
Irrungen, Wirrungen - Warum der Glaube der Kirche(n) so heruntergekommen ist
15.09.2017 -Ungeachtet der Wiederkehr des Religiösen und der wachsenden weltpolitischen Bedeutung der Religionen sieht es mit den beiden großen christlichen Kirchen in Europa nicht gut aus. Während sie im sozialen und karitativen Bereich noch durchaus hohe Imagewerte erzielen, verlieren sie im Innerkirchlichen, ihrem Kerngeschäft, unübersehbar an Boden.
Für die Kirchen in Deutschland dokumentieren die Shell-Jugendstudien der letzten Jahre ein drastisches Absinken der Gottesdienstbesucherzahlen vor allem bei jungen Mitgliedern. Kirchenbindungen kommen trotz Taufe, Kommunion, Firmung oder Konfirmation kaum mehr zustande. Man mag dies bedauerlich finden; überraschen dürfte es niemanden mehr.
„Mit Kirche darf ich nicht scheiße aussehen“ (Shell-Jugendstudie 2010)
Die Gründe für die enormen Mitglieder- und Popularitätsverluste sind vielfältig; sie nur aufzulisten würde den hier beabsichtigten Rahmen sprengen. Natürlich sind auch die Kirchen in der spätmodernen Gesellschaft von der allgemein diagnostizierten Institutionenkrise nicht ausgenommen. So werden inzwischen eine Reihe religiöser Funktionen von anderen Ritualanbietern und Sinnagenturen mit weitaus größerer Zielgruppenorientiertung übernommen. Eine früher sich eher sozial und politisch definierende Religiosität tritt heute hinter eine deutlich biografiesensiblere Spiritualität zurück. Das Interesse an religiösen Inhalten bemisst sich weitgehend danach, ob und inwieweit sie Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstvergewisserung in Gang setzen. Hinzu kommt: Kirchliche Glaubenssätze und Moralvorstellungen erscheinen der Mehrheit der Gesellschaft als inhaltsleere Phrasen einer ewiggestrigen christlichen Tradition, die mit verständnislosem Kopfschütteln quittiert werden. Mit der Welt, die Menschen tagtäglich erleben, hat diese Art zu reden nichts mehr zu tun. Die Kirchen sind als Orte einer glaubwürdigen Gottesrede nachhaltig diskreditiert.
Die Krise der Kirche resultiert aus einem von innen wie von außen her betriebenen Erosionsprozess des Glaubens
Dies gilt insbesondere für die katholische Kirche. Karl Rahner, einer der großen katholischen Theologen des letzten Jahrhunderts, wies im Anschluss an das Reformkonzil schon in den 1960er und Siebzigerjahren auf einen dringenden Strukturwandel der Kirche hin. Weithin ausgeblendet blieb in diesem Zusammenhang seine geradezu psychoanalytische Diagnostik, hatte er doch im Kommunikationsgeflecht „Kirche“ mit dem so genannten anonymen, genauer: „kryptogamen Häretiker“ bereits die Schwundfigur eines modernen Gläubigen ausgemacht. Als Häresie (von griechisch: hairesis = Wahl/Neigung) bezeichnet man eine vom katholischen Glauben abweichende Lehrmeinung. Häretiker ist, wer von der offiziellen Lehre der katholischen Kirche abweicht und von ihr als solcher auch gebrandmarkt wird. Rahner spürte diesen verborgenen Häretiker auf, indem er den Glauben vieler Christgläubiger als Täuschung und Selbsttäuschung entlarvte. Die Häresie, die sich inmitten der Kirche, an ihrer viel beschworenen Basis auftue, sei unsichtbar, weil sie von niemandem offen bekannt und auch von kaum einem Kirchenoffiziellen öffentlich angeprangert werde. Der Irrglaube des kryptogamen Häretikers bestand für Rahner darin, dass viele Christen im Alltag Lebensregeln folgten, die, würden sie in ihrer inneren Wahrheit und Struktur zu Ende gedacht, als krasser Gegensatz zu dem erkennbar wären, was dieselben Menschen in ihrem Glauben bekennen. Deshalb dächten sie gar nicht erst darüber nach. Man konnte die Dreifaltigkeit Gottes und auch die Jungfrauengeburt irgendwie akzeptieren, man konnte selbst die rigide Sexualmoral irgendwie hinnehmen und zugleich Mitglied einer modernen, fortschrittsgläubigen Gesellschaft sein. Man blieb katholisch, obwohl man längst weite Teile seines Glaubens als realitätsfremd oder wenig originell ausrangiert hatte. Unmerklich verdunsteten Kernbestände von Glauben, Sitten und Moral hin zu einem Parallelkatholizismus neben dem offiziellen römischen Lehramt. Es galt eine Art Nichtangriffspakt. Solange man zur Kirche ging und seine Kinder taufen ließ, war man an Aufklärung über die näheren Umstände nicht interessiert. Heute zeigt sich in voller Drastik das Ergebnis dieser schleichenden Erosion.
Die weitgehende Dialogunfähigkeit kirchlicher Amtsträger verhindert eine kommunikationsoffene Kirche; schlimmer noch: sie produziert klerikale Häresien
Rahner hatte einen Strukturwandel der Kirche gefordert, ihre Öffnung zur Welt, ihre Entklerikalisierung. Er wollte eine charismatische und keine amtliche Kirche; er forderte Seelsorgerinnen und Seelsorger, nicht Bürokraten.
Das Gegenteil aber blieb der Fall. Dogmatische Lehrmeinungen mit unumstößlichem Wahrheitsanspruch gelten seit den frühen Konzilien als Instrumente, die die Gestalt kirchlicher Autorität vor Veränderungen schützen sollen. Es kann aber nicht etwas dadurch wahr sein, dass es kirchlicherseits angeordnet wird. Statt die Glaubenslehre beständig weiterzuentwickeln und am Vermittlungsstil Jesu zu schärfen, wird sie mit administrativen Mitteln gegen jedwede Anfrage verteidigt. Eine kirchenamtlich verordnete „Wahrheit“ ist in sich bereits die Unwahrheit, weil sie den Geist, der wahre Einsicht schenken könnte, mutwillig selbst zerstört, aus Angst, von ihm zerstört zu werden. Was bleibt, ist eine Position der Macht, die umso grandioser nach außen sich gebärden muss, als sie im Innern hohl geworden ist. Hier zeigen sich die massiven Grenzen kirchlicher Kommunikations- und Dialogfähigkeit. Während der kryptogame Häretiker so tut, als ob er noch glaube, diktiert der klerikale Häretiker qua Amt, was einzig und allein zu glauben sei. Beide Haltungen resultieren aus diffusen Verlustängsten und sind im Prinzip Immunisierungsstrategien, deren Handhabungen nun bereits über Jahrzehnte spirituelle Windstille erzeugen.
Ein anschauliches Beispiel für klerikale Häresie liefert aktuell der Passauer Bischof Stefan Oster, wenn er sich vehement gegen die Priesterweihe für Frauen ausspricht. Zum „Geheimnis von Schöpfung und Erlösung“ gehöre, verrät er in einem Interview der Herder Korrespondenz (9/2017), dass Jesus ein Mann war. Deshalb könne der Priester, der „in persona Christi“ handle, keine Frau sein. Bei den Geschlechterrollen gebe es heute zwar einen Wandel, aber nicht alles daran sei „fundamental“, so Oster. Jesus stelle sich im Evangelium eindeutig als „der Bräutigam“ vor, Maria dagegen sei das Urbild der Kirche und die Kirche insgesamt „Braut Christi“.
„Die Tatsache, dass Christus ein Mann ist und Maria als Urbild der Kirche eine Frau, ist kein biologischer Zufall“ (Stefan Oster)
Ohne die Symbolik solcher Bildsprache überhaupt verstanden zu haben, kreiert der Bischof hier eine Version von „Kirche“, die nicht nur sprachlich eine Zumutung ist, sondern auch biblisch durch nichts gestützt werden kann. Dass Frauen in der Kirche ausgegrenzt worden seien und Unterdrückung erfahren hätten, bedauere er. Das sei „eine Sünde der Kirche“, um im nächsten Satz zu betonen, dass der Vorbehalt des Priestertums für Männer vom Grundsatz her nicht in diese „sündigen Strukturen“ gehöre. Das Verbot der Frauenordination sei vielmehr „lehramtlich geklärt“. Wenn die Kirche die „Braut Christi“ sein soll: Was spräche dagegen, an einem substanziell weiblicheren Erscheinungsbild der Kirche zu arbeiten? Männer in festlichen Kleidern reichen definitiv nicht.
Die Inkongruenzen zwischen Klerus und „Volk“ werden notorisch ausgeblendet, ignoriert oder verdrängt und produzieren so unablässig massiver werdende Störungen. Ein Kontroll- und Machtverlust der Kleriker soll unter allen Umständen verhindert werden. Kaum einer der Verantwortlichen will erkennen, dass ein derart Angst verdrängender Dogmatismus die Sterilität einer heruntergekommenen Theologie-Kultur schonungslos unter Beweis stellt.
