Publizist im Interview

Jürgen Todenhöfer: "Es ist nicht mein Ziel, gegen den Strom zu schwimmen"

01.05.2019 - Tahir Chaudhry

Er war Richter im Landgericht Kaiserslautern, Abgeordneter des deutschen Bundestages und Medienmanager beim Burda-Verlag. Seit 2001 trat er zunehmend als Publizist auf, der die Krisenherde dieser Welt bereiste und sich gegen die militärischen Interventionen des Westens aussprach. Heute tut er dies zusammen mit seinem Sohn Frédéric und wirbt unermüdlich für einen friedlichen und gerechten Umgang mit anderen Völkern und Kulturen. Sein aktuelles Buch "Die große Heuchelei" soll das wahre Gesicht des Westens durch Vor-Ort-Reportagen offenlegen und über das System der brutalen Interessenpolitik mit Blick auf die Historie aufklären. DAS MILIEU sprach mit dem Publizisten Jürgen Todenhöfer über seine unbändige Neugier, die Verurteilung seiner Person, das Gerücht über die Muslime und den Untergang der westlichen Zivilisation.

DAS MILIEU: Sind Sie ein Verschwörungstheoretiker?

Jürgen Todenhöfer: Ich halte nichts von reinen Theorien und Spekulationen. Ich gehe hin und schaue mir das an. Wenn mir jemand damit kommt, dass 9/11 ein Inside-Job war, dann sage ich immer: „Beweis es mir oder lass mich in Ruhe!“ Ich erlaube mir kein abschließendes Urteil, ohne alle Beweise vorliegen zu haben. Das Grundproblem, das ich in der Welt sehe sind nicht die großen Verschwörungen, sondern dass Menschen versuchen, sich dem Diktat der Mächtigen anzupassen. Da muss sich niemand zusammensetzen, um etwas Bestimmtes zu erzwingen, sondern man weiß einfach, wer die Macht hat. Und diese Macht hat eine bestimmte Meinung, der sich derdie Mehrheit der führenden Vertreter aus Politik und Medien unterordnen. Ich tue es nicht.

MILIEU: Sie prangern oft die USA an. Würden Sie gleichermaßen Russland kritisieren?

Todenhöfer: Ich habe zum Beispiel die russischen Angriffe auf Aleppo massiv kritisiert. Allerdings habe ich dazu in meinem Buch auch geschrieben, dass für einen Teil der westlichen Medien und Politiker nur russische Bomben die bösen Bomben waren. Ich war in Aleppo während der Bombardements. Die Russen haben dort geschätzt 10.000 Menschen getötet und die Amerikaner haben in Mossul 20.000 Menschen getötet. Man muss gegen beides protestieren. Ich war während des sowjetischen Krieges gegen Afghanistan drei Mal zu Fuß dort und habe unter den Mudschahedin gelebt. Meiner Meinung nach hat die Sowjetunion dort eine gefährliche Expansionspolitik betrieben. Die Amerikaner betreiben heute eine gefährliche Expansionspolitik, die uns als Verbündete zum Verhängnis werden könnte.

MILIEU: Wo stehen Sie auf dem politischen Spektrum? Links, in der Mitte, rechts?

Todenhöfer: Wer mich kennt, weiß, dass diese Clichés für mich nicht passen. Ich bin gerne vorne. Es gab mal einen Kommentar über mich in der FAZ mit dem Titel „Immer im Angriff“. Das passt auch heute noch. Aber ich überschätze meine Rolle nicht.

MILIEU: In welcher Rolle sehen Sie sich?

Todenhöfer: Der Zufall brachte mich in die Politik. Ich war 18 Jahre Mitglied des Bundestages und anschließend 22 Jahre im Vorstand eines internationalen Medienunternehmens. Dadurch kenne ich viele von denen, die Entscheidungen treffen. Ich kann Informationen beschaffen und weiterleiten. Dadurch entstehen nicht nur Möglichkeiten, sondern auch eine Verpflichtung.

MILIEU: Sind Sie noch CDU-Mitglied?

Todenhöfer: Ja.

MILIEU: Wie sehr fühlen Sie sich dieser Partei noch verbunden?

Todenhöfer: Naja, wenn eine Frau Sie heiratet, dann heiratet sie ein ganzes Paket. In diesem Paket sind dann eben nicht nur gute Eigenschaften, sondern auch schlechte. Das gilt für mich genauso wie für eine Partei. Die CDU hat aus meiner Sicht riesige Verdienste am Aufbau Deutschlands, das daraus ein friedliches, wohlhabendes und im Kern rechtsstaatliches System entstanden ist. Dann schaue ich mir aber zum Beispiel das Wahlverhalten zu Afghanistan an und sehe, dass alle außer die Linken dem Einmarsch zustimmten – alle, auch die, die Schwerter zu Pflugscharen machen wollten.

MILIEU: Wenn man sich Ihr Wahlplakat anschaut, mit dem Sie 1972 in den Bundestag zogen, könnte man oberflächlich betrachtet denken, Sie seien ziemlich angepasst gewesen, aber Sie waren anscheinend schon immer alles andere als das...

Todenhöfer: Ich war einer von drei Abgeordneten, die die Deutsche Einheit wollten. Das war für mich immer ein soziales Problem: uns ging es gut, den anderen nicht, also Wiedervereinigung. Von oben hieß es dann, man müsse so jemanden aus der Partei schmeißen. Der Sprecher von Helmut Kohl hat später geschrieben, dass ohne Todenhöfer die Wiedervereinigung aus dem Parteiprogramm entfernt worden wäre. Es war tatsächlich so, dass Kohl und Geißler das tun wollten. Als ich davon über das Radio erfuhr, gab ich eine Stellungnahme nach der anderen ab. Daraufhin wurde es denen zu heikel und sie nahmen die Wiedervereinigung wieder ins Programm auf.

MILIEU: Warum haben Sie sich so stark für die Wiedervereinigung eingesetzt?

Todenhöfer: Es ging mir um Gerechtigkeit. Ich kann nicht behaupten, dass ich in meinem Privatleben immer gerecht zu anderen Menschen war. Das ist ein Lernprozess. Aber generell fiel es mir schwer, zuzusehen, wenn etwas Ungerechtes vor meinen Augen geschehen ist. Ich habe mich als kleiner Bub in Hanau als die amerikanischen Panzer an unserem Haus vorbeirollten, quer auf die Straße gelegt. Meine Familie hatte aus dem Fenster beobachtet, wie diese Panzerkolonne drumherum einen riesigen Umweg machte und auf einen Sandweg auswich. Sie gingen raus und sahen mich auf der Straße liegen. Die amerikanischen Soldaten hatten mich und meine Freunde beim Spielen gestört. Ich fand, dass das überhaupt nicht ging.

MILIEU: Dazu braucht man nicht nur Courage, sondern darf auch keine Berührungsängste vor fremden Kulturen haben. Für einen konservativen Politiker ist das recht ungewöhnlich.

Todenhöfer: Zu wissen, was hinter einer Sache steckt, ist aber auch ziemlich spannend. Ich bin ein extrem neugieriger Mensch. Ich war 19 Jahre und Student in Paris. Ich stand am Boulevard Saint-Michel und dem Boulevard Saint-Germain, die sich kreuzten und sah zwei Kolonnen aufeinandertreffen. Die einen brüllten: „Algérie française“ und die anderen: „Algérie algérienne“. Dann krachte es zwischen beiden unheimlich. Ich sah mir das lang genug an. Ich hatte noch 50 Mark in der Tasche und reiste nach Algerien. Ich fuhr mit dem Motorrad los, hatte einen Unfall und musste trampen bis ich den Hafen erreichte. Im vierten Unterdeck eines Schiffes gelangte ich nach Algier und schaute mir dort den Krieg aus nächster Nähe an, weil ich wissen wollte, was da wirklich los war.

Können wir nicht über etwas Anderes reden? Ich bin doch nicht beim Psychiater. Es ist doch grauenvoll, dass ich erklären muss, warum so und nicht so...

MILIEU: Mich interessiert aber schon, warum sie tun, was sie tun.

Todenhöfer: Wenn hier die Wahrheit über unsere Kriege erzählt werden würde, müsste ich nichts dazu schreiben. Als ich jung war, habe ich immer gedacht: hätten unsere Eltern nicht aufstehen müssen, als sich der Hass gegenüber Juden breitmachte und die Verfolgung begann? Irgendwann habe ich dann erkannt, dass ich mir weniger Gedanken darüber machen sollte, ob ich denn damals ein Widerstandskämpfer geworden wäre, sondern eher im Hier und Jetzt gegen jegliches Unrecht den Mund aufmachen sollte. 

MILIEU: Ich habe in vielen Redaktionen von großen Medienhäusern gearbeitet. Immer, wenn dort Ihr Name gefallen ist, folgten teilweise Bezeichnungen wie „Wichtigtuer“, „Moralapostel“ oder „Populist“. Können Sie das verstehen?

Todenhöfer: Ich lese gerne Bücher über die Entstehung des Universums und aktuell „Eine kurze Geschichte von fast allem“ von Bill Bryson. Darin wird der Prozess des wissenschaftlichen Fortschritts in der Biologie, Geologie, Astronomie oder Physik geschildert. War das nicht immer schon so? Wenn jemand aus der herrschenden Meinung ausgebrochen ist und gesagt hat: „Das war alles ganz anders!“, dann wurde der nicht nur ausgeschlossen, sondern eingekerkert oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dagegen finde ich die Form der Kritik mir gegenüber sehr human.

Ich habe vor Kurzem das Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari gelesen. Ich verschlinge ein Buch nach dem anderen von ihm und je mehr ich übrigens von diesem brutalen Atheisten lese, desto Gläubiger werde ich. Harari nennt u.a. ein Beispiel von einem US-amerikanischen Wissenschaftler, der sich gegen die Bleilobby stellte, in Zeiten, in denen man Blei ins Benzin kippte, damit der Motor von Autos besser lief. Der Wissenschaftler erbrachte den Beweis dafür, dass Blei gesundheitsschädlich bis tödlich sei und wurde für seine Entdeckungen von der Blei- und Benzinindustrie gejagt. Erst verlor er die Forschungsmittel und dann seinen Lehrstuhl.

MILIEU: Was haben Sie verloren?

Todenhöfer: Wenig.

MILIEU: Warum?

Todenhöfer: Ich habe eine Menge Freunde. Es gibt viele Journalisten und Politiker, die meine Arbeit wichtig finden, aber dann gibt es auch eine große Zahl von ihnen, die meinen, es wäre gefährlich, was ich tue. Ich verliere nichts durch ihren Umgang mit mir. Es gibt Medien in Deutschland, die versuchen, mein neues Buch totzuschweigen – aus verständlichen Gründen. Ich meine natürlich nicht alle Medien. Es gibt auch ganz tolle Journalisten. Mit einigen von ihnen pflege ich Freundschaften. Ich meine die führenden Massenmedien. Früher war das sicherlich schwieriger als heute. Mein Buch ist nach drei Verkaufstagen auf Platz 3 der GfK-Liste und auf Platz 4 der Spiegel-Bestsellerliste gelandet, obwohl ich von den führenden Massenmedien ignoriert werde. So what! Ich brauche keine Unterstützung. Die Wahrheit, der ich vielleicht nahe gekommen bin oder gar getroffen habe, bahnt sich ihren Weg. Aber wer hört denn auch gerne die Wahrheit, dass über Jahrhunderte hinweg wissentlich geheuchelt wird? 

MILIEU: Nennen Sie ein Beispiel.

Todenhöfer: Wir brauchen gar nicht 500 Jahre zurückgehen. Bleiben wir bei Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien. Immer hieß es, wir setzen uns dort für Menschenrechte und Demokratie ein. Als Deutschland in Afghanistan einmarschierte, habe ich mit vielen Politikern gesprochen, viele anständige Menschen, die ich aus meiner Zeit als Abgeordneter kannte. Als ich nach Gründen für den Einmarsch fragte, erzählten sie mir die Geschichte von afghanischen Mädchen, die nicht zur Schule gehen könnten und sie sagten, es gehe um den Bau von Brunnen oder die Freiheit von Frauen. Ich sagte: „Das könnt ihr mir doch nicht im Ernst erzählen!? Ihr geht doch wegen den Amerikanern aus Bündnisgründen rein.“. Ein Land, in dem sich ein staatenloser Terrorist zuletzt niederließ, der aus Saudi-Arabien kam und dann in Pakistan und Sudan lebte, wegzubomben und plattzumachen, das war doch vollkommen absurd! Aber die meisten machten sich darüber keine Gedanken und blieben lieber bei der Schulmädchen-Story. 

Wenn ich heute unsere politischen Entscheider frage, wie es den Schulmädchen heute nach 17 Jahren Krieg in Afghanistan geht, dann kommt die Antwort: „Welche Schulmädchen?“. Das war doch der Kriegsgrund? Wenn ich dann frage, wie viele Mädchen heute in die Schule gehen, dann heißt es immer: „Kann ich nicht sagen“. 40 Prozent. Aber das interessiert niemanden. Sie erzählen der Bevölkerung ein Märchen. 

MILIEU: Worum geht es der westlichen Außenpolitik, wenn nicht um Werte wie Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung?

Todenhöfer: Der Westen hält sich an diese Werte nur im Westen. Sie stehen also nur uns zu und nicht den anderen. Wir haben eine kulturelle Apartheid. Aber es wäre eine Illusion zu glauben, dass führende Weltpolitiker eine klare und feine Strategie haben. Als ich während des letzten Präsidentschaftswahlkampfs in den USA war, habe ich Leute wie Rupert Murdoch, dem Ex-Koordinator der Geheimdienste, Richard Perle, der den Irak-Krieg in einer Kommission vorbereitete oder Arthur Sulzberger, den ehemaligen Herausgeber der New York Times, getroffen. Ich fragte sie, ob sie eine Strategie für den Nahen und Mittleren Osten hätten. Die Antwort war oft ein schallendes Gelächter und „Nein, haben Sie eine?“. Das sind Insider. Sie betreiben Instinktpolitik. Das heißt: all diejenigen, die sich nicht dem US-Diktat anpassen, kriegen eine auf die Mütze. Divide et impera. Es geht um Einflussnahme, Machterweiterung und Selbstbereicherung. Die meisten Politiker entscheiden sich nicht unbedingt bewusst dafür, sondern sie schauen einfach immer darauf, in welche Richtung der Strom fließt und was ihnen genügend Beifall einbringt. Das ist eine menschliche Neigung. Sie hätten sicher auch nichts dagegen, wenn Ihr Einfluss steigen würde…

MILIEU: …wenn ich ihn dafür einsetzen könnte, Gutes zu bewirken? Nein. 

Todenhöfer: Es ist dabei nicht mein Ziel, immer gegen den Strom zu schwimmen. Ich bin aber immer bereit dazu, auch wenn es mir Follower kostet. 

MILIEU: Ein großer Teil Ihrer Anhängerschaft besteht aus Muslimen. 

Todenhöfer: Muslime sind keine besseren oder wertvolleren Menschen als alle anderen. Ich würde mich auch schützend vor Christen oder Juden stellen, wenn sie angegriffen werden würden. Aber die Geschichte, die wir jetzt über die Muslime erzählen, erinnern an das dritte Reich. Der dunkelhäutige Muslim, vor dem sich die blonden Frauen fürchten müssen? Das ist übelste Hetze. Ich kenne alle Statistiken über Gewalttaten und ich schaue mir als ehemaliger Richter die Zahlen an. Ich nenne jetzt mal die fantasierte Zahl von 100 Vergewaltigungen pro Tag in Deutschland. Unter diesen 100 wird sicher auch ein Migrant dabei sein. Warum ist der eine aber in bestimmten Medien am nächsten Tag in der Schlagzeile? Die hätten doch auch die 99 anderen Fälle thematisieren können. Seit fast 30 Jahren sind in Deutschland zwölf Menschen durch den islamistischen Terror getötet worden, aber mehr als 200 durch Rechtsextreme. Warum ist der Islam eine Bedrohung?

MILIEU: Derzeit warnen viele führende Politiker vor einem importierten Antisemitismus aus islamischen Ländern. Sind das keine berechtigten Sorgen?

Todenhöfer: Das ist eine der größten Schamlosigkeiten, die verbreitet werden. Das sagt ein Land, dass Millionen von Juden ermordet hat, so pauschal über andere Länder? Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Islamischen Welt, wo Juden aus Furcht vor der Unterdrückung durch Christen zu den Muslimen flohen. Ich mache immer wieder private Umfragen in muslimischen Ländern. Als ich in Jemen war, habe ich Juden getroffen, die ich gefragt habe, wie sie sich dort fühlen. Sie haben gesagt, dass sie schon immer dort lebten und weiterhin dableiben wollen, weil sie sich wohlfühlen. Ich fragte, Houthi-Rebellen an der Front, was sie denn von Juden hielten. Ich bekam immer dieselbe Antwort: „Wir lieben unsere Juden, aber mit der Politik von Israel sind wir überhaupt nicht einverstanden.“ Dort wurde immer der Unterschied zwischen der jüdischen Religion und dem israelischen Staat gemacht, aber hier im Falle der Muslime gibt es die Unterscheidung nicht und alles, was muslimisch-geprägte Staaten tun, ist immer mit dem Islam verknüpft.

MILIEU: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der bevorstehende Untergang der westlichen Zivilisation eine Folge davon sein würde, wie wir mit der Islamischen Welt umgehen. Im Westen zieht dagegen die Sichtweise immer größere Kreise, dass der Untergang unserer Zivilisation eine Folge der Islamisierung sein würde. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz in der Selbstanalyse?

Todenhöfer: Der Grund, warum ich viele islamische Länder bereist habe, waren die vielen islamfeindlichen Klischees, mit denen wir im Westen aufwachsen. Ich erlebte auf meinen Reisen nicht Menschen, die einen bespringen, töten oder berauben wollten, sondern Menschen, die mir eine überaus große Gastfreundlichkeit entgegenbrachten. Ich sah, dass Muslime ihre Frauen nicht unterdrückten, sondern dass ihre Frauen die Königinnen der Familien waren. Unzählige Klischees lösten sich in Luft auf. 

MILIEU: Woher kommen diese Klischees?

Todenhöfer: Die Menschen haben immer Angst vor dem Fremden. Diese Ur-Ängste lassen sich schnell mobilisieren. Hinzu kommt die historische Rivalität zwischen der islamischen und christlichen Welt, die den meisten Menschen nicht bewusst ist. Es gibt das Buch „Orientalismus“ von Edward Said, einem christlichen Palästinenser, der belegt, wie westliche Forscher ab 1800 mit dem Abstieg der Bedeutung der islamischen Länder systematisch aus rassistischen Motiven heraus versucht haben, die Minderwertigkeit der Muslime nachzuweisen. Die islamische Welt hat allerdings nach dem Untergang des römischen Reiches Grandioses geleistet. Hierzulande behaupten dennoch nicht wenige Menschen: „Diese Muslime haben noch nie etwas hingekriegt!“. Sie lachen darüber, wenn man ihnen erzählt, dass Muslime möglicherweise die höchste Kultur gehabt haben, die die Welt jemals gesehen hat. Dass sie uns über mehrere Jahrhunderte hinweg weit überlegen waren, wollen wir nicht zugeben.

MILIEU: Halten Sie es für ein größeres Problem, dass die Menschen nicht von den historischen und politischen Zusammenhängen wissen oder dass sie es wissen, aber dann doch nichts dagegen tun?

Todenhöfer: Das größere Problem ist, dass die Menschen nur ahnen, dass es den Heuchlern um egoistische Interessen, Macht, Märkte, Geld und Öl geht. Mit welch brutalen Mitteln das geschieht, davon gibt es keine Bilder. Es gibt Bilder von Kindern, die von den Russen oder von der syrischen Regierung getötet werden, aber gibt es Bilder von Kindern, die von westlichen Mächten getötet wurden? Das muss gezeigt werden. Dazu muss man dann auch tiefer in die Geschichte einsteigen, um zu belegen, dass das eine kontinuierliche Strategie ist. Wenn man Menschen zu Tausenden erschlägt, wie es Columbus bei der Entdeckung fremder Länder tat, dann ist das natürlich besser für das eigene Gewissen, wenn gesagt werden kann, dass das für die Verbreitung des Christentums notwendig gewesen sei. Heute brauchen Politiker, wenn sie gewählt werden wollen, öffentliche Rechtfertigungsgründe, weil sie nicht einfach sagen können, dass sie Leute erschlagen wollen, um ihre Macht auszuweiten oder ihr Geld zu vermehren.

MILIEU: Sie werden in diesem Jahr 79. Seit mehr als einem halben Jahrzehnt bereisen Sie Kriegsgebiete und sehen das Leid auf der Welt mit eigenen Augen. Nietzsche hat gesagt: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“.

Todenhöfer: Es nimmt einen schwer mit, wenn man dieses unfassbare Leid sieht. Mein Sohn Frédéric hat das fast umgehauen, was wir zuletzt in Syrien gesehen haben. Wir waren ist West-Aleppo, das von Jabhat al-Nusra bombardiert wurde und haben dort z.B. ein kleines Mädchen gesehen, das unglaublich hübsch war, mit großen Kulleraugen. Aber sie hatte keine Beine mehr und die halbe Hand war weg. Frédéric hat zu mir gesagt: „Sag bitte ihrer Mutter, dass wir ihr Prothesen finanzieren werden“. Ich tat es und als wir weitergingen, lag dort ein kleiner Junge, dem ein Bein fehlte. Da lief Frédéric raus. Er war fix und fertig. Er ist sehr zornig geworden und hat sehr harte Worte gebraucht. Was hätte er in dem Moment auch sonst tun können? Es gab noch ein anderes kleines Mädchen, das wir lange Zeit in Nähe von Tora Bora besuchten, die ich gefragt hatte, was würdest du George W. Bush fragen, wenn du ihn treffen würdest. Sie hat geantwortet: „Wenn ich den König von Amerika treffen würde, würde ich ihn fragen: was habe ich dir getan?“. Ihre Eltern und Ihre Schwestern waren tot.

MILIEU: Wir reden oft über die große Apokalypse. Dabei geht heute und jeden Tag für irgendwen irgendwo die Welt unter. 

Todenhöfer: Das ist richtig. Heute Abend habe ich eine Stelle vorzulesen, vor der ich großen Respekt habe. Eine Familie macht alles mit, was der IS ihr zugemutet hat und dann wird dort gebombt. Die Nachbarstochter stirbt und sie rennen raus und begraben sie. Ihr Sohn will am nächsten Morgen zu Freunden, um zu besprechen, was jetzt zu tun ist. Die Mutter sagt beim Abschied einen Satz, den alle Mütter sagen: „Bitte pass auf dich auf!“. Dann kommt die Rakete, die seinen Kopf abtrennt und seine Eltern stürzen sich auf seinen Körper. Sein Bruder schreit nur: „Lasst uns in Ruhe! Ihr könnt unser Öl haben, unsere Politiker, aber lasst uns in Ruhe! Und den Rest wird Gott regeln!“. Diese Menschen fragen mich dann, warum ich es nicht verhindere, wenn ich doch all die entscheidenden Politiker kenne.

MILIEU: Diese Politiker wissen doch, was geschieht. Fehlt ihnen Empathie?

Todenhöfer: Sie haben es nie mit eigenen Augen gesehen. Sie gehen nicht zu den Opfern in die Krankhäuser. Sie schauen es sich nicht an, weil sie es nicht ertragen könnten. Sie gehen nicht in die Kampfzonen. Unsere Politiker fürchten sich vor dem Krieg, den sie führen.

MILIEU: Sie haben kürzlich gemeinsam mit Ihrem Sohn das Buch „Die große Heuchelei“ veröffentlicht. Was unterscheidet dieses Buch von Ihren vorherigen Büchern?

Todenhöfer: Das Buch beschreibt die Geschichte des Aufstiegs des Westens völlig neu. Unsere Recherchen werden mit historischen Analysen angereichert. Es geht dabei unter anderem um die außergewöhnliche Toleranz Mohammeds gegenüber Andersgläubigen und die darauffolgende islamische Hochkultur. Hervorzuheben wäre etwa der Fortschritt im Bereich der Hygiene während der Westen im Dreck und Gestank versank. Gustav Le Bon schreibt, dass Muslime Europa die Zivilisation brachten. Bis zum Fall Granadas 1492 hielt sich eine 800-jährige wissenschaftliche und kulturelle Blüte der Muslime. Danach begann erst der Aufstieg des Westens. Ab 1800 mit dem Zerfall der letzten großen islamischen Reiche beginnt die Heuchelei des Westens. Er tut so als müsse er der islamischen Welt durch die Kolonisierung und militärischen Einmischung die Zivilisation bringen. In dieser Zeit bekamen die Muslime dann auch nicht mehr so viel auf die Beine, ähnlich wie die alten Römer und Griechen. 

Diese Geschichte muss man kennen, wenn man die Konflikte in der Islamischen Welt verstehen will. Was war die Antwort die durch den Westen ausgelöste Krise? Extremismus, Wahabismus, Salafismus, Nationalismus, Pan-Arabismus… und natürlich terroristische Minderheiten. Was ist die Folge? Der Westen schlägt mit Bomben zurück. Es entstehen noch mehr Terroristen. Und der Westen wirft noch mehr Bomben. Das beschreibe ich in meinem Buch im Detail.

MILIEU: Welchen Effekt soll Ihr Buch haben?

Todenhöfer: Die darin enthalten Vor-Ort-Reportagen werden die Leserschaft nicht nur berühren, sondern sie werden die Geschichtsschreibung verändern. 

MILIEU: In welcher Weise?

Todenhöfer: Mein Sohn ist für mich zehn Monate nach der sogenannten „Befreiung von Mossul“ für eine Nachrecherche nach Mossul gefahren. Als er in die total zerstörte Altstadt ging, hat er auf den Trümmern noch tote Männer, deren Hände auf ihren Rücken gefesselt waren, liegen sehen. Das waren Gefangene, die der IS gefesselt hatte. Tote Frauen und Kinder lagen noch auf den Trümmern. Sie waren teilweise verwest und teilweise mumifiziert. Was haben unsere Medien gejubelt: Ein Sieg für die Freiheit und Menschenrechte. Und dann diese Szenen ganze zehn Monate nach dieser „Befreiung“. 

Die Bilder von den toten irakischen Kindern werde ich in keinem deutschen Medium veröffentlichen können. Weil man das nicht zeigen kann, muss darüber geschrieben werden. Es gibt Leute in Politik und Medien, die glauben, sie hätten es endlich den Terroristen gezeigt. Wer erzählt mir davon, dass dabei zehn Mal so viele Zivilisten sterben mussten? Wer erklärt mir die Rolle der NATO-Wertegemeinschaft, die Rolle Deutschlands als Aufklärungsgehilfe? Wenn darüber genügend Leute berichten würden, dann müsste ich nichts schreiben. Peter Scholl-Latour hätte es sicherlich getan, heute tut es vielleicht ein Michael Lüders, aber er wird von allen großen Medien boykottiert. 

MILIEU: Verlieren Sie manchmal die Hoffnung?

Todenhöfer: Für Hoffnungslosigkeit gibt es keinen Grund. Jede Zeit ist eine neue Zeit. Jede Generation ist eine neue Generation. Ich glaube an eine friedliche Revolution für Liebe, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Resignation ist für mich keine Option. Zu meinem Publikum, das zum Großteil sehr jung ist, sage ich immer: „Informiert euch, engagiert euch, wehrt euch – das ist eure Welt!“.

Ich glaube, dass jede Generation auf diese Welt kommt und erst einmal verständlicherweise damit beschäftigt ist, ihre egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen: essen, trinken, leben, lieben. Wenn dann außerhalb ihres Universums ein gewisser Freiraum existiert, dann ist es nicht schlecht, wenn sie schaut, ob sie anderen behilflich sein kann. Alle Religionen betonen den Grundsatz, dass man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Jeder Mensch kommt mit Fähigkeiten und Talenten auf diese Welt. Daraus ergibt sich die Verantwortung, diese auf die beste Art und Weise zum Wohle der Welt einzusetzen.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Todenhöfer.

 

 

Foto: © Qasim Unger / Die Offene Blende

 

 

Bildergebnis für die große heuchelei

Jürgen Todenhöfer: Die große Heuchelei - Wie Politik und Medien unsere Werte verraten, Propyläen Verlag, 327 Seiten.

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen