Ingo Lenßen: "Wenn jedes Land an sich selbst denkt, hat Europa keine Chance"
01.12.2017 -Er gilt als einer der bekanntesten und unterhaltsamsten Juristen in Deutschland. Popularität erlangte er durch die Sat1-Serie „Richter Alexander Hold“ und „Lenßen &Partner“. DAS MILIEU sprach mit dem Schauspieler und Fachanwalt für Strafrecht Ingo Lenßen über Objektivität im Beruf, den Umgang mit emotionalen Belastungen, seine Vorliebe für E.T.A. Hoffmann und die Zukunft Europas.
DAS MILIEU: Du bist Rechtsanwalt. Musst du eigentlich immer Recht haben?
Lenßen: Überhaupt nicht, das Recht ist sehr subjektiv, und deswegen handelt es sich um mein subjektives Rechtsempfinden. Das ist das Schöne am Anwaltsberuf, dass ich nicht objektiv sein muss. Ich darf für meinen Mandanten Partei ergreifen, und somit auch parteiisch sein. Dann kann ich ja nicht immer erwarten, dass ich Recht bekomme. Wobei: vor Gericht, würde ich es schon gerne immer haben. (lacht)
MILIEU: Du bist in Krefeld geboren, aufgewachsen und dort auch zur Schule gegangen. Wie warst du als Schüler?
Lenßen: Ja genau, dort habe ich auch mein Abi gemacht und Eishockey gespielt. Ich glaube, ich war ein ganz anständiger Schüler, immer wenn mich etwas wirklich interessiert hat, ist es mir sehr leicht gefallen. Natürlich gab es auch das eine oder andere Fach, wo das nicht der Fall war. Aber ich glaube, das ist bei jedem Schüler so.
MILIEU: Wie kamst du auf die Idee, Jura zu studieren?
Lenßen: Der Wunsch war relativ früh da. Ich war in der Schule oft Klassensprecher und habe mich schon immer für andere eingesetzt. Ich war in der Eishockey-Mannschaft auch häufig der Kapitän und wenn man dann lernt, für jemand anderen zu sprechen, bekommt man eine starke Affinität dafür. Mir hat das immer gefallen, für andere einzutreten und zu versuchen zwischen Parteien zu moderieren; wenn unterschiedliche Auffassungen vorhanden waren, auch Streit zu schlichten.
Das heißt nicht, dass ich nicht auch mal dazwischen gehauen habe, aber der Wunsch zu schlichten war relativ schnell da. Im erweiterten Familienkreis gab es zudem einen befreundeten Anwalt, der Strafverteidiger war. Das hat mich total fasziniert, denn das war eine ganz fremde Welt für mich, von der ich keine Ahnung hatte: es ging um Straftaten, Straftäter, Häftlinge, Vollzugsanstalten und diese Milieus. Das hat mich irgendwie fasziniert. Am meisten hat es mich fasziniert, dafür zu sorgen, dass niemand Unschuldiges ins Gefängnis kommt. Ich habe mehrere Prozesse besucht und wollte daraufhin Strafverteidiger werden.
MILIEU: Du hast in den 80er Jahren Rechtswissenschaft in Konstanz studiert. Was ist der Unterschied zwischen dem Beruf als Anwalt und dem Anwaltsberuf im Fernsehen?
Lenßen: Da gibt es einen Unterschied, den man sehr leicht erklären kann. Wenn ich im echten Gerichtssaal aufgestanden bin, plädiert habe und danach das Urteil kam, ist es hin und wieder passiert, dass der Mandant in Haft musste und abgeführt wurde. Wenn ich bei Alexander Hold plädiert habe, haben wir uns danach auf die Schulter gehauen und haben uns gesagt, dass wir das gut gespielt haben. Wenn ich bei „Lenßen&Partner“ gedreht habe, war es dort auch eine freudige Situation. Wir haben danach einen Kaffee miteinander getrunken. Es ist einfach leichter. Fernsehen ist zeitlich sehr anstrengend und sehr intensiv, aber der Anwaltsberuf mit den Tragödien, die man erlebt, auch auf Seiten der Opfer, denen etwas Schlimmes passiert ist, ist nichts Leichtes. Es ist sehr intensiv, das nimmt einen auch immer mit, und das legt man abends auch nicht ab. Das ist der große Unterschied zum Fernsehen.
MILIEU: Die Tragödien, mit denen man zu tun hat, zu verarbeiten, stelle ich mir nicht ganz leicht vor. Sprichst du mit der Familie darüber?
Lenßen: Als Anwalt ist man zur Verschwiegenheit verpflichtet, also darf man mit niemanden darüber sprechen. Aber natürlich spricht man über Schicksale, ohne Namen zu nennen, oder genauere Sachverhalte darzulegen. Stellen wir uns zum Beispiel eine Familie vor, dessen Vater in Haft muss, weil er Betrug begangen hat oder mit Drogen gedealt oder Körperverletzung begangen hat und die Frau dann alleine mit den Kindern ist und nicht weiß, wie die Wohnung bezahlt werden soll, dann ist es das, was zu Hause erzählt wird.
MILIEU: Der Sport hat in deinem Leben auch immer eine große Rolle gespielt. Hättest du dir eigentlich eine Karriere als Eishockey-Spieler vorstellen können oder war für dich sehr schnell klar, dass du Richter werden willst?
Lenßen: Ich habe mir eine schwere Verletzung zugezogen und die Medizin war damals nicht soweit, sodass ich den richtigen Zeitpunkt der Operation verpasst habe. Aber ich muss sagen, nach fünf Nasenbeinbrüchen, hatte ich einen erheblichen Respekt vor dem Sport und ich glaube, ich habe auch etwas Angst bekommen. Deshalb hat es mit dem Amateursport ganz gut gereicht, das war auch sehr gut. Danach habe ich Trainerscheine gemacht, der Trainerjob hat mir in Nachhinein auch mehr Spaß gemacht, als selber zu spielen. Ich habe dann in der Schweiz Mannschaften trainiert und ich könnte sogar in der 2. Bundesliga Mannschaften trainieren, wenn der Trainerschein noch gültig ist, das müsste ich nochmals schauen.
Aber selber spiele ich jetzt nicht mehr. Für Charity-Veranstaltungen habe ich zwei Mal die Schlittschuhe angezogen und hatte die große Ehre, gegen Uwe Krupp zu spielen. Das war echt toll. Er ist ja der Nationaltrainer und Stanley Cup Sieger, ich glaube es gibt nur zwei Deutsche, die das geschafft haben. Aber meine Zeit ist jetzt rum.
MILIEU: Neuerdings bist du auch als Spielerberater für brasilianische Fußballspieler tätig. Ich habe gelesen, dass du dein Referendariat als angehender Richter in Rio de Janeiro gemacht hast, wo du auch Portugiesisch gelernt hast. War das die Zeit, als du dich in Brasilien verliebt hast? Wie kommt diese besondere Beziehung zu Brasilien zustande?
Lenßen: Der eigentliche Anlass war die Musik. Es gibt zwei große Musiker: João Gilberto und Tom Jobim. Die haben mich schon immer inspiriert und ich wollte das Land sehen, in dem die Musik geboren ist. Das war der Grund dort hinzufahren. Dann hat mich die neue Sprache gereizt. Ich wollte schon immer Portugiesisch lernen, was mir auch ganz gut gelungen ist.
MILIEU: Dein Lieblingsautor E.T.A. Hoffmann ist ja bekannt dafür, dass er gerne düstere Geschichtengeschrieben hat. Warum dieser Autor?
Lenßen: Für mich ist er es, der die schönste deutsche Sprache aufs Papier gebracht hat. Jetzt kommt aber dazu, dass Hoffmann Jurist war, er hat als Richter gearbeitet, er ist Schriftsteller und Musiker gewesen, und gleichzeitig auch noch Maler. Und es gibt Geschichten, in denen er zum Geburtstag des Königs eine Nacht vorher den Gerichtssaal selber bemalt, die Musik für den Tag auch selbst komponiert und dann auch noch selbst das Orchester dirigiert hat. Alles in einem Saal, das könnten wir als Juristen niemals schaffen. Aber ihn habe ich sehr bewundert.
MILIEU: Dein Lebensmotto lautet „Jede Chance kommt wieder“. Inwiefern hat sich dieser Satz in Bezug auf deinen Erfolg im Leben bewahrheitet?
Lenßen: Ja, wenn man darüber nachdenkt, hat sich das mit dem Eishockeyspielen nicht wieder ergeben. Als Profi habe ich es nicht gepackt. Aber ich habe weitergemacht und bin Trainer geworden. Wenn man im Leben etwas nicht schafft, darf man nicht verzagen. Man sollte stattdessen mit echtem Einsatz weitermachen und dann kommt die nächste Chance. Und die nächste Chance ist vielleicht viel besser. Das heißt immer wieder aufstehen und weitermachen.
MILIEU: Du bist verheiratet und hast einen Sohn. Ich habe gelesen, dass du dir gerne mehr Zeit für deine Familie wünschst. Warum kannst du dir sie nicht einfach nehmen?
Lenßen: Das stimmt nicht ganz. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich habe immer genug Zeit mit meiner Familie verbracht, weil ich mir die Zeit für sie freigeschaufelt habe. Ich habe aber wenig Zeit mit meinen Freunden verbracht. Das habe ich ihnen aber auch klar gesagt, dass sie sich jetzt paar Jahre gedulden müssen, bis ich wieder Zeit habe. Und bin auch echt glücklich damit, dass ich die Zeit mit meiner Frau und meinem Sohn verbracht habe. Und heute mache ich das immer noch so, jede frei Minute.
MILIEU: Deine Arbeit verlangt dir sehr viel Energie und Zeit ab. Wie kannst du am besten entspannen?
Lenßen: Wenn ich unterschiedliche Sachen tue, habe ich dabei Spaß. Ich ziehe aus meiner Arbeit Freude. Es ist sehr außergewöhnlich, was ich erleben darf. Denn ich kann meinen Beruf als Anwalt leben, den ich schon immer leben wollte, ich darf als Moderator für das Fernsehen arbeiten. Ich darf für eine Webseite arbeiten und dann bin ich noch in der Werbung tätig und darf unterschiedliche Firmen und Unternehmer kennenlernen, die mich dann wiederum inspirieren. Das ist eine Ausnahmesituation, in der ich mich befinde, und das weiß ich auch. Aber ich kann sagen, dass ich die Freude aus der Arbeit ziehe.
MILIEU: Du hast u.a. Europawissenschaften am Europainstitut in Saarbrücken studiert. Bestimmt beobachtest du seit längerem die Eurokrise. Hat Europa deiner Ansicht nach eine Zukunft?
Lenßen: Wenn das nicht der Fall wäre, könnten wir hier „zu machen". Ich habe einen Bericht gelesen, der sich mit der Situation in Amerika auseinandergesetzt hat. Darin wurde die These aufgestellt, dass die Krise die Chance für Europa sein könnte. Weil wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir enger zusammenrücken müssen, um dem Stand halten zu können, was uns da entgegenkommt. Ich glaube wir tun gut damit, unseren Egoismus zurückzunehmen. Wenn jeder mithilft, dann hat Europa eine Chance. Wenn jedes glaubt, dass er sein Land beschützen muss und nichts abgeben will, dann hat Europa keine Chance.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lenßen!
Transkribiert von Tayyeba Raja