Spiritualität

Macht Religion Sinn?

01.04.2022 - Ludger Verst

Das Ringen um die Verortung des Phänomens Religion in pluralistischen Gesellschaften zeigt sich jeden Tag neu im Spiegel politischer, ethischer und kultureller Auseinandersetzungen. Auf der Diskursebene lässt sich die Empfänglichkeit für dieses Thema an der streitbaren These von der „Rückkehr der Religion“ ablesen.

Es sieht so aus, dass die Verständigung über Religion und insbesondere zwischen den Religionen zu einer neuen gesellschaftlichen Herausforderung geworden ist. In einer Situation, in der religiösen Institutionen daran gelegen sein müsste, ihre eigenen Glaubenstraditionen noch einmal überzeugend in einen breiten kulturellen Diskurs einzubringen, offenbart sich die Untauglichkeit ihrer alten metaphysisch gestützten Denk- und Sprachgebäude. Man sieht sich einer Überfülle weithin wirkungsloser religiöser Stile und Sprachspiele ausgesetzt. Der postmoderne Befund vom „Ende der großen Erzählungen“ spiegelt sich im grundsätzlichen Verdacht gegenüber allem Metaphysischen und Bekenntnishaften.

Stark vereinfacht und auf das Christentum bezogen, kann man sagen, dass Religion und Kirche in der Moderne eine Enttäuschungsgeschichte durchlaufen haben. Der Glaube an Gott oder Göttliches ist zur Privatsache geworden. Man behauptet zwar noch irgendwie seine gesellschaftliche Relevanz; die Gottesrede selbst aber ist weithin abstrakt und inhaltsleer geworden. Traditionelle Kommunikationsformen scheitern, weil sie die Bedürfnisse und Anliegen heutiger Gesellschaften nicht mehr abbilden.

Wie immer in Übergangszeiten gibt es eine handfeste Krise. Die Tradition soll linear verlängert werden und nicht kreativ. Das kann natürlich nicht gutgehen. Während Religion und Konfession sich einerseits individualistisch in spirituelle Zirkel und Komfortzonen verflüchtigen, entstehen andererseits lautstarke gesinnungsethische Verbünde, die traditionelle Glaubensgebäude und Werteordnungen fundamentalistisch verteidigen.

Ein trauriges Beispiel für ein solch rückwärtsgewandtes fundamentalistisches Verständnis von Religion liefert in diesen Tagen der Moskauer Patriarch und Putin-Freund Kyrill I. In seiner „Frühlingsrede“ (07.03.2022) rechtfertigt er indirekt das sinnlose und brutale Blutvergießen in der Ukraine, indem er fordert, dass sich die Menschen wieder strenger an die „göttlichen Gesetze“ halten sollen. Die „falschen Freiheiten“ des Westens, sein exzessiver Konsumkult und vor allem die Gay-Paraden — allesamt Ausgeburten der „Sünde“ — müssten endlich bekämpft werden, wenn nicht das Ende aller Zivilisation nahen sollte. Daher befände sich Russland in einem „metaphysischen Krieg“ und dürfte nicht länger tolerant gegenüber denen sein, die die „Verleugnung Gottes und seiner Wahrheit“ betreiben und die Grenzen zwischen „Heiligkeit und Sünde“ verwischen.

In autoritärem Verlautbarungsgestus wird hier ein ethischer Führungsanspruch behauptet, der die christliche Idee der Menschenfreundlichkeit Gottes und der Nächstenliebe zugunsten eines Schulterschlusses zwischen Religion, Politik und Militär verrät. Eine Religion aber, die die barbarische Logik eines Angriffskrieges mit „göttlichem Gesetz“ rechtfertigt, ist nicht nur schlichtweg menschenverachtend; sie verliert im Bezugsrahmen freiheitlicher, weltoffener, demokratischer Gesellschaften selbst jeglichen Grund und Sinn.

Was wir im Augenblick miterleben, ist in Krisen- und Angstsituationen nicht neu: Es polarisiert sich die Mentalität in einem Aggressionsmodus nach der Devise „Man muss mit allen Mitteln das Böse bekämpfen und das Gute verteidigen.“ Das Böse scheint ausgemacht, es ist lokalisiert, es ist die Gegenseite – und umgekehrt sind wir die Guten und die Richtigen. An dieser Stelle könnte, ja, müsste religiöses Denken seine eigene Wahrnehmungsfähigkeit, eine eigene Form der Nachdenklichkeit erzeugen, um die Polarisierung in Freund und Feind, in Richtig und Falsch, Gut und Böse nicht opportunistisch anzuheizen. Es gehört so gut wie immer zum Vorlauf  kriegerischer Angriffe, dass „Gott“ für Polarisierungen in Freund und Feind machtpolitisch in Anspruch genommen wird.

Aber auch in friedlichen zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen wird von Gott, Wahrheit und heiligem Gesetz mit verblüffender Selbstherrlichkeit gesprochen. Es löst kaum Sprachhemmungen aus, zu sagen, wer Gott ist, was er will und dass er sich als Herr der Geschichte erweist. Bischöfe und Priester, Theologinnen und Theologen gehen allzu „leichtmäulig mit dem Namen Gottes um, als hätten sie gerade noch mit ihm gefrühstückt“ (Fulbert Steffensky). Man tut vertraut, als ob Gott sprachlich und sachlich so unmittelbar erfahrbar wäre. Der Wirklichkeitsverlust, der durch derart wortreiche Selbstbehauptung nur kaschiert wird, führt zur Banalisierung all dessen, was mit Gott oder Göttlichem möglicherweise gemeint sein könnte.

Die uns geläufigen religiösen Verständigungssysteme scheinen im Übergang vom vormodernen zu einem modernitätstauglichen Gottesbild flächendeckend steckengeblieben zu sein —, in Glaubensmodellen, die der menschlichen Welt eine himmlische Sonderwelt überordnen, in die angeblich nur „Eingeweihte“ Einblick haben. Solange ein solcher Dualismus betrieben wird, verfehlt jede religiöse Rede von Gott das Weltverständnis heutiger Menschen, denn aus dem „himmlischen“ Obergeschoss einer zweigeteilten Welt lassen sich keinerlei Informationen in die eine Welt heutigen Wissens übertragen.

Anstelle einer an der Oberfläche bleibenden, verbalen Aufrüstung von Religion und Konfession bräuchte es eine Schärfung bewusster Wahrnehmung, ein Vordringen zu den Wurzeln dessen, was von den Tiefenschichten menschlichen Fragens und Sehnens her vernehmbar und dann erst vermittelbar wird. Die Psychologie Carl Gustav Jungs spricht in diesem Zusammenhang von archetypischen Erfahrungen, die in bestimmten seelischen Bildern Gestalt gewinnen und so eine innere Orientierung bilden. Solchen Bildern unverstellter Selbst-Erfahrung wäre phänomenologisch nachzugehen.

Religionsphänomenologisch wäre zu fragen: Was eigentlich sind menschliche Tiefenerfahrungen und was unterscheidet sie von religiös-konfessionellen? Gibt es einen eigenständigen Bereich des Erlebens, der als religiös beschrieben werden kann? Konkret: Wie, wo und wann öffnen sich Räume, die Tiefenerfahrungen sichtbar und fühlbar werden lassen? Worauf kann ich mich verlassen, wenn ich mich auf „Gott“ oder „Göttliches“ einlasse?

Als Theologe und Therapeut bin ich an einem solchen Tiefenverständnis von Wirklichkeit und menschlicher Erfahrung interessiert. Wirklichkeit ist, so könnte man etwas verkürzt sagen, was in der Realität der Psyche eine Wirkung ausübt. Menschen suchen — zum Beispiel in Konflikten — nach wirkungsvollen Lösungen. Wirkungsvoll wäre, eigene Gefühle, Phantasien und Wünsche nicht einfach auf andere(s) zu projizieren, sondern das Projektive zu reduzieren, nicht länger in zwei Welten zu denken: in Himmel und Erde oder Freund und Feind. Religionen könnten die Menschen in einem gemeinsamen Lebensraum beheimaten und diesen so mitgestalten, dass die eigene Endlichkeit und Begrenztheit anzunehmen immer besser gelingt.

Religionen sagen nicht, was das Unendliche oder wer „Gott“ ist. Der Theologe Andreas Benk beschreibt diese Einsicht so: „Gott ist nicht gut und nicht gerecht, nicht vollkommen und nicht allmächtig. Gott ist nicht Vater und nicht Mutter, nicht Geist und nicht Person. Das ist für viele Menschen bestürzend und verstörend — und doch ist es orthodoxe, katholische und evangelische Einsicht, es ist jüdische, christliche und muslimische Lehre. (…) Gott entzieht sich notwendig und unvermeidlich all unseren Versuchen, ihn zu begreifen.“

Ich verstehe Religion als ein Spektrum weltlicher, im Diesseits angesiedelter Ausdrucksformen für Gott oder Göttliches. Religiöses Verstehen beruht nicht allein auf wortsprachlichen Formen. Es bindet religiöses Sprechen in seiner Wurzel an leiblich fühlbare Atmosphären, die gerade für Unbekanntes oder Fremdes ein genaues Spüren verlangen. Wie die Welt für uns ist und wie wir uns in ihr befinden, erfahren wir nicht gegenständlich, sondern atmosphärisch. So ist es grundsätzlich auch mit Religion. Sie ruft den Sinn für das menschlich Unverfügbare und doch Notwendige wach. Sie will unsere Sinne dafür schärfen, wie vor dem Anspruch des Unendlichen Menschsein gelingen kann.

Gott oder Göttliches findet sich nicht durch besondere intellektuelle oder moralische Anstrengung und doch nirgendwo anders als in den Erfahrungen des Alltäglichen: wenn ich berührt oder getroffen werde vom Unbekannten und Außerordentlichen, vom „Fascinosum et Tremendum“ (Rudolf Otto) als einer Tiefe, in der mein Leben gründet und Sinn erfährt. „Der Name dieser unendlichen Tiefe und dieses unerschöpflichen Grundes alles Seins ist Gott. Jene Tiefe ist es, die mit dem Wort Gott gemeint ist. Und wenn das Wort für euch nicht viel Bedeutung besitzt, so übersetzt es und sprecht von der Tiefe in eurem Leben, vom Ursprung eures Seins, von dem, was euch unbedingt angeht, von dem, was ihr ohne Vorbehalt ernst nehmt. Wenn ihr das tut, werdet ihr vielleicht einiges, was ihr über Gott gelernt habt, vergessen müssen, vielleicht sogar das Wort selbst. Denn wenn ihr erkannt habt, dass Gott Tiefe bedeutet, so wisst ihr viel von ihm. (…) Wer um die Tiefe weiß, der weiß auch um Gott“ (Paul Tillich: In der Tiefe ist Wahrheit. Stuttgart 1952, 55f.).

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