#158

Lockdown-Leistungen

01.02.2021 - Olivia Haese

Liebe Leserinnen und Leser,
Liebe Autorinnen und Autoren,

dieses Lockdown-Leben (oder sollte ich sagen "dieser Lockdown-Nebel") ist vielen von uns bestimmt bereits zur zweiten Natur geworden und gleichzeitig können wir es langsam wirklich nicht mehr ertragen.

Ich frage mich, wie schnell wir uns an einen "normalen" Alltag wieder gewöhnen können – angenommen in nicht allzu ferner Zukunft wird ein Leben von damals wieder möglich sein. Und dennoch besteht bestimmt bei einigen Menschen weiterhin die Hoffnung, dass wir trotz der zahlreichen coronabedingten Schwierigkeiten eben nicht zur gleichen altbekannten Realität zurückkehren werden. Sozusagen mit dem Wunsch, dass wir doch etwas draus gelernt haben, sodass das ganze Pandemie-Desaster nicht umsonst war.

Unzählige Personen haben ihre Arbeit verloren, sind finanziell oder gesundheitlich angeschlagen. Oder aber sie haben intensiver gearbeitet als je zu vor, wie etwa Pflegepersonal und Ärzte. Doch dass wir uns nach wie vor in einer "Leistungsgesellschaft" befinden ist vermutlich jedem bewusst. Oder aber es ist uns unbewusst, weil es seit wir uns erinnern können der Normalfall war. Dass wir als Personen etwas leisten müssen, beschäftigt sein müssen, finanziell unabhängig sein und der Gesellschaft etwas zurückgeben müssen – ist doch glasklar. Alles andere wäre ja fast schon blasphemisch. Blasphemie gegenüber dem Gott der… Leistungsgesellschaft? Es scheint mir auch, dass das Konzept der "Selbstverwirklichung" heutzutage fast untrennbar vom Konzept der finanziellen Unabhängigkeit ist. Ein Leben, wenn nicht für unsere individuelle Leistung – wofür dann?

Ich beobachte ständig, dass viele Menschen, jung oder alt, einfach "vorankommen" möchten – genug leisten, um in Sicherheit leben und stolz auf sich selbst sein zu können. Aber was, wenn alle Leistung keine Sicherheit garantieren kann? Was, wenn wir trotz allem der Willkür der Natur (oder eines Virus) oder aber Regulierungsversuchen unserer Regierung ausgesetzt sind?

Und vor allem: Was, wenn man vor lauter Zielsetzung den Sinn des Ziels aus dem Auge verliert?

Natürlich sind die meisten Menschen von uns auf irgendeine Art und Weise gezwungen, einen vorgegebenen Betrag von Leistung zu erbringen. Kurzfristig oder auch langfristig haben viele leider gar keine andere Wahl. Von daher ist leistungsorientiertes Denken ganz sicherlich nicht ihre schuld. Ich bin aber der Auffassung, dass wir diese Lebensperspektive nicht fatalistisch akzeptieren sollten.

Selbstverständlich sind viele Leistungen auch für das großflächerige Wohl der Gesellschaft unabdingbar. Aber warum haben wir Arbeit und Leistung automatisch zu einer Tugend erhoben? Warum ist jemand, der durch den Verkauf von unnötigen oder sogar schädlichen Dingen Geld verdient, aus Sicht unserer kapitalistischen Gesellschaft moralisch höhergestellter als jemand, der überhaupt keine Arbeit hat? Warum blicken wir mehr hinab auf Obdachlose, die im Grunde kaum Ressourcen verbrauchen, als auf verschwenderische Millionäre?

Oder noch philosophischer betrachtet: Warum stehen wir morgens früh auf und arbeiten mühselig dahin… was ist das Endziel? Ist das Endziel ein schöner Lebensabend? Oder Aufopferung des eigenen Glücks zum Wohle der Familie? Oder ist das Glücksgefühl des Erfolges und der finanziellen Unabhängigkeit selbst das Ziel?

Vielleicht hat der Lockdown auch in manch anderem diese Frage intensiviert. Und vielleicht können diese Fragen uns eines Tages doch noch zu einer "neuen Normalität" geleiten.

Ein Thema, dass auch stark mit der Leistungsgesellschaft zusammenhängt, ist der Zusammenhang von körperlichen Krankheiten mit psychischen oder emotionalen Beschwerden. Unsere neue Ausgabe enthält einen Auszug aus dem Buch des kanadischen Arztes Dr. Gabor Maté mit dem Titel "Wenn der Körper nein sagt". Dr. Maté geht davon aus, dass, wenn wir als Menschen nicht lernen "nein" zu sagen, unser Körper es irgendwann für uns tun wird.

Vielleicht ist ein Teil in uns angetrieben, bei der Arbeit viel zu leisten, während ein anderer Teil in uns "nein" ruft. Die Folgen einer solchen kognitiven Dissonanz werden in Matés Buch mit vielen Patientenuntersuchungen detailliert erklärt. Die körperlichen Schäden, die durch Stress und emotionales Leid verursacht werden, sind lange kein Geheimnis mehr, und doch scheinen wir uns zumindest im Unterbewusstsein kaum von dem Gedanken "ich muss etwas leisten, um etwas wert zu sein" lösen zu können.

Aber eine Gesellschaft, die Leistung vor Wohlbefinden und Gesundheit eines Menschen stellt, ist im Endeffekt sowieso alles andere als leistungstark. Und die Definition von "Leistung" ist dabei die größte Frage.

In diesem Sinne wünsche ich all unseren Lesern vor allem eines: Bleiben Sie gesund!

Beste Grüße,
Olivia Haese
Chefredakteurin

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