Eine Frage des MILIEUs

"Ist eine Impfpflicht sinnvoll?"

01.01.2022 - Peter Nowak

Impfen nicht nur gegen Corona sondern auch gegen das Virus der autoritären Staatlichkeit

Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki hatte Mitte Dezember mit Abgeordneten seiner Fraktion einen Antrag gegen die Impfpflicht in den Bundestag lanciert. Die Abgeordnetengruppe fordert stattdessen mehr Aufklärung der Bevölkerung und niedrigschwellige Impfangebote. Eine solche Position war noch vor wenigen Monaten bei fast allen politischen Parteien Konsens. Vor den Bundestagswahlen wurde von fast allen Politiker*innen mit ganz wenigen Ausnahmen betont, dass eine Impfpflicht schon aus rechtlichen Gründen in Deutschland nicht möglich ist. Trotzdem wurden Kubicki und seine Abgeordnetenkolleg*innen von einigen gleich ins Lager Impfgegner*innen, von Markus Söder von der CSU gar in die Rechtsaußenecke bugsiert. Dabei hatte der FDP-Politiker lediglich wenige Wochen nach der Bundestagswahl die eigenen Versprechen noch nicht vergessen. Das rechnete der Taz-Kommentator ihm Christian Rath positiv an. Doch nicht nur bei dem FDP-Politiker taten sich manche Kritiker*innen schwer damit, Impfgegner*innen von Gegner*innen eines Impfzwangs zu unterscheiden. So wurde die LINKEN-Politikerin Sahra Wagenknecht von Mitgliedern ihrer eigenen Partei zum Wechsel in die AfD aufgefordert, nachdem sie in einer Talk-Show bekannte, sich vorerst nicht impfen zu lassen. Dabei hatte auch Wagenknecht betont, keine grundsätzliche Impfgegnerin zu sein und dafür plädiert, dass ältere Menschen und Risikogruppen sich unbedingt immunisieren lassen sollen. Dass ein solcher Aufruf von ihr bei der Zielgruppe vielleicht mehr Eindruck erweckt, als wenn er von Karl Lauterbach oder Christian Drosten kommt, wurde von ihren Kritiker*innen gar nicht erst in Erwägung gezogen.


Zwang zum sozialen Verhalten?

Woher rührt die Kritik(un)fähigkeit großer Teile der Gesellschaft, einschließlich eigentlich staats- und herrschaftskritischer Gruppen und Initiativen, in Zeiten der Pandemie? Ein gutes Beispiel dafür lieferte der Schriftsteller Ilja Trojanow, der auch vor dem Hintergrund der Verfolgungsgeschichte seiner Angehörigen im bulgarischen autoritären Staatssozialismus in vielen seiner Texte für die Verteidigung und Ausweitung der Bürger*innenrechte gestritten hat und seine Sympathie mit dem Anarchismus nicht verhehlte. In seiner Taz-Kolumne am 1. Dezember 2021 hingegen schlug er andere Töne an. Dort kritisierte er nicht nur, die Politik gehe zu zaghaft mit den Protesten der Impfgegner*innen um. „Es ist traurig, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der soziales Verhalten manchen Mitmenschen aufgezwungen werden muss. Viel zu viele benötigen offenbar die Peitsche der Obrigkeit, um sich im Sinne des Gemeinwohls zu verhalten“, rechtfertigt Trojanow sein Plädoyer für einen Impfzwang. Zuvor hat er bereits apodiktisch festgestellt, dass in Talk-Shows gegen einen Impfzwang „nur Mummenschanz-Argumente mit viel Rhetorik und wenig Logik“ vorgetragen werden. Dabei müssten  sich auch grundsätzliche Befürworter*innen von Impfungen viele Fragen stellen. Warum wird so viel von einem Impfzwang geredet, wo noch nicht einmal klar ist, wie lange der Immunisierungsschutz der jetzigen Impfungen anhält und in welchen Abständen geboostert werden muss? Hat nicht auch das  auch von Trojanow verwendete Argument, mit den Impfungen würde man vor allem die Anderen oder allgemein die Gesellschaft schützen, mit der Delta-Virusvariante an Überzeugung verloren? Haben wir es nicht mit einer Neoliberalisierung des Solidaritätsgedanken zu tun, wenn als unsolidarisch gilt, wer sich noch nicht geimpft hat, aber nicht gesellschaftliche Zustände, die das Gesundheitswesen zur neuen Profitquelle gemacht haben? Warum wird nicht statt über eine Impfpflicht mehr über die Erkenntnisse des Bündnisses Klinikrettung diskutiert, die kürzlich bekannt machte, dass im Jahr 2021, also mitten in der Pandemie, in Deutschland 9 Kliniken geschlossen wurden? Wäre nicht ein massiver Ausbau des Carebereichs, wozu Gesundheit und Pflege gehört, der beste Schutz der Gesellschaft vor den Gefahren von Krankheiten und Pandemien? Lege hier nicht ein Beispiel für ein Verständnis von gesellschaftlicher Solidarität, die dann eben nicht typisch neoliberal den einzelnen Individuen aufgelastet würde? Hat der Publizist Christian Baron nicht recht, wenn er in einem Kommentar in der Wochenzeitung Freitag kritisiert, dass bei der Debatte um die Impfpflicht, die Perspektive von Erwerbslosen, Niedriglöhner*innen, Wohnungslosen, Scheinselbstständigen, Geflüchteten, Armutsrentner*innen, die auf engem Raum und mit wenig Gesundheitsschutz leben, kaum vorkommen? „Ungeimpfte beschimpfen, vom sozialen Versagen der Regierenden aber schweigen“, so Barons Kritik am gegenwärtigen hegemonialen Impf-Monolog.


Impfung gegen Pandemie und autoritäre Staatlichkeit

Es ist gerade kein Plädoyer gegen das Impfen, wenn man solche Fragen stellt und Kritiken äußert. Impfungen waren und sind historisch ein wichtiges Mittel, um gefährlichen Krankheiten und Pandemien ihren Schrecken zu nehmen. Erfolgreiche Impfkampagnen gab es in vielen Ländern, oft initiiert von progressiven Regierungen wie in Kuba in den frühen 1960er Jahren oder in Nicaragua kurz nach der sandinistischen Revolution von 1979. Zu den Gegner*innen der Impfungen gehörten dort auch Kirchen und rechte Politiker*innen. Sie verübten Gewalt und Zwang gegen Menschen, die sich impfen lassen wollten, sowie Ärzt*innen. Eines Impfzwangs bedurfte es damals dagegen nicht, weil die in ein größeres soziales Projekt eingebundenen Immunisierungskampagnen von großen Teilen der Bevölkerung aktiv mitgetragen wurden. Auch heute zeigt sich, dass erfolgreiche Impfkampagnen von der Bevölkerung getragen werden müssen. So inszeniert sich der brasilianische Präsident Bolsanaro als vehementer Impfgegner. Trotzdem ist die Impfquote in vielen brasilianischen Metropolen besonders hoch. Es wird sogar schon vom brasilianischen Wunder gesprochen. Es war die Bevölkerung, die gemeinsam mit sozial engagierten Stadtteilgruppen dafür gesorgt hat. Auch in vielen anderen Teilen der Welt hat nicht ein Impfzwang, sondern die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen an der Basis oder eine gute Aufklärungs- und Informationspolitik, für gute Impfquoten gesorgt. In Deutschland kann der Stadtstaat Bremen dafür als gutes Beispiel dienen.


Immunisierung auch gegen autoritäre Staatlichkeit

In der Taz schrieb der Journalist Jörg Wimalasena den Aufruf „Linke, bleibt autoritätsskeptisch“ als Antwort auf Trojanow. Auch der Sozialwissenschaftler Joachim Hirsch sieht es als Aufgabe einer linken Kritik, die Sinnhaftigkeit der in der Pandemie getroffenen Maßnahmen und deren Auswirkungen kritisch zu hinterfragen. „Das theoretische Rüstzeug dazu war eigentlich vorhanden, aber offensichtlich in Vergessenheit geraten“, so seine Diagnose. Wir brauchen mehr solcher Diskussionen und Debatten,  nicht nur in kleinen Zirkeln, sondern auch in Talk-Shows, in den Medien und auf öffentlichen Plätzen. So können wir nicht einen Beitrag leisten, dass nicht noch weitere Teile der Gesellschaft vom Virus der autoritären Staatlichkeit infiziert werden. Zudem können wir nur so verhindern, dass sich rechte und irrationale Gruppen und Einzelpersonen als Verteidiger der Freiheit aufspielen.



Peter Nowak arbeitet als freier Journalist und dokumentiert seine Texte auf https://peter-nowak-journalist.de. Gemeinsam mit Anne Seeck und Gerhard Hanloser hat er kürzlich im Verlag AG Spak das Buch "Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit" herausgegeben.

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