Digitalisierung

Keimzellen der Kreativität

15.12.2017 - Dr. Christoph Quarch

Das Büro der Zukunft ist ein Ort, an dem der Mensch im Zentrum steht. Wenn die Mönche des Mittelalters in ihren Schreibstuben Abschriften ihrer wertvollen Bücher anfertigten, legten sie die kostbaren Stücke zum Schutz vor Staub und Kratzern auf ein grobes Filztuch, aus dem auch ihre Kutten gefertigt waren. Diese Unterlage nannten sie die burra – und von eben diesem Wort stammt unser Wort Büro. Denn das Büro ist der Ort, an dem von alters her die Bücher aufbewahrt und bearbeitet werden: der Ort, an dem die Schreibarbeit verrichtet wird; oder auch der Papierkram, je nachdem, wie man es sehen möchte.

Doch die Herkunft unseres Wortes Büro verrät noch mehr darüber, welchen Wesens jener Raum ist, den wir so zu nennen pflegen. Denn bei näherer Betrachtung ist das Büro – ganz so wie die alte burra – vornehmlich ein Schutzraum für das Kostbare und Wertvolle. Und nicht anders steht es um das Büro noch im 21. Jahrhundert. Denn auch seine Kernfunktion besteht darin, dem Kostbaren den Aufenthalt zu geben; nicht, weil im Büro die Kasse oder der Tresor zu finden wären, sondern weil Büros die Orte sind, an denen Menschen arbeiten.

Das jedenfalls sollte ein jedes Büro sein, wenn man es denn daran zu messen wagt, was sein Name über sein Wesen verrät: Es ist ein Ort für menschliche Arbeit – und damit ein Ort für das Kostbarste, was Unternehmen haben. Der Akzent liegt dabei freilich auf dem Wörtchen menschlich. Denn des Menschen Arbeit ist in unserer Gegenwart von höchstem Wert; und ihr Wert wird sich in Zukunft weiter steigern. Denn hier geht es vorwiegend um jene Form von Arbeit, die so bald nicht auf Maschinen übertragbar sein wird – eine Art von Arbeit, die in genau dem Maße an Kostbarkeit gewinnen wird, in dem die Digitalisierung unserer Arbeitswelt voranschreitet.

Welche Art von Arbeit ist gemeint? Welche Arbeit bleibt das Privileg des Menschen? Nicht diejenige, die über mehr als hundert Jahre in unseren Bürogebäuden verrichtet wurde; nicht dasjenige, was man als industrielle Informationsverarbeitung bezeichnen könnte: Sortieren, Ablegen, Speichern, Rechnen usw. All das werden uns in absehbarer Zeit „intelligente“ Maschinen der Künstlichen Intelligenz abnehmen können. Bei allem, was berechnet und gerechnet werden kann, werden sie den Menschen entlasten – nicht aber bei den Tätigkeiten, die es mit dem Unberechenbaren zu tun haben: mit Innovation und Kreativität; mit eben den Ressourcen, von denen die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen abhängt.

Kreativität ist unberechenbar. Sie ist etwas anderes als kalkulierte Optimierung. Kreativität erschließt das wirkliche Neue – das, was Kunden nicht allein zufriedenstellt, sondern begeistert. Sie ist in eins der Generator jener schöpferischen Energie, die wir Begeisterung nennen, und deren schönste Frucht. Und sie ist außerdem eine Bekundung echten Menschseins; hatte doch schon der Renaissance Philosoph Pico della Mirandola in seiner Oratio de hominis dignitate (Rede von der Würde des Menschen) von 1486 festgestellt, dass nichts den Menschen so sehr auszeichnet und adelt, wie die Fähigkeit, als kreativer Schöpfer eine sinnvolle und schöne Welt zu schaffen.

Nicht viel anderes lehrt die Hirnforschung von heute. Unsere neuronale Ausstattung, betont der Neurophysiologe Gerald Hüther, macht uns nicht zu minderwertigen Computern, sondern zu kreativen Wesen, deren Potenziale unerschöpflich sind – weshalb wir gut beraten sind, Bedingungen zu erzeugen, die uns darin unterstützen, diese Potenziale zu entfalten.

Hier kommt nun das Büro ins Spiel. Denn ein Büro, das seines Namens würdig ist und sich als Ort des Kostbaren versteht, hat keine andere Aufgabe als eben diese: Raum für menschlichen Potenzialentfaltung sein – ein enabling space (Ermöglichungsraum), wie das der Wiener Innovationsforscher Markus F. Peschl nennt. Man könnte auch sagen: ein Gewächshaus menschlicher Schöpferkraft.

Zum Ermöglichungsraum oder Gewächshaus taugen jedoch die meisten deutschen Büros und Bürogebäude keineswegs. Oft scheinen sich Innenarchitekten und Betreiber gar nichts gedacht zu haben, als sie die Büros ihrer Mitarbeiter einrichteten. Und wenn doch, dann waren ausschließlich funktionale oder monetäre Gesichtspunkte ausschlaggebend. Effizient und kostengünstig soll es sein. Vorgaben aus Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zu Lärmschutz, Ergonomik oder Raumklima werden zwar meistens zähneknirschend eingehalten – aber das verhindert nicht, dass immer noch in vielen Unternehmen am Büro gespart wird, wo es eben geht. Das ist eine große Dummheit.

Denn Büros, die nur nach Maßgabe von Effizienz und Funktionalität gestaltet sind, gleichen begradigten Kanälen, die zwar gradlinig von einem Punkt zum anderen führen, dabei jedoch kein Leben und Gedeihen zulassen. So etwas wie Kreativität kann in solchen Toträumen nicht wachsen. Leben braucht Natur – braucht, um im Bild zu bleiben, einen naturbelassenen Fluss, der frei mäandert und in dessen Windungen kleine Biotope wachsen, wo etwas gedeihen und erblühen kann. Nur in freien Spielräumen wächst Kreativität – nicht in optimierten Betonkanälen. In nicht-funktionalen Spielräumen entfalten Menschen ihre Potenziale – und nicht in effizienten Anstalten.

Diese Einsicht sollte sich zu Herzen nehmen, wer sich seine Innovations- und Zukunftsfähigkeit bewahren möchte. Man ist gut beraten, heute, an der Schwelle zu einer umfassenden Digitalisierung der Arbeitswelt, den Menschen ins Zentrum des Büros zu rücken und die Räume seiner Arbeit so zu gestalten, dass schöpferisches, kreatives, sinnstiftendes Tun darin ermöglicht und gefördert wird. Das ist nicht nur die zuverlässigste Prophylaxe gegen Burn-out und Depression, es ist zugleich die ökonomisch sinnvolle Investition in die kostbarste Ressource überhaupt: den schöpferischen Geist des Menschen.

Wir wissen aus der heutigen Innovationsforschung, unter welchen Bedingungen dieser Schöpfergeist am ehesten erblühen kann – dort, wo es menschlich zugeht: in Gebäuden, die sowohl die informelle Begegnung von durchaus unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen zulassen (Co-Working-Spaces), als auch Rückzugsmöglichkeiten für konzentriertes Arbeiten bereitstellen; in Gebäuden, die sowohl dem Wunsch nach Individualität, Intimität und Persönlichkeit Genüge leisten als auch der kommunikativen und kooperativen Begegnung mit anderen; in Gebäuden, die zwar funktionalen Gesichtspunkten genügen, dabei aber nicht an ästhetischen und poetischen Qualitäten sparen. Denn nichts – das wussten schon die alten Griechen – ist der Kreativität so förderlich wie ein Klima der Schönheit und Stimmigkeit.

Die Arbeitswelt ist im Wandel. Heute, da die Digitalisierung bald mit neuer Wucht in die Büros und Arbeitsstätten einfällt, stehen Unternehmen und Organisationen an einem Scheideweg, an dem sich ihre Zukunftsfähigkeit entscheiden wird: Werden sie die Digitalisierung nutzen, um menschliche Arbeit nach Kräften wegzurationalisieren und durch Maschinen künstlicher Intelligenz ersetzen – oder werden sie in die Ressource Kreativität investieren und den arbeitenden Menschen mit seinen unveräußerlichen Fähigkeiten ins Zentrum rücken? Werden sie, um Kosten einzusparen, bei der Einrichtung von Büros nur auf Funktionalität und Effizienz setzen – oder werden sie, um Zukunft zu eröffnen, den Menschen als Maß aller Dinge der Bürogestaltung anerkennen. Nach Lage der Dinge scheint letzteres nicht nur der menschlichere, sondern auch der erfolgversprechendere Weg zu sein. Denn ein Büro als Ort für Wachstum und Lebendigkeit dürfte zukunftsfähiger sein als die Toträume technisch optimierter EDV.

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