte. Eine Hoffnung, die man ihrer Kindlichkeit zuschrieb.

In einem anderen Leben vielleicht – der Realismus eines Verlassenden. Mit diesen Worten erschlug er ihre Hoffnung. Zerbrach ihre Kindlichkeit. Mit diesen Worten gab er sie auf.

Nun lag sie da. Mit weit aufgerissenen Augen und lauschte den Erinnerungen, die sie an ihrer Decke wieder zum Leben erweckte. Mit einem neuen Gefühl in der Brust, das sie schwer atmen ließ. Die Gedanken waren wieder still. Und obwohl sie sich sicher war, dass sie lebten wie nie zuvor, sie anschrien, sie auslachten und sie trösteten, waren es nicht ihre Gedanken, sondern dieses neue Gefühl.

Sie war verärgert. Über sich, über die Welt, über ihre Situation, über ihn. Doch sie wurde immer müder. Müde Antworten auf Fragen zu finden, die sie niemals bekommen sollte. Sie versuchte zu sich selbst zu finden. Auf diesem langen und mühsamen Weg traf sie auf etwas, was schon immer in ihr steckte. Ihre Kindlichkeit wieder zum Vorschein brachte. Es war der Optimismus, den sie nie verloren hatte. Es war ihr Moment gewesen. Es hätte auch anders kommen können. Doch sie hatte gelernt zu lieben. Nun war sie bereit weiterzugehen und gehen zu lassen. Zu leben. Zu lieben.

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen