Kolumne

Lupus Oeconomicus: Lesestoff für den Winter

15.11.2017 - Nicolas Wolf

Die kalte Jahreszeit hat begonnen. Wind, Regen, Frost und Temperaturen im niedrigen einstelligen Bereich – es wird langsam aber sicher Winter. Ich mag die Winterzeit, nicht zuletzt wegen der kürzeren und daher gemütlicheren Tage, die es zumindest mir deutlich erleichtern, sich mit einer Tasse Tee auf das Sofa zu setzen und zu lesen.

Vielleicht geht es ja dem einen oder anderen ähnlich. Für den Fall, dass sie oder er aber noch auf der Suche nach geeignetem Lesematerial ist, möchte ich dieser Kolumne fünf Buchempfehlungen widmen. Diese „Top 5“ sind allesamt (Sach)bücher, die ich in der jüngeren Vergangenhet gelesen habe (was nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie auch erst kürzlich erschienen sind)  und die mich in meinem Denken, Handeln und meiner Weltsicht stark beeinflusst und inspiriert haben.

Eine kurze Warnung vorneweg: Vier der fünf Buchtipps sind meines Wissens nach nur in englischer Sprache erhältlich. Eine kurze Entwarnung gleich hinterher: Obwohl dies eine Wirtschaftskolumne ist, ist nur ein Wirtschaftsbuch unter den „Top 5“, welches zudem in erster Linie ein Buch über Wirtschaftsgeschichte ist. Wer sich von diesem Disclaimer enttäuscht fühlt, da er gerne die Wintertage mit mehr oder minder dröger, ökonomischer Materie verbringen will, für den werde ich in naher Zukunft noch einmal gesondert eine Hand voll „Econ Buchtipps“ zusammenstellen.

Und für alle Lesemuffel folgender Tipp: Bücher sind tolle Weihnachtsgeschenke. In diesem Sinne: Viel Spass beim Lesen und/oder Verschenken!

1. Why we sleep: The New Science of Sleep and Dreams von Matthew Walker, September 2017

"Why we sleep" ist eines dieser Bücher, von dem ich glaube, dass es mein Leben verändern wird. „Glaube“ und „wird“ deshalb, weil es erst Ende September dieses Jahres erschienen ist und ich es gerade erst zu Ende gelesen habe. Aber meine Güte – was für ein Buch! Wie der Titel unmissverständlich suggeriert, geht es in dem etwas über 300 Seiten starken Erstlingswerk des Berkley-Professors Matthew Walker um nichts anderes als Schlafen. Abgesehen davon, dass es leicht verständlich, unterhaltsam und anschaulich geschrieben ist, ist "Why we sleep" ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, dass wir unserem Schlaf eine größere Bedeutung einräumen und uns mehr davon gönnen sollten. Wenn es irgendeine Wunderdroge gegen Herzkreislauferkrankungen, Übergewicht, Alzheimer, Krebs und psychologische Erkrankungen gibt, dann ist es ausreichender (!) Schlaf. Circa acht Stunden braucht der Mensch davon und wer der Auffassung ist, dies sei zu lang und reine Zeitverschwendung, der sollte nach der Lektüre von "Why we sleep"eines Besseren belehrt sein.


Während des Lesens musste ich das Buch mehrfach beiseite legen, aufstehen und dann aufgeregt im Kreis laufen, um das zuvor Gelesene zu verdauen – zu überwältigend waren die Fakten und Fallbeispiele, die der Autor anführt, und zu weitreichend die Implikationen für meine eigene Gesundheit und die meiner Familie, Freunde und Kollegen. Wir reden viel über das „System“ und meinen damit diesen fiesen, erbarmungslosen Kapitalismus, den wir (fast) alle irgendwie abschaffen möchten, aber aus Mangel an Alternativen dann doch beibehalten. Vielleicht sollten wir, bevor wir die Systemfrage stellen, kleinere Brötchen backen und das Schlafverhalten unser übermüdeten Gesellschaft reformieren. Das erscheint mir deutlich leichter und sollte unser Zusammenleben merkbar verbessern.


"Why we sleep" ist meiner Meinung nach eine Pflichtlektüre und sollte künftiges Allgemeinwissen darstellen.  Vor allem aber sollten sich Bildungs- und Gesundheitsminister, Führungskräfte mit Personalverantwortung, Ärzte, Lehrer, Eltern und alle, die lange und gesund leben möchten, ernsthaft mit der Materie auseinandersetzen. Wer auf die deutsche Übersetzung warten möchte oder trotz meiner (bewusst) überschwänglichen Lobeshymne keine Veranlassung sieht sich das Buch zu Gemüte zu führen, dem sei zumindest geraten sich acht Stunden Schlaf pro Nacht zu gönnen. Der eigene Körper und Geist werden es einem danken.

2. The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion von Jonathan Haidt, Mai 2013

Eine Frage für alle Leser, die sich politisch links der Mitte einordnen: Kam in Ihnen schon einmal der Gedanke auf, dass Konservative kaltherzig, tendenziell xenophob und an den Problemen anderer desinterssiert sind? Ebenso eine Frage, an all jene, die sich eher rechts der Mitte wähnen: Erscheinen Ihnen die „Linken“ als naive, realitätsfremde Weltverbesserer, die sich mit erhobenen Zeigefinger als Moralapostel gerieren? Eine weitere, letzte Frage an alle, die eine der vorherigen mit „Ja“ beantwortet haben: Gibt es in Ihren Beziehungskreis jemanden, den Sie mögen, wertschätzen und charakterlich für integer halten, mit dem Sie aber politisch nicht übereinkommen? Wenn ja, dann ist doch nun die interessante Frage, warum man dennoch dem anderen Lager in politischen Diskussionen oftmals böse Absichten und moralische Defizite vorwirft, wenn man doch eigentlich davon ausgehen kann, dass wir rein menschlich doch gut mit den meisten Menschen auskommen.

In „The Righteous Mind“ mit dem überaus passenden Untertitel „Why good people are divided by politics and religion“ geht der US-Moralpsychologe Jonathan Haidt diesem Phänomen nach und liefert somit meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung unseres politischen Diskurses. Klar, in den USA, wo Haidt lebt und als Professor lehrt, sind die politischen Gräben noch tiefer als hier zulande; allerdings beschleicht mich das Gefühl, dass sich auch in Deutschland die Fronten links und rechts der Mitte deutlich verhärtet haben.
"The Righteous Mind" ist überaus unterhaltsam geschrieben und greift auf Erkenntnisse aus Psychologie und Neurowissenschaften zurück. Als Leser bleibt man am Ende mit einigen, zumindest für mich augenöffnenden, Erkenntnissen zurück: Dass moralische und politische Meinungen in erster Linie unser Intuition entspringen, dass sich diese Intuition zum großen Teil vor unserer Geburt und während unserer Kindheit entwickelt und dass wir anhand dieser Einflüsse einen eigenen Wertekanon entwickeln, anhand dessen wir politische Fragestellungen und moralische Dilemata ad-hoc bewerten. Mir,  jemand, der sich links der Mitte einordnen würde, hat „The Righteous Mind“ geholfen, konservative Ansichten besser zu verstehen und einzuordnen. Wer keine Lust aufs Lesen hat, kann sich mit Jonathan Haidt und seinen Kernthesen auf youtube vertraut machen.  

3. The Happiness Hypothesis: Putting Ancient Wisdom to the Test of Modern Science – Jonathan Haidt, April 2007

Und noch einmal Jonathan Haidt. Sein erstes Buch, „The Happiness Hypothesis“, ist nicht wirklich als Vorgänger zu „The Righteous Mind“ zu verstehen, allerdings behandelt es viele Grundlagen und Konzepte, auf die Haidt in seinem zweitem Werk zurückgreift, sodass es sich lohnt beide Bücher in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Die Frage, der Haidt nachgeht, ist schlicht, wie man ein zufriedenes Leben führen kann. Dabei nimmt er Bezug auf alte Weisheiten aus Religion und Philosophie (obgleich diese Aspekte etwas zu kurz kommen) und nähert sich dem Thema aus einer psychologischen und neurowissenschaftlichen Perspektive. Haidt selbst ist nicht gläubig und so ist „The Happiness Hypothesis“ auch in erster Linie ein Buch, das sich an nicht-religiöse Menschen richtet. Dies heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass Haidt anti-religiös ist; das Gegenteil ist der Fall, weshalb ich auch jenen, die ihre Religion regelmäßig praktizieren und aktiv leben, die Lektüre ans Herz lege. Auch wenn das Thema des Buches banal und nach esoterischem „So werden Sie in nur 30 Tagen ein glücklicher und zufriedener Mensch“ klingt, ist „The Happiness Hypothesis“ alles andere als das, nämlich intellektuell stimulierend und wissenschaftlich fundiert. In einer Phase, wo ich mich selbst gefragt habe, worauf es mir im Leben ankommt und was für mich glücks- und sinnstiftend ist, war das förmliche Aufsaugen von Haidts Debut inspirierend und Ratgeber und Advocatus Diaboli zugleich. Abgesehen von den Lektionen für das eigene Leben ist „The Happiness Hypothesis“ auch eine populärwissenschaftliche Erzählung darüber, wie wir Menschen „ticken“, was uns antreibt, wie wir denken (oder eben auch nicht) und wie wir Entscheidungen treffen. Wer mit dem Thema „emotionale Gesundheit“ wenig anfangen kann, dem ist aufgrund der Bezüge zu Psychologie und Neurowissenschaften die Lektüre dennoch zu empfehlen.

4. Why Nationas Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty von Daron Acemoglu & James A. Robinson, Februar 2013


Warum sind manche Länder reicher, wohlhabender, sicherer und technologisch weiter entwickelt als andere? Liegt es an der geografischen Lage? An der Religion? Der Kultur? Wie erklärt man dann allerdings die teilweise gravierenden Einkommensunterschiede benachbarter Länder mit ähnlichen klimatischen Voraussetzungen, gleicher Religion oder kultureller Identität? Wieso ist das Pro-Kopf-Einkommen in den USA ungefähr sieben mal so hoch wie in Mexiko, wo doch beide einst unter Kolonialherrschaft standen? Warum fand die Industrielle Revolution ausgerechnet in England statt, woraufhin das Königreich zur Weltmacht wurde?
Die Antwort, die die US-Ökonomen Acemoglu und Robinson geben, lautet: es liegt an Institutionen, wobei dieses Wort im abstrakteren Sinne zu verstehen ist. Die Autoren des ersten Wirtschaftsbuchs dieser Top-5 unterscheiden zwischen inkludierenden und extrahierenden Institutionen, die sich in der Geschichte einiger Länder heraus gebildet haben – oder eben nicht. Staaten mit inkludierenden Institutionen sind solche, in denen Individuen unternehmerisch sowie erfinderisch tätig werden und sich auf Justiz und Verwaltung verlassen können. Dadurch, dass Menschen die Früchte ihrer Arbeit und ihrer Schaffenskraft weitestgehend behalten und genießen dürfen, sorgen sie für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. In einem Land, das hingegen von extrahierenden Institutionen dominiert wird, sind Rechtstaatlichkeit und das Recht auf Eigentum abwesend oder nur einer kleinen Elite vorbehalten, die ihren Reichtum der Ausbeutung der restlichen Bevölkerung verdankt. „Why Nations Fail“ ist eine historische Tour d’Horizon, die den Leser in die Kolonialzeit, die „Glorious Revolution“ in England im 17. Jahrhundert und in (mir bis dato kaum bekannte) afrikanische Königreiche führt. Aus meiner Sicht halten Acemoglu und Robinso zwei wichtige Erkenntnisse parat: zum einen, dass wir unseren heutigen Luxus und Wohlstand in erster Linie historischen Zufällen verdanken können; und zum anderen, dass wir unsere inkludierenden Institutionen bewahren und sie nicht durch Lobbyismus und Korruption erodieren lassen dürfen.

Auch auf Deutsch unter dem Titel „Warum Nationen scheitern“ erhältlich.

5. Rise of the Robots: Technology and the Threat of Mass Unemployment – Martin Ford, Juni 2016

Ich war mir unsicher, ob Martin Fords “Rise of the Robot” tatsächlich in diese Top-5 gehört. Ich habe mich letzten Endes dafür entschieden und zwar aus folgendem Grund: Es hat mir als eigentlich weniger Technik-Interessierten mit einer unglaublichen Eindringlichkeit das Thema „Künstliche Intelligenz“ und die damit einhergenden Implikationen für Wirtschaft und Gesellschaft vor Augen geführt, sodass ich es (wie viele andere auch) in Kombination mit den Erkenntnissen aus den „Lifesciences“ für die transformative Kraft des 21. Jahrhunderts schlechthin halte. Ja, „Rise of the Robots“ ist sehr reiβerisch und vielleicht zu alarmierend. Wer aber keinerlei Vorstellung davon hat, was in Sachen „A.I.“ auf uns zukommt und was dies für unser aller Zusammenleben bedeuten kann, der sollte sich dieses durchaus unterhaltsame und (leider) auch etwas angsteinflößende Buch bei Gelegenheit durchlesen und im Anschluss daran mit dem Bundestagsabgeordneten aus seinem Wahlkreis darüber sprechen. Oder Programmieren lernen. Oder beides. 

 

 

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