Jean Ziegler: "Der Aufstand des Gewissens regt sich überall"
01.04.2019 -Seit über einem halben Jahrhundert gehört er zu den engagiertesten Kämpfern für Menschenrechte. Sein Einsatz für das Recht auf Nahrung und gegen die kannibalische Ordnung des Kapitalismus hat ihm Verleumdungen, Morddrohungen und finanziellen Ruin beschert. Doch der Schweizer Soziologe, Politiker, Buchautor und UN-Berater, denkt noch lange nicht an Aufgeben. DAS MILIEU sprach mit dem Menschenrechtler Jean Ziegler über das unsichtbare Leid der Dritten Welt, die Weltdiktatur der Oligarchen, die Legitimationstheorie des Neoliberalismus und die kommende Revolte.
DAS MILIEU: Ich war etwas schockiert als ich gelesen habe, dass Sie Schulden in Millionenhöhe haben. Als ich den Grund erfuhr, musste ich ein bisschen schmunzeln. Sie nannten den Schweizer Wirtschaftsrat „Geier“, den ehemaligen Präsidenten von Mali „Kleptokrat“ und den chilenischen Diktator Pinochet „Faschist“. Sie wurden zu Schadensersatzleistungen verklagt. Lachen Sie heute darüber oder bereuen Sie Ihre Entgleisungen?
Jean Ziegler: Wenn ich Geld hätte, könnte ich jetzt in Revision gehen. Viele dieser Halunken sind ja inzwischen ermordet worden, gestürzt oder verurteilt worden, aber ich habe kein Geld für Revisionszwecke im Haus. Die haben mich natürlich finanziell komplett fertiggemacht. Gegen Großbanken kann man nicht gewinnen, die können die besten Anwälte bezahlen. Aber trotzdem hat der Kampf genützt, weil er Transparenz geschaffen hat. Die Banken mussten sich erklären, sich beteiligen, öffnen. Zuvor waren sie ein Schattendasein gewöhnt. Der Gerichtssaal war ein Kampfplatz, den ich genutzt habe. Ich bereue also nichts von dem.
MILIEU: Mussten Sie jemals befürchten mehr zu verlieren, als nur Geld?
Ziegler: Ich war bedroht, meine Familie war bedroht – bis heute.
MILIEU: Was bedeutet das für Sie konkret?
Ziegler: Das ist der Kontakt eines Polizeiinspekteurs in Genf [Ziegler hält der Interviewerin eine Visitenkarte hin]. Ihm sage ich immer, wo ich auf der Welt bin.
MILIEU: Von wem erhalten Sie die Morddrohungen?
Ziegler: Ich weiß nicht genau, ob es ausländische Geheimdienste sind, die mich verschrecken und zum Schweigen bringen wollen oder ob es Verrückte sind. Es kann alles sein. Fest steht, dass es sich um anonyme Morddrohungen von Menschen handelt, die sehr genau über mich und meine Familie Bescheid wissen. Sie wissen etwa, wo meine Kinder zur Schule gehen und wo sie wohnen.
MILIEU: Sie machen sich seit Jahrzehnten viele Feinde. Sie benutzen oft eine sehr harte Sprache, moralische Urteile und emotionale Argumente. Viele halten Ihre Art und Weise nicht für besonders sachlich oder pragmatisch. Können Sie das verstehen?
Ziegler: Manchmal muss man Scheiben einschlagen, um gehört zu werden. Sartre hat gesagt: „Wer die Menschen liebt, muss sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“ Was sie unterdrückt, nicht wer sie unterdrückt. Mein Gegner ist nicht eine bestimmte Personen, sondern ein System. Es ist gleich, ob der Präsident von Nestlé, dem größten Lebensmittelkonzern, ein netter Mensch ist, der es gut meint oder ein absoluter Halunke ist. Das ist nicht das Problem. Denn sie sind alle dem Phänomen unterworfen, das wir in der Soziologie strukturelle Gewalt nennen.
Wenn der Präsident von BNP Paribas oder Sanofi nicht den Börsenwert seiner Aktie – die Kapitalrendite, auch Shareholder Value genannt – um 10 oder 15 Prozent pro Jahr steigert, wird er binnen Monaten aus dem Amt gejagt. Einzelne Personen zu hassen, nützt also gar nichts, wir müssen versuchen, die kapitalistische Weltordnung zu verstehen, ihr kannibalisches Wesen. Noam Chomsky, mein Kollege und Freund in Boston, bezeichnet die transkontinentalen Privatunternehmen als gigantische unsterbliche Personen. Ich nenne sie banaler die kalten Monster.
MILIEU: Ihre Argumente sind verständlich, aber glauben Sie, dass Sie durch Ihre Art die Herzen der Schuldigen erreichen?
Ziegler: Die Herzen der Oligarchen kann man nicht erreichen. Ich glaube das ist sinnlos, denn sie sind zubetoniert. Es geht mir eher um die Masse der Menschen. Jeden Freitag seit dem 16. März gehen jetzt Millionen von Menschen, SchülerInnen, Kinder in vielen Städten der Welt auf die Straße und protestieren gegen die Zerstörung des Planeten. Die muss man erreichen. Mein Buch soll eine Waffe sein für Menschen, die im Aufstand sind.
MILIEU: Und mit einzelnen Machthabern und hochrangigen Funktionären zu sprechen, macht für Sie überhaupt keinen Sinn?
Ziegler: Die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals entscheiden jeden Tag, wer auf diesem Planeten das Recht hat zu leben und wer dazu verurteilt ist zu sterben. Die Merkmale ihrer Politik sind extremer Pragmatismus und eine Vielzahl innerer Widersprüche. Im Inneren dieses Systems bekämpfen sich feindliche Fraktionen. Es ist in seiner Gesamtheit von unerbittlicher Konkurrenz geprägt. Untereinander liefern sich die Herrscher der Welt fortwährend homerische Schlachten. Ihre Waffen sind Zwangsfusionen, Unternehmensverlagerungen, feindliche Übernahmeangebote, Errichtung von Oligopolen, Vernichtung von Gegnern durch Dumpingpreise oder Desinformationskampagnen. Mord ist seltener, aber diese Herren haben keine Scheu, im Notfall auch darauf zurückzugreifen.
Doch sobald das kapitalistische System in Gänze oder in einem seiner wesentlichen Teile bedroht oder auch nur infrage gestellt wird, bilden die Oligarchen und ihre Lakaien eine geschlossene Phalanx. Beseelt von ihrem Machttrieb, der Gier und dem rauschhaften Gefühl grenzenloser Verfügungsgewalt, verteidigen sie mit Zähnen und Klauen die Privatisierung der Welt. Der verdanken sie nämlich extravagante Privilegien, Pfründen ohne Zahl und persönliche Vermögen astronomischen Ausmaßes.
MILIEU: Diese Oligarchen, tragen die ganz allein die Schuld für das Leid auf der Welt?
Ziegler: Zur Vernichtung und zum Elend, das den Völkern angetan wird durch die Raubritter des globalisierten Finanzkapitals, durch ihr militärisches Imperium und durch ihre Söldner der internationalen Handels- und Finanzorganisationen, kommen die katastrophalen Folgen von Korruption und Veruntreuung hinzu, die in zahlreichen Regierungen – vor allem der Dritten Welt – gang und gäbe sind. Denn die Weltordnung des Finanzkapitals kann nicht ohne die aktive Komplizenschaft und die Korruption der einheimischen Regierungen funktionieren.
MILIEU: Für Menschen hierzulande ist das Leid der Dritten Welt mehr oder weniger unsichtbar...
Ziegler: Gegenwärtig sind wir 7,3 Milliarden Menschen auf unserem schutzlosen Planeten. 4,8 Milliarden, das heißt mehr als zwei Drittel, leben in einem Land der südlichen Hemisphäre, davon Hunderte Millionen unter unwürdigen Bedingungen. Die Mütter haben panische Angst vor dem Morgen, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder einen weiteren Tag ernähren sollen. Die Väter werden erniedrigt, verachtet bis in ihre Familien hinein, weil es ihnen nicht gelingt, Arbeit zu finden – sie sind Opfer der sogenannten Dauerarbeitslosigkeit. Die Kinder wachsen in Elend und Angst auf, häufig sind sie Opfer häuslicher Gewalt, ihre Kindheit liegt in Trümmern. Für zwei Milliarden Menschen – die gemäß Weltbank in „extremer Armut“ leben – gibt es keine Freiheit. Ihre einzige Sorge ist ihr Überleben. Die verheerenden Auswirkungen der Unterentwicklung sind Hunger, Durst, Epidemien und Krieg. Sie vernichten jedes Jahr mehr Männer, Frauen und Kinder als die fürchterliche Schlächterei des Zweiten Weltkriegs in sechs Jahren. Was viele von uns zu der Auffassung bringt, dass für die Völker der Dritten Welt der „Dritte Weltkrieg“ längst begonnen hat.
MILIEU: Ihr Zorn richtet sich, wie Sie anfangs sagten, gegen die strukturelle Gewalt des kapitalistischen Systems. Wie äußert sich diese Gewalt?
Ziegler: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren auf diesem Planeten. Das sind die Zahlen der WHO und der UNO. Und derselbe UNO-Bericht sagt aus, dass wir genug Ressourcen in der Weltlandwirtschaft haben, um problemlos zwölf Milliarden Menschen, zu ernähren, was das Doppelte der Weltbevölkerung ist, würden die Nahrungsmittel nur gerecht und gleich verteilt. Wenn die Bedingung für den Zugang zur Nahrung nicht die Kaufkraft wäre, sondern die gemeinwirtschaftliche Aktivität. Ein Kind, das während wir miteinander sprechen, wird ermordet.
Es ist ein tägliches Massaker an Zehntausenden von Kindern durch Unterernährung, Hunger und Hungerkrankheiten, für Epidemien, die schon lange von der Medizin besiegt wurden, für die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die Vergiftung der Böden, des Grundwassers und der Meere oder die Vernichtung der Wälder. Dieses Leid ist kein gottgegebenes Schicksal, sondern menschengemacht. Was Sie, mich, und ihre kleine Tochter von den Opfern trennt ist nur der Zufall der Geburt. Das macht mich traurig. Diese totale Absurdität des Massakers von Menschen zum Zwecke der Profitmaximierung.
MILIEU: Sie sagen, dass die kapitalistische Maschinerie nur fortbesteht, weil es Vertreter aus Politik, Medien und Wirtschaft gibt, die der Entfremdung zum Opfer gefallen sind. Was meinen Sie damit?
Ziegler: Die Weltdiktatur der Oligarchie verbreitet eine Legitimationstheorie. Man bezeichnet sie als Neoliberalismus. Sie kauft die Presse und die Politik, um diese Theorie zu verbreiten. Ihre Vertreter glauben, es sei „die unsichtbare Hand des Marktes“, die die Welt regiere und deren Wirken von unveränderlichen „Naturgesetzen“ bestimmt werde, nicht anders als die Gravitation oder die Bahnen der Planeten.
James Wolfensohn, ein australischer Milliardär, der Präsident der Weltbank wurde, sah die sogenannte stateless global governance (Weltregierung ohne Staat) als das endgültige Ziel der Menschheitsgeschichte an. Das heißt: Vertrauen wir auf die Selbstregulierung des von allen Einschränkungen befreiten Weltmarktes. Oder auch: Beseitigen wir jede öffentliche Kontrollinstanz im Wirtschaftsleben. Das ist der kontinuierliche Versuch, die Marktkräfte als Naturkräfte darzustellen, denen sich der Mensch nur hingeben kann und unterwerfen muss. Das ist das entfremdete Bewusstsein. Wenn ein Hund, einen anderen Hund sieht, wie er gequält und schlagen wird, geschieht nichts. Aber wenn ein Mensch ein Kind sieht, dass gequält und geschlagen wird, dann bricht in ihm etwas zusammen. Das menschliche Identitätsbewusstsein wird jedoch zunehmend von der neoliberalen Wahnidee verschüttet.
MILIEU: Als ich Ihr Buch gelesen habe, war ich manchmal sehr traurig oder wütend, aber immer wieder habe ich mich auch klein und allein gefühlt. Wie fühlen Sie sich?
Ziegler: Ich war acht Jahre lang UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Dann Vizevorsitzender des UNO-Menschenrechtsrates und sehe dadurch von Jemen bis Syrien ganz fürchterliche Dinge. Doch die Geschichte lehrt uns, dass auch die größten Tyrannen, die stärksten Oppressionssysteme der Sklaverei oder des Kolonialismus eines Tages zusammenbrechen.
Der Prophet Mohammed hat die Völker des Nahen und Mittleren Ostens aufgeweckt und aus ihrer Knechtschaft befreit. Gegen eine Übermacht der Gegner erkämpfte sich sein Volk ihre Menschenwürde und Freiheit zurück. Und heute ist der Islam eine Weltreligion mit großer Wirkungsmacht. Das hat tatsächlich stattgefunden. Solche Revolutionen werden auch im Kampf gegen den Kapitalismus erfolgreich sein.
MILIEU: Sie haben Geduld?
Ziegler: Die Utopie realisiert sich in kleinen Schritten. Che Guevara hat geschrieben: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse“. Die Kraft der Revolte beruht auf der vernunftbestimmten Weigerung eines jeden von uns, auf Dauer eine Welt zu akzeptieren, in der die Verzweiflung, der Hunger, das Elend, die Leiden und die Ausbeutung der Mehrheit die Basis für das relative Wohlergehen einer überwiegend weißen und in Unkenntnis ihrer Privilegien lebenden Minderheit bilden.
„Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir“, hat Immanuel Kant geschrieben. Der moralische Imperativ ist in uns allen. Es geht darum, ihn wachzurufen, den Widerstand zu mobilisieren, den Kampf zu organisieren. Die Revolte, der Aufstand des Gewissens, regt sich überall. Gegenwärtig erleben wir eine Vervielfältigung der Widerstandsfronten. In allen Lebensbereichen.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Ziegler.
Jean Ziegler: "Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin", C.Bertelsmann, 2019.
Foto: © Jacques Erard