Rezension

Kriegssplitter - Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert

01.04.2016 - Dr. Burkhard Luber

Schon seit längerem prägt das Paradigma der sogenannten “Neuen Kriege” die politische und militärische Diskussion. Die Kriege des 19. Jahrhunderts und die beiden Weltkriege waren durch Territorial-Eroberungen, Front-Strategien und Armee-Schlachten gekennzeichnet.

Beginnend mit Emanzipationskriegen der Kolonien in Afrika und Asien gegen ihre Fremdherrscher und dann in die sogenannten “Failed States” übergreifend hat sich die Realität des Krieges seitdem tiefgreifend verändert.

Im zweiten Teil seines Buches, das gelungenste in dieser Publikation, zeichnet Münkler diese Veränderungen im Kriegsprofil nach: Während früher der Krieg das militärische Handlungsfeld großer starker Nationalstaaten war, ist das Profil der Neuen Kriege eher die vielfältige Gewaltanwendung verschiedener nicht-staatlicher Akteure, die durch eine schwache Staatsautorität nicht mehr kontrolliert und eingedämmt werden kann. Im Zeitalter der Alten Kriege folgte die zeitliche Abfolge der Eskalation hin zum Kriegszustand in mehr oder weniger festen Kategorien: Politische Krisen, Drohkulisse, Ultimaten, Protestnoten, Einberufung von Soldaten, Kriegserklärung. Ebenso klar konturiert war die De-Eskalation: Feuerpause, Waffenstillstand, Friedensschluß.

Die Neuen Kriege kennen solche Abfolge-Muster nicht mehr: der Krieg fängt nicht an einem bestimmten Tage an und er endet auch nicht mit protokollierten Übereinkünften. Der neue Krieg ist ein Dauerzustand, in dem sich Kampfhandlungen kriminelle Aktionen, Menschenrechtsverletzungen und sonstige Gewalt ohne zwingende Logik abwechseln. Auch die Kriegsziele haben sich vom Alten zum Neuen Krieg hin gewandelt: In den alten Kriegen stand eindeutig die Eroberung von fremdem Territorium im Vordergrund. In den Neuen Kriegen geht es nicht mehr um Landgewinne sondern um die Vormachtstellung der eigenen Identität als Ethnie, Stamm, Clan. Dementsprechend sind auch die Methoden der Neuen Kriege: Zerstörung der Heimat der gegnerischen Ethnie, Plünderung, ethnische Säuberungen, Genozid. Auch das Profil der Kriegsakteure hat sich geändert. In den Alten Kriegen waren es Soldaten, in den Neuen Kriegen agieren ganz unterschiedliche Gruppen: warlords, Befreiungsbewegungen, Guerilla-Organisationen etc. In den Alten Kriegen wurde das klassische Waffenarsenal verwendet: Panzer, Artillerie, Bomber. In den Neuen Kriegen kommen vor allem Kleinfeuerwaffen und Landminen zum Einsatz. Während sich in den Alten Kriegen symmetrische Gegner gegenüberstehen sind die Neuen Kriege asymmetrisch: “private” Kriegsakteure kämpfen untereinander um die Vorherrschaft und gegen eine schwache Zentralregierung. Das Ziel ist nicht mehr ein eindeutiger Sieg auf dem Schlachtfeld sondern die Zermürbung und Abnutzung. Während die Zivilbevölkerung in den Alten Kriegen bis auf die letzte Zeit des zweiten Weltkriegs meist vom Krieg verschont blieb, ist sie in den Neuen Kriege voll vom Kampfgeschehen betroffen, zum Teil sogar direktes Ziel der Kämpfenden (ethnische Säuberungen, Entführungen zwecks Lösegeld-Erpressungen).

Gegenüber dieser guten Übersicht über die Neuen Kriege fallen die beiden anderen Teile des Buches vom Niveau her ab, in denen Münkler - Buchteil I - den ersten und zweiten Weltkrieg thematisiert und - Buchteil III - versucht, Kategorien der Geopolitik für die Analyse der internationalen Politik zu reaktivieren. Weder bringen die Überlegungen des ersten Teils des Buches über die schon vorhandenen, ausgiebigen Weltkriegs-Analysen hinaus neue Ergebnisse, noch kann Münkler überzeugend darstellen, welchen Erkenntnisgewinn neues geopolitisches Denken im 21. Jahrhundert haben könnte.

Trotzdem bleibt das Verdienst des Autors im zweiten Teil des Buches, den Blick des Lesers auf die grundlegenden Veränderungen im Kriegsprofil des späten 20. und erwartbar auch im weiteren 21. Jahrhundert zu richten. Ohne ein Verständnis, was sich in den gewaltsamen Konflikten in so vielen Regionen der Welt verändert hat, ist ihre angemessene Analyse nicht möglich.

Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Rowohlt Verlag. Oktober 2015. 396 Seiten. 24.95 Euro

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