Kurzgeschichte

Lilien / Schnee

01.11.2014 - Leona Sedlaczek

Es dämmerte, als ihre Tochter das Haus verließ. Sie ist den ganzen Tag hier gewesen, aber nun erwarteten andere ihre Anwesenheit. Was sie wohl sehen und erleben würde? Sie dachte kurz an lachende Gesichter junger Leute, Frauen, Männer, eine Bar. Jetzt war sie also wieder allein. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken. Wie schnell es auf einmal dunkel wurde. Sie schaltete den Fernseher ein und es dauerte nicht lange, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

Sie schreckte auf, als eine Frau schrie. Der Mann im Film knebelte sie. Müde schaltete sie den Fernseher ab und lauschte: Alles um sie herum war still. Es musste schon weit nach Mitternacht sein. Sie richtete sich auf und ging langsam in die Küche. Ein Glas Wasser würde ihr jetzt gut tun. Mit dem Glas in der Hand ging sie langsam zurück in ihr Schlafzimmer. Es war nur ein Gefühl, ein beängstigendes, selten gespürtes Gefühl, doch sie wusste, dass sie plötzlich nicht mehr allein im Raum war. Sie sprach den Namen ihrer Tochter in die Dunkelheit. Keine Antwort. Panik kroch in ihr hoch. Es fühlte sich an, als würde jemand ihren Magen zusammenziehen, während eine Welle der Angst ihren Rücken hochschlich, ihre Schultern überschwemmte und ihren Kopf verschlang. „Hallo“, raunte er in die Stille. Sie zuckte zusammen. Das Wasserglas zersprang auf dem Boden, als sie ihn direkt hinter sich spürte. Langsam drehte sie sich um. Sie hätte nicht sagen können, ob er lächelte. Seine Augen blitzten ihr entgegen. Panisch stolperte sie rückwärts, doch ihre Beine wollten sie nicht halten. Sie fiel rücklings auf ihr Bett. „Keine Angst“, sagte er. „Wer sind Sie?“, fragte sie. Ihre eigene Stimme klang laut in ihren Ohren. Sie hatte das mulmige Gefühl, ihn zu kennen, ihn schon einmal gesehen zu haben. Er antwortete nicht. Seine Augen sahen sie interessiert an. Sie konnte nicht sehen, welche Farbe sie hatten. „Wie kommen Sie hier hinein?“ fragte sie. „Ein Kinderspiel“, schmunzelte er. „Wer sind Sie?“, fragte sie noch einmal, diesmal ein wenig lauter. Er trat einen Schritt auf sie zu und seufzte „Wer bist du, was willst du, wieso kommst du zu mir – immer die gleichen Fragen. Du weißt, wer ich bin.“ „Nein, weiß ich nicht“, erwiderte sie. Sie versuchte sich aufzurichten, sie musste näher an die Tür kommen, sie musste versuchen zu fliehen. Es war offensichtlich, was er wollte, sie brauchte es nicht zu hinterfragen – nein, sie spürte die schreckliche Gewissheit wie einen Messerstich in ihr Herz. Doch sie war nicht bereit. Sie würde sich nicht einfach aufgeben. Man hatte ihr erzählt, dass es Gestalten wie ihn gab. Und sie hatte sich immer geschworen, dass, wenn dieser Tag je käme, sie sich wehren und nicht kampflos aufgeben würde. Doch es schien, als hätten sich ihre Beine in Luft aufgelöst. Sie starrte ihn an. „Bist du bereit?“, fragte er und streckte seine Hand nach ihr aus. „Nein!“, rief sie und stieß seinen Arm von sich. Für einen Moment glaubte sie, Wut in seinen Augen zu sehen. Doch es war Ernst, der nun in seiner Stimme lag. „Weißt du, es ist wirklich nicht an dir, zu entscheiden“, sagte er langsam. Ein Stück ihrer Angst wich einem anderen Gefühl. Was bildete er sich ein, über ihr Schicksal zu bestimmen? Sie zog sich am Bettrahmen hoch und zu ihrer eigenen Überraschung schaffte sie es zurück auf ihre Beine. Für einen Moment hielt sie inne, dann stolperte sie zur Tür. Er stand vor ihr, bevor sie den Türrahmen erreicht hatte. Sein Körper versperrte ihr den Weg. Ihre Fäuste trommelten auf ihn ein. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. „Lass mich gehen!“ Unbeeindruckt stand er vor ihr. Ihre Schläge schien er kaum zu spüren. Sein Gesicht verriet nicht mehr als Gleichgültigkeit. Dann schloss er seine Hände fest um ihre Handgelenke. Seine Haut war kühl. „Du kannst nichts tun“, sprach er langsam. „Es wird passieren.“ „Nein!“, erwiderte sie. „Ich schreie!“ „Das wird mich nicht von dir fernhalten“, sagte er. „Außerdem würde dich eh keiner hören.“ Sie blickte in sein Gesicht. Es war merkwürdig. Es schien, als hätte er Routine, als würde ihn nichts mehr beeindrucken. In seinem Blick fand sie keine Boshaftigkeit, keine Berechnung, keine Machtgelüste, noch nicht einmal Leidenschaft. Vielmehr eine unheimliche Tiefe. Er sah sie an, als würde er sich sorgen. Wie um eine Tochter. Das machte es fast noch schlimmer. Er zog sie zurück zu ihrem Bett. Sie wehrte sich, doch er war stärker. „Du machst es mir unendlich schwer“, sagte er und drückte sie zurück auf die Matratze. „Wenn du nur einmal still sitzen würdest, dann –“ „Dann was?“, rief sie. „Dachtest du, ich gebe mich dir ohne Widerstand hin?“ Er lachte leise. „Du bist nicht die Erste, die sich wehrt.“ Er ließ sie los. „Ich sehe, du bist noch nicht bereit“, sagte er. „Ich komme wieder.“


Als sie am nächsten Morgen aufwachte, hielt sie all das für einen bösen Traum. Wahrscheinlich hatte sich der Film in ihr Unterbewusstsein geschlichen, als sie schlief. Es war niemand hier gewesen. Das Wasserglas musste sie ihm Schlaf vom Nachttisch gestoßen haben.

Sie hörte die Tür ins Schloss fallen, als ihre Tochter das Haus verließ. Es war ein schöner Tag gewesen. Es hatte geschneit und Schnee hatten sie beide schon immer geliebt. Doch nun war es Abend und sie saß erschöpft in ihrem Bett. Sie griff nach dem Buch, das sie schon so oft gelesen hatte, und verlor sich in den Seiten. Eine Stunde verging, vielleicht zwei. Wieder spürte sie seine Anwesenheit, noch bevor sie ihn sah. Sie blickte auf. Dort stand er am Türrahmen zu ihrem Schlafzimmer gelehnt und beobachtete sie. Die Angst stieg wieder in ihr auf, doch diesmal zog niemand ihren Magen zusammen. „Du wieder“, sagte sie leise. „Ich sagte doch, ich komme wieder“, erwiderte er. Sie nickte leicht. „Ich dachte, ich hätte geträumt“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. „Nun, meistens komme ich nur einmal“, seufzte er. Er trat zu ihr ans Bett, doch sie bewegte sich nicht. „Ich habe lange gewartet. Du bist bereit?“, fragte er. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Nein“, sagte sie. „Ich kann das nicht!“ „Du bist bereit“, sagte er, diesmal mit Nachdruck. Es war keine Frage. „Wieso?“, brach es aus ihr heraus. „Wieso kommst du zu mir?“ Tränen liefen ihre Wangen herunter. „Ich habe dich beobachtet“, sagte er. „Ich weiß, du bist bereit.“ Er hatte sie beobachtet. Sie wusste nicht, warum sie das überraschte. Sie sah ihm flüchtig in die Augen. Auch von so nah konnte sie nicht sagen, welche Farbe sie hatten. Langsam beugte er sich zu ihr herunter, doch sie hielt ihn zurück. „Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Du hast Angst“, sagte er. Auch dies war keine Frage. „Die meisten haben Angst. Es ist nicht nötig. Es wird schnell gehen“, fügte er hinzu. Seine Stimme war ruhig, sanft, einfühlsam. Sie konnte verstehen, warum man sich auf ihn einließ. Langsam nahm er das Buch aus ihren Händen und legte es beiseite. „Bist du bereit?“ Diesmal fragte er wieder. Sie nickte langsam. Er beugte sich zu ihr hinunter. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Er schob seine Arme unter ihren schwachen Körper. Die Angst kroch in ihren Hals und blieb dort schluchzend hängen. Er hielt inne, als würde er es spüren und schaute ihr in die Augen. Sein Blick durchdrang sie wie ein Schwert. Nie hatte sie einen Blick mit solcher Tiefe gesehen. Die merkwürdige Ruhe, die in ihr aufstieg, als sie seinen Blick erwiderte, ließ die Angst in ihrer Kehle schmelzen. Sie sah ihm in die Augen und glaubte, das Sprichwort nun endlich zu verstehen. Er hob sie hoch. Ihr Körper schmiegte sich an ihn, ihr Gesicht lag an seiner Brust. Auf einmal fühlte sie sich unheimlich leicht. Sie atmete tief ein und lächelte. „Du riechst nach Lilien“, sagte sie. „Du magst Lilien“, sagte er. Wieder war es keine Frage. Er trug sie zur Tür und trat leise hinaus. Schneeflocken fielen auf sie, doch sein Körper wärmte sie. „Du bist warm“, sagte sie. „Letztes Mal warst du so kalt…“ „Letztes Mal, warst du noch nicht bereit“, antwortete er. „Wie fühlst du dich?“ Ihr fiel es schwer, Worte für ihre Antwort zu finden. „Geborgen“, murmelte sie. „Und, merkwürdig leicht…“ Er nickte. „Das liegt daran, dass du all das zurücklässt, was nicht zu dir gehört“, erklärte er leise. „Deinen Körper, deine Schmerzen, deine Fehler. Auch deine Angst. Ist sie weg, deine Angst?“ „Ja…“, stellte sie überrascht fest. „Ja, sie ist weg. Ich denke, ich bin wirklich bereit.“ Dann lachte sie und es klang wie das Lachen, das sie als Kind gelacht hatte. „Was ist?“ fragte er leise lächelnd, als er sie langsam in die Nacht trug. „Hmmm…“, schmunzelte sie kopfschüttelnd, „der Tod riecht nach Lilien und Schnee.“

 

 

 

 

 

 

 


Foto: © rochelle hartman

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