Eine Frage des MILIEUs

"Machen Medikamente krank?"

01.05.2016 - Dr. Wolfgang Wodarg

Bei meinen Hausbesuchen werden mir von den Patienten regelmäßig Körbe, Kartons, Plastiktüten oder Schränke voller bunter Arzneimittelpackungen gezeigt. Dort finden sich in unterschiedlichster Zusammenstellung diverse Blutdruckmittel, Schmerztabletten, Psychopharmaka, Abführmittel, Vitamine, Cholesterinsenker, Salben, Tinkturen, Inhalatoren, Kapseln, Pillen oder Suppositorien aller Art.

Die meisten davon wurden von Ärzten verschrieben. Viele wurden auch auf Rat eines Apothekers oder einer Werbung selbst in einer Apotheke, einer Drogerie oder über das Internet gekauft.

Wenn früher die Medikamente eher eine assistierende medizinische Möglichkeit darstellten, wird „Medizin“ heute schon weitgehend mit Arzneimittelanwendungen gleich gesetzt.. Ein Patient, der ohne Rezept aus der Arztpraxis kommt, ist heute eine Seltenheit und der Anteil unserer Beitragsgelder für die Krankenversicherung, der für Arzneimittel verwendet wird, ist seit einigen Jahren deutlich größer als der für die Kosten aller ambulanten ärztlichen Behandlungen.

Zugegeben haben viele Erkrankungen durch die Anwendung neuer Medikamente ihren Schrecken verloren: Bei der Behandlung vieler Infektionskrankheiten, Stoffwechselerkrankungen, Herz und Kreislaufleiden, endokriner Störungen und Nervenleiden sowie in der Narkosetechnik haben Medikamente große Fortschritte für die Betroffenen erbracht. Menschenleben werden gerettet und Kranke werden länger am Leben erhalten. Medikamente können sehr nützlich sein.

Andererseits schätzt der Heidelberger Pharmakologe Prof. Walter E. Haefeli, dass bei älteren Patienten im Durchschnitt etwa alle 5 Jahre eine unerwünschte Arzneimittelnebenwirkung (UAW) auftritt, die in 6% lebensbedrohlich, in 38% schwerwiegend und in 56% medizinisch „relevant“ verläuft. Nach epidemiologischen Schätzungen sollen mehr als 5% aller Krankenhauseinweisungen durch UAWs notwendig geworden sein. Die Anwendung von Arzneimitteln macht also auch krank.

Wonach also entscheiden?

In einem alten Pharmakologie-Lehrbuch für Medizinstudenten fand ich den Satz: „Angesichts der Komplexität der Lebensvorgänge überrascht nicht, dass es im allgemeinen schwierig ist, einen Wirkungsmechanismus auf zellulärer Ebene vollständig aufzuklären.“ Die Frage der Abschätzung von Arzneimittelwirkungen – erwünschten und unerwünschten - wird noch schwieriger, wenn sie nicht nur auf zellulärer Ebene, sondern auch im Hinblick auf einzelne Patienten und ihrer Lebenssituation vorgenommen werden soll. Genau das ist es aber, was von Ärzten im Zusammenwirken mit ihren Patienten in der täglichen Praxis zurecht erwartet wird.

Stoffe aller Art haben täglich Kontakt mit unserem Körper. Durch die Nahrung, die Atemluft oder über unsere Haut führen sie zu Reaktionen, zu nützlichen oder schädlichen Veränderungen und beanspruchen unsere angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten, uns mit ihnen auseinanderzusetzen oder sie zu assimilieren. Wir essen, trinken, inhalieren oder resorbieren durch die Haut tausende verschiedene Stoffe und können uns darauf verlassen, dass unser Körper regelmäßig eine automatische Schaden-Nutzen-Analyse durchführt, die komplexer und individuell abgestimmter ist als jede Analyse, die in der pharmakologischen Forschung möglich wäre. Manchmal spüren wir die Ergebnisse solcher automatischen körpereigenen Prüfungen recht schnell als Symptome, manchmal erst sehr spät und manchmal verläuft die innere Prüfung ohne wahrnehmbare Zeichen.

Arzneimittel unterscheiden sich von Lebensmitteln und alltäglichen Kontaktsubstanzen vor allem dadurch, dass wir sie nur zu uns nehmen, wenn wir meinen, sie könnten uns bei der Verhütung, Überwindung oder Linderung einer Gesundheitsstörung behilflich sein. Unsere Entscheidungen werden durch medizinischen Rat und zunehmend auch durch Werbung wesentlich beeinflußt.

Die Entwicklung und der Vertrieb von Arzneimitteln wurde von der Politik in den meisten Ländern einer mächtig aufgeblähten Arzneimittelindustrie überlassen. Diese sperrt sich mit ihrer Lobby ständig gegen eine unparteiliche wissenschaftliche Überprüfung des gesundheitlichen Nutzens ihrer Produkte. Die Nutzenbewertung wird als wirtschaftliche Belastung abgewehrt und als innovationsfeindlich gebrandmarkt. Die Skrupellosigkeit vieler Pharmakonzerne ist inzwischen sprichwörtlich. Zahlreiche rechtskräftige Verurteilungen haben dazu geführt, dass diese Branche immer häufiger öffentlich im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität genannt wird.

Big Pharma und die dahinterstehenden Investoren wollen Monopole und maximale Gewinne. Wenn sie Versorgungsforschung betreiben, dann denken sie primär an die Versorgung ihrer Aktionäre. Sie mißbrauchen den Patentschutz durch Scheininnovationen. Sie sorgen für Zulassungsbehörden, die finanziell abhängig oder politisch beeinflußbar sind. Sie setzen Regierungen durch Panikmache und Angstkampagnen wie bei der Vogel- oder der Schweinegrippe, bei Ebola, EHEC oder Zika-Viren unter Druck. Sie machen ihre intransparenten Geschäfte mit Hilfe käuflicher Wissenschaftler, die sie mit Forschungsgeldern ködern und behalten sich die Entscheidung über eine Publikation der Studienergebnisse vor.

Der britische Psychiater David Healy sagt, dass die Industrie die Arzneimittelforschung vollständig kontrolliert und dass selbst die Bemühungen von unabhängigen Forschern des Cochrane Network, ins Leere laufen, weil die von der Industrie zur Verfügung gestellten Daten selektiert sind und nur ein Zerrbild zugunsten der Industrie der medizinischen Öffentlichkeit darbieten.
Ihr politischer Einfluß auf Wissenschaftsbetrieb und Gesetzgebung ist so groß geworden, dass es für Patienten und für Ärzte unmöglich geworden ist, Lüge und Wahrheit auseinander zu halten. Wenn selbst staatliche Behörden wie das Robert-Koch- oder das Paul-Ehrlich-Institut nicht mehr zwischen Marketing-Kampagne und Pandemiegefahr unterscheiden können oder sollen, wird es auch für den allgemeinen Medizinbetrieb schwierig, wissensbasiert zu arbeiten.

Zur Abschätzung eines möglichen medizinischen Nutzens von Arzneimitteln sind abgestufte klinische Studien gesetzlich vorgeschrieben. Sie sind Voraussetzung einer Marktzulassung. Diese Studien werden fast ausschließlich durch Arzneimittelkonzerne kontrolliert und finanziert. Diese suchen Probanden aus, bestimmen das Studienprotokoll, selektieren für sie günstige Ergebnisse, schmücken ihre opportunistische Forschung durch bezahlte „Ghostwriter“ und steuern die Veröffentlichung der Studienergebnisse durch intransparente Kooperationen.


Was die medizinische Welt dann als Wissen zu lesen bekommt, ist häufig nichts als Marketing für Drogen, die bestenfalls ohne Nutzen und schlimmstenfalls tödlich sein können.

Ob Medikamente krankmachen, kann somit weniger aufgrund des publizierten Wissens als aufgrund wacher und kritischer Wahrnehmung und Erfahrung im heutigen Medizinbetrieb beantwortet werden.
 
Kein Medikament hat nur eine Wirkung. Ob die erwünschte Wirkung wirklich dominiert und das Medikament nützt, läßt sich aufgrund der weitgehend korrumpierten medizinischen Forschung nur selten sicher abschätzen. Wer viele Medikamente nimmt, kann damit rechnen, durch diese zusätzlich krank zu werden. Selbst Ärzte haben es schwer, trotz kritischer Verschreibungspraxis die bestmöglichen Empfehlungen zu geben.


Es ist ein Trauerspiel, dass die Wahrheitssuche in der medizinischen Forschung jenen überlassen wurde, die in erster Linie nach Profit streben und die dabei immer wieder über Leichen gehen.

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