Ilan Stephani: "Im Patriarchat verlieren alle: Männer und Frauen"
15.09.2018 -Die Autorin Ilan Stephani hat zwei Jahre lang neben dem Studium als Prostituierte gearbeitet. Ihre Erfahrungen schrieb Sie in dem Buch "Lieb und teuer" nieder, sie stellt dabei nicht nur den Umgang mit Prostitution, sondern auch grundlegende gesellschaftliche Konzepte und Probleme in Frage. DAS MILIEU sprach mit der Buchautorin über die Vorurteile gegenüber dem Beruf, den gesamtgesellschaftlichen Kontext, sowie die Frage, warum das Bordell ein "Spiegel der Gesellschaft" ist.
DAS MILIEU: Frau Stephani, Sie haben zwei Jahre lang neben dem Studium in der Prostitution gearbeitet, was eine Vorlage für Ihr Buch „Lieb und teuer“ war. Was hat Sie denn dazu bewegt, Ihre Erfahrungen niederzuschreiben?
Ilan Stephani: Ich habe einer befreundeten Journalistin ein anonymes Interview gegeben, das online veröffentlicht wurde und dort habe ich mich getraut sehr offen zu sein und ganz klar meine Meinung zu sagen. Die Resonanz auf dieses Interview war so groß und dankbar, und da hatte ich das Gefühl, wenn ich jemals ein Buch schreiben sollte, dann würde sich das auch lohnen. Dann kam der Ullstein Verlag auf uns zu und hat mir angeboten ein Buch zu schreiben. Ich habe dann abgesagt, da es mir zu früh war. Nach 1 ½ Jahren hatte ich dann aber selbst den Impuls mich gerne dransetzen zu wollen. Zu dem Zeitpunkt trat ein Verleger an die befreundete Journalistin heran und da war es dann klar: Nägel mit Köpfen machen!
MILIEU: Das heißt, durch die positive Resonanz anderer auf das Interview haben Sie sich dann getraut an die Öffentlichkeit zu gehen?
Stephani: Genau, zum einen ging es um das Thema Angst und zum anderen darum, dass das Meiste, was über Prostitution geschrieben wird, nicht interessant ist und meines Erachtens nach die falschen Fragen gestellt werden. Ich habe in diesem Interview dann offen die Fragen behandelt, die mich eben interessieren, anstatt die Fragen, die der öffentliche Diskurs erlaubt. Das eine ist die Angst, aber das andere war die Befriedigung zu sehen, dass ich hier was sagen kann, was für mich relevant ist und das wird genauso dankbar aufgenommen. Diese Art von Gesehen werden hat einen positiven Anreiz gebracht.
MILIEU: Sie haben gerade gesagt, dass in der Diskussion die falschen Fragen behandelt werden. Welche Fragen sollten denn Ihrer Meinung nach in den Diskurs aufgenommen werden?
Stephani: Immer die Fragen fünf Schichten unter dem, was die ganze Zeit besprochen wird. Um das an einem Beispiel fest zu machen: Man redet ganz viel über Prostitution, aber, wenn wir tatsächlich darüber sprechen und nicht nur den Klischees gerecht werden wollen, dann braucht es mehr als nur etwas Oberflächliches. Wir brauchen dann mindestens 1000 verschiedene Begriffe. Wir müssen ganz klar differenzieren zwischen Zwangsprostitution, was schlichtweg moderne Sklaverei ist, und freiwilliger Prostitution. Dann müssen wir noch beachten, dass es Grauzonen gibt, wie in jedem Beruf. Man könnte sich die Frage stellen welcher Beruf denn schon freiwillig ist und auch das Phänomen hinterfragen, dass z.B. eine Mutter keine andere Möglichkeit sieht das Kind zu ernähren. Man kann diese Dinge voneinander trennen und diese Hausaufgaben verlange ich von der Öffentlichkeit, wenn sie einen befriedigenden Diskurs über Prostitution haben wollen. Die häufigsten Motive öffentlich über Prostitution zu reden, betreffen nicht unbedingt Prostituierte, sondern unsere Klischees über Sex und Prostitution, sowie unsere heimlichen sexuellen Phantasien und den sexuellen Ekel. Das alles sind egoistische Gründe, so dass ich denke, alle verurteilen den Freier und werfen ihm sexuellen Egoismus vor, aber behandeln die Prostituierte im öffentlichen Diskurs genauso – die Prostituierte muss immer herhalten, um unsere Klischees und Vorstellungen zu bestätigen. So etwas ansprechen und angreifen zu können, das macht mich glücklich.
MILIEU: Sie schreiben in Ihrem Buch von der Erkenntnis, dass die Prostitution bzw. das Bordell ein „Spiegel der Gesellschaft“ ist. Was meinen Sie damit?
Stephani: Wenn in einer Kultur Prostitution auftaucht, dann hat das mit der Kultur zu tun. Wenn eine Kultur die Nachfrage nach käuflicher Sexualität produziert, ist die Kultur die Verursacherin und die Prostitution ist eine logische Konsequenz und kein Ärgernis am Rande. Es ist mit anderen Worten etwas, das im Zentrum passiert. Und in dieser patriarchalen Kultur, die sexuell extrem unglücklich ist, und in einer Kultur, die alles konsumiert und die in allen Bereichen ihres Lebens komplett ausgebrannt ist, ist es völlig klar, dass man versucht sich Sternstunden zu kaufen. Das versucht man in Bezug auf Partys, Urlaub und natürlich auch Sex. Der Punkt, an dem wir ansetzen müssen, wenn wir die problematischen Aspekte der Prostitution auflösen wollen, ist, dass wir aufhören müssen den Hunger und die Nachfrage zu produzieren. Das hat auch damit zu tun, wie wir mit dem Idealbild einer Ehe umgehen oder wie wir über Sexualität denken, etwas, dass also primär gar nichts mit Prostitution zu tun hat. Wir müssen Männern auch zugestehen im Kern eine gute Sexualität zu haben. Wenn wir diese unterschwelligen Bereiche von Männer – und Frauenfeindlichkeit nicht bewegen werden wir immer nur über das falsche Ende der ganzen Sache reden, eben über Prostituierte, denn auf die kann ich ja heruntergucken.
MILIEU: Das heißt, dass die patriarchalen Strukturen im Grunde Prostitution produzieren?
Stephani: Ich halte das Patriarchat nicht für den einzigen Auslöser von Prostitution, aber man kann es an dem Beispiel Patriarchat gut veranschaulichen. Matriarchate haben keine Prostitution und übrigens auch keine Vergewaltigungen und das liegt nicht daran, dass Frauen die besseren oder friedlicheren Menschen sind. Im Patriarchat muss die weibliche Sexualität monogam kontrolliert werden, weil das Erbe in einer Linie vom Vater auf den Sohn übergeht. Ein Vater weiß nur, dass er Vater geworden ist, wenn er mindestens neun Monate lang die sexuellen Bewegungen der Frau nachverfolgt. Das heißt weibliche Sexualität wird Besitz von männlicher Macht – oder Vererbungsinteressen. Das hat mit Mann und Frau und Gefühl zwischen Geschlechtern erstmal nix zu tun, das ist eine strukturelle Sache der Gesellschaft. Diese Art die weibliche Sexualität zu beleidigen, indem man sagt: du bist nicht als Lust, nicht als Freiheit und Leben interessant, sondern als Besitz und Frage von Macht. Das heißt Patriarchate ohne Gewinner zu produzieren, produziert sowohl die Frauen, die monogam sind, als auch die Frauen, die hypersexualisiert werden. Damit produziert Patriarchat Prostituierte.
MILIEU: Denken Sie nicht, dass viele Menschen sehr gerne mehr darüber wissen würden und sich schlichtweg nicht trauen zu fragen?
Stephani: Doch, sicherlich. Wenn ich das Patriarchat nehme, dann gibt es nur Verlierer, Männer und Frauen verlieren beide. Männer sind im Patriarchat keine Täter, sie werden in die Rolle gedrängt. Genauso ist es bei Tabus, alle leiden darunter. Tabus haben keine Gewinner, sie werden nur tradiert und durch Angst in uns festgeschrieben. Das Tabu markiert nur das Neue und nicht das Schreckliche.
MILIEU: Sie selbst sind damals durch den Verein „Hydra“ in Berlin in die Prostitution gekommen und Sie haben dazu mal gesagt, dass sie „den Feind kennenlernen wollten“. Welches Bild hatten Sie denn damals von diesem Feind?
Stephani: Ich hatte das Bild, dass die Frauen der Hydra sehr schrill und extrem sind, also so ein bisschen wie lauter Straßenprostituierte, die sich als Sozialarbeiterin verkleiden. Ich hatte auch das Bild im Kopf, dass diese Frauen über ihre Arbeit nicht richtig nachdenken. Ich hatte die Unterstellung, dass Prostitution immer patriarchale Gewalt ist, der Mann triumphiert eben über die Frau. Und dann bin ich da hingekommen und das war dermaßen schlicht und so unaufgeregt und kritisch. Die haben gesagt, dass sie vor Ort für die Prostituierten da sein und ihre Arbeitssituation verbessern wollen. Da hing ich eben noch selbst in meinen Klischees drin, erst mein Besuch vor Ort hat mir gezeigt, dass diese Frauen ihren Job sehr ernst nehmen und eine wichtige durchdachte Position haben.
MILIEU: Viele Frauen geben sich in diesem Beruf einen anderen Namen, so auch Sie. Schafft man sich dadurch auch eine andere Identität oder bleibt man doch einfach die gleiche Person?
Stephani: Bei mir war es so, dass ich mir keine andere Identität gegeben habe. Ich hätte es auch gar nicht so interessant gefunden, wenn ich währenddessen die Aufgabe gehabt hätte noch im Grunde jemand anderen zu spielen. Einen Namen geben ist wie so eine Tradition und tatsächlich habe ich mich damit auch wohler gefühlt. Aber für mich war es energieschonender ich selbst zu bleiben. Andere Frauen machen das anders, ich weiß aber nicht, ob das durch den Namen passiert. Ich denke das passiert automatisch, je nachdem unter welchen Arbeitsumständen und mit welchen Profilen man arbeitet.
MILIEU: Das heißt der Name kann auch als Schutzfaktor dienen?
Stephani: Genau. Wenn der ausgedachte Name zum Beispiel gegoogelt wird, dann kommt halt nix. Wenn Sie jetzt meinen Namen Ilan gewusst hätten, dann hätten sie das nachschauen können. Aber das hat in dem Moment glaube ich weniger mit Angst zu tun. Es macht für alle intuitiv Sinn sich so einen Namen zu geben und es ist irgendwo auch Tradition. Aber es ist nicht unbedingt so aus der Defensive heraus motiviert. Wenn Prostitution etwas per se Unfreiwilliges ist, dann ist es ohnehin schon problematisch, ob mit oder ohne Name.
MILIEU: Es ist trotz all der Diskussion sehr wichtig, dass zwischen freiwilliger und Zwangsprostitution unterschieden wird. Viele sehen diesen bereits bei der finanziellen Not einer Frau. Wann beginnt der Zwang für Sie?
Stephani: Das ist eine gute Frage, über die habe ich tatsächlich noch nicht nachgedacht, da es mich selber eben nicht betrifft. Der Zwang ist in jedem Fall da, wenn er kriminell ist, sobald irgendjemand möchte, dass ich das mache und er/sie Vorteile daraus zieht, dann ist es definitiv ein Verbrechen und ein absolutes No-Go. Dann gibt es ganz viele andere Motive: Drogen auf jeden Fall, die ganze Summe der Glaubenssätze wie z.B. ich muss meine Familie ernähren und ich habe keine Möglichkeit oder ich bin für nichts Anderes gut genug. Die ganzen kulturellen Verletzungen der weiblichen Würde und Freiheit, speziell in Bezug auf Sexualität. Die halte ich für strukturellen Zwang. Wenn mir eine Frau gegenübersitzt und sagt ich habe keinen anderen Weg gesehen als diesen, dann ist das Zwang. Ich finde Hydra an der Stelle sehr gut, denn, wenn da jemand sagt, dass er gerade keine andere Möglichkeit sieht, dann verweigert Hydra die Zusammenarbeit, denn Hydra sagt: Prostitution ist nie die einzige Möglichkeit, in keiner einzigen Lebenssituation. Denn selbst Drogen oder die Ernährung des Kindes darf nicht dazu führen, dass ein Mensch in eine solche Verzweiflung gerät. Da muss man aber ganz viele Bereiche des Arbeitsmarktes und der Wertschätzung der eigenen Arbeitskraft bereits in der Schulzeit koordinieren, damit solche Zwangserlebnisse in der Psyche nicht entstehen.
MILIEU: Was für ein Bild von Prostitution in der Gesellschaft wünschen Sie sich?
Stephani: Kein Bild. Es gibt so viele Bilder von Prostitution, wie es Prostituierte gibt und mehr aber auch nicht. Wenn wir alle Bilder der Unbeteiligten wegnehmen und die Bilder der Beteiligten nehmen, dann wäre die ganze Sache so entspannt, dass wir auch dieses Feld an Bildern auflösen können und sehen, dass es so spannend gar nicht ist. Bild als Prinzip von Prostitution sollte aufgelöst und durch Kontakt und Verständnis ersetzt werden. Das bedeutet, dass sich das Thema selbst auflöst.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Stephani
Foto: Merav Marody