"Macht uns die wahre Liebe Angst?"
01.11.2016 -Na ja, sollte sie wohl. Aber diese Botschaft ist unserer Gesellschaft irgendwie abhanden gekommen. Jedenfalls verhalten Sie sich ganz anders: Liebe ist das maßgebliche Gefühl für Ihre Lebensplanung! Verlieben Sie sich, so versuchen Sie, mit dem Objekt Ihrer Liebe so viel wie möglich zusammen zu sein, wenn es sich machen lässt, sogar zusammen zu ziehen, obwohl Daniel Bergner gerade gegen Letzteres einige handfeste Argumente gesammelt hat.
Und wenn Sie sich entlieben, steht Trennung an, ganz egal, welche Argumente, oft sehr existenzielle, wie Kinder, finanzielle oder berufliche Verpflichtungen, dagegen sprechen. Die Liebe ist Ihr wichtigster Maßstab für die Wertschätzung Ihres significant other und deshalb rutscht sie oder er auf einer Skala herum, die vom höchsten Ziel der Begierde bis zur absolut zu vermeidenden Peinlichkeit reicht, oft ohne eigentlich zu wissen, wie sie oder er dazu kommt.
Warum sollte uns Liebe denn Angst machen? Wenn wir lieben, können wir Glück von nie gekannter Intensität erleben, verbinden sich seelische und körperliche Empfindungen zum Highlight unseres bisherigen Lebens. Na gut, wenn Sie sich nicht auf starke Gefühle einlassen wollen, dann macht Ihnen so etwas wahrscheinlich Angst, aber das ist ja dann wohl eher ein Zeichen charakterlicher Schwäche.
Ist das so?
Um etwas mehr über die Liebe zu lernen, hilft ein Blick in die Weltliteratur: Mutter Courage droht ihrer Tochter „die Liebe ist eine Himmelsmacht, - ich warne Dich!“ - ohne Erfolg.
Ok, Brecht liebt die unverblümte Sprache, die übertreibenden Theatereffekte. Ganz anders Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“, ein Höhepunkt der Minnedichtung, die Vorlage zu Richard Wagners Oper: Der seinem Lehnsherren treu ergebene Ritter verliebt sich in die für seinen Herrn vorgesehene Braut. Auch wenn Ihnen Wagner nichts gibt, eignet sich diese Geschichte ganz gut als Einführung, wie „wahre Liebe“ funktioniert: Die beiden wollen eigentlich überhaupt nichts von einander wissen, Isolde ist über Tristans Macho-Gehabe empört, Tristan hält sie für eine hochnäsige Zicke. Doch dann, der Blitz aus heiterem Himmel, verlieben sich beide so heftig, dass sie nichts mehr um sich herum sehen oder hören. Angeblich wegen eines fehlgeleiteten Zaubertranks, doch dieser dramaturgische Trick soll offensichtlich erklären, was rational schlicht nicht erklärbar ist. Die Liebesnacht ist kurz, das Paar wird entdeckt und in der folgenden Auseinandersetzung mit dem König und seinen Getreuen wird Tristan so schwer verletzt, dass er zwar in Sicherheit gebracht werden kann, aber stirbt, bevor er Isolde wiedersieht. Aus Gram stirbt auch sie, indem sie den berühmten „Liebestod“ singt.
Die Musik macht süchtig, die Geschichte ist zum Fürchten: Liebe und Tod, untrennbar verbunden! Zu den Klängen des zentralen Liebesduetts „So stürben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End ...“ sind zwei berühmte Dirigenten akut verstorben und selbst der sympathische, modern denkende Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Simon Rattle, gesteht: „Wagners "Tristan" kann einen wahnsinnig machen... als ich meinen ersten "Tristan" dirigiert habe, stand ein Eimer neben mir, damit ich mich jederzeit übergeben konnte, so schlecht und schwindelig war mir!“
Sehr viel irdischer beschreibt die Bestsellerautorin Connie Palmen, wie sie und ihre große Liebe sich gleichzeitig in die Hose machen, als sie sich zum ersten Mal auf der Straße begegnen. Peinlich, unappetitlich? Ja klar! So ist Liebe! Palmens Kommentar: „Alle großen Emotionen haben etwas Schreckliches. Angst, Reue, die Geburt eines Kindes, Liebe, alles, was groß ist.“
Tja, Sie müssen sich wohl entscheiden;
Bilden diese alten und manchmal auch neuen Geschichten, die Sie ohne Weiteres um Helena und Paris, Romeo und Julia, Gretchen und Faust, Madame Bovary, Effi Briest etc. ergänzen könnten, einen realen Aspekt des Phänomens Liebe ab, den wir in unseren heutigen, optimierten Paargeschichten geflissentlich übersehen, oder ist das morbider Staub, nichts für Menschen des 21. Jahrhunderts?
Als Psychotherapeut neige ich zu ersterer Auffassung. Und frage mich immer wieder, ob diese Geschichten vom großen Glück ach so stabiler Beziehungen, die dann von einem Tag auf den anderen beendet werden und in, - ja schon! -, ziemlicher Verzweiflung für die Verlassenen enden, ob die daraus entstehenden wirtschaftlichen Katastrophen, an denen nur die Banken verdienen - ausgerechnet die! -, nicht darauf beruhen, dass wir, Sie und ich, in der Verblendung akuter Verliebtheit einige wesentliche Aspekte der Liebe immer wieder ausblenden: Dass sie unstetig ist, ebenso jäh enden kann, wie sie beginnt, wenn wir vom Blitz getroffen werden? Dass wir uns weder auf sie verlassen noch sie kontrollieren können? Dass es nichts Tolleres gibt, als von ihr getroffen zu werden und wenig Schrecklicheres, als allein zurück zu bleiben?
Und wenn wir schon von Wahrheit reden: Es geht wohl nicht um irgendeine abstrakte „wahre Liebe“, sondern um die sehr konkrete Wahrheit unserer menschlichen Natur. Wir sind so. Jedenfalls ziemlich oft. Und dafür braucht es keine Zaubertränke, neidische Götter oder unbarmherzige Schicksalsschläge.
Angst?
Menschen können Angst überwinden. Das klappt aber nur, wenn wir Realitäten akzeptieren und nicht davor wegrennen. Eine Realität der Liebe hat Sophokles vor fast 2500 Jahren - schon wieder so eine schreckliche, alte Geschichte - mit dem Satz beschrieben: „Eros ist von allem das größte“. Wenn das aber so ist, sollten wir demütig mit dieser Liebe umgehen, das Glück genießen, den Verlust betrauern, die Partner und schon gar die Kinder dieser Liebe nicht büßen lassen, wenn diese unsere, aber eben nicht kontrollierbare, Liebe vergeht.