Mehmet Scholl: "Viele wollen jemand anderes sein, aber niemand will normal sein"
01.02.2019 -Er ist ein ehemaliger Profi-Fußballer, der zu den ganz Großen der deutschen Sportgeschichte zählt: acht Mal Deutscher Meister, fünf Mal DFB-Pokalsieger, Gewinner der Champions-League, des UEFA-Cups und Europameister. Heute schätzt man ihn für seine Expertise als Sportkommentator und Moderator. DAS MILIEU sprach mit Mehmet Scholl über seine Erfahrungen als Trainer, Kritik an seine Arbeit als TV-Experte und Kommerz im Fußball.
DAS MILIEU: Sie waren nach Ihrem Karriereende 2007 drei Jahre lang als Trainer aktiv. Wie war diese Erfahrung?
Mehmet Scholl: Die Trainer-Tätigkeit hat mich total erfüllt. Sowas steht natürlich nicht in den Zeitungen. Da wurde immer nur geschrieben, dass ich als Trainer total versagt hätte.
MILIEU: Sie haben nicht versagt?
Scholl: Dann nenne ich jetzt mal die Fakten: 1,93 Punkte pro Spiel, das ist nur 0,2 weniger als Pep. Die Spieler, die ich begleitete, Emre Can, Pierre Emile Höjbjerg oder David Alaba, waren zu jung. Ihr Problem war, dass sie erst lernen mussten, wie man den Herren-Fußball spielt, um dann später aufsteigen zu können.
Einmal wurden wir in der dritten Liga Achter. Übrigens hat das nie wieder eine Mannschaft vorher erreicht – mit 1,53 Punkten im Schnitt. Im zweitem Jahr waren es 1,93 Punkte und wir sind Zweiter geworden. Ich habe die ganzen Spieler zu Männern gemacht und das war mein Auftrag. Ich muss immer so schmunzeln, wenn das alles so unrecherchiert hinterfragt wird.
MILIEU: Warum haben Sie dann aufgehört?
Scholl: Das war im ersten Jahr unter Van Gaal. Das war ein ganz furchtbarer Typ. Er hat alles in Angst und Schrecken versetzt – außer Uli Hoeneß und mich. Wir beide haben ihm die Stirn geboten und ihm gesagt, dass das nicht so funktioniert, weil es auch eine menschliche Ebene geben muss. Deshalb hatte Uli zuerst mit ihm gebrochen, und je erfolgreicher er im ersten Jahr wurde, umso mehr meinte er, auf mich Druck ausüben zu müssen und mir in meiner Ausbildung reinquatschen zu müssen. Ich sagte zu ihm, dass ich da unten ein anderes Rennen fahre und das meine Spieler sehr jung sind, umso mehr und härter trainieren müssen. Ich habe betont, dass wenn ich sie ihm übergebe, er sie behalten könne, dann wolle ich sie auch nicht mehr zurück. Aber bis es so weit sei, solle er mich noch meine Arbeit machen lassen. Aber das hat trotzdem nicht aufgehört. Ich habe dann sieben Wochen vor dem Ende gesagt: „Pass auf Louis, ruf mich nicht mehr an! Lass mich diese sieben Wochen in Ruhe! Sprich mich nie wieder mehr an!“. Ich glaube, dass das alles unter einem anderem Trainier anders gelaufen wäre.
MILIEU: Wann öffneten sich die Türen zum Fernsehen?
Scholl: Die TV-Auftritte fingen mit acht Einsätzen bei der EM 2008 – im Anschluss an Günter Netzer, der die Nachmittags-Spiele kommentierte. Als irgendwann im Raum stand, dass Netzer aufhören will, wollten die Verantwortlichen, dass ich das von nun an mache. Und ich habe zugesagt. Es war nie mein Ziel oder meine Intention. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn man etwas gezielt anstrebt, man es oftmals nicht bekommt. Aber wenn man sich für bestimmte Dinge entscheidet und sie eine Weile laufen lässt, dann passieren immer gute Sachen im Leben.
MILIEU: Wenn man sich die Bewertung Ihrer Expertise durch die Medien, anderen Sportlern oder den Zuschauern im Netz anschaut, dann wirkt es so als würdest du polarisieren. Wie stehst du zur Kritik, dass du am Mikrofon instinktgetrieben wärst, du würdest wüten ohne zu begründen, du seist dreist und egozentrisch?
Scholl: Überhaupt nicht. Das Internet ist das hysterischste und schnelllebigste Medium, das es bisher gab. Gestern war ich es, der den Shitstorm abbekommen hat, und morgen ist es schon jemand anderes. Entspannt euch mal alle. Interessant sind die Eigenschaften, die mir zugeschrieben werden. Niemand, der mich kennt, würde mir irgendeine dieser Eigenschaften zusprechen.
MILIEU: Sind Ihre Analysen willkürlich?
Scholl: Hinter jeder Analyse steckt eine Struktur. Ich fokussiere vor allem vier Punkte: 1) Verhalten, d.h. wie sind die Menschen, die Spieler, die über den Platz laufen, unterwegs, haben sie Freude oder Angst? 2) Kadermischung, d.h. besteht die Mannschaft aus allen wichtigen Spielertypen? 3) Basis, d.h. stimmen die Stärke, Fitness, Leistungsbereitschaft und die Technik? 4) Taktik – sie kommt als Letztes.
MILIEU: Wie hat sich der Fußball deiner Meinung nach in den letzten beiden Jahrzehnten verändert?
Scholl: Er ist schneller und physischer geworden. Die einzelnen Spieler sind – entgegen der weitläufigen Meinung – nicht besser geworden. Weit und breit hat Deutschland keinen Lothar Matthäus, keinen Stefan Effenberg mehr. Dem kam ein Schweini vom Wesen her schon recht nahe.
Und wenn ich vergleiche, wie gut wir 2001 waren und wie gut die 90er Weltmeister waren, dann glaube ich, dass wir gegen diese Mannschaft keine Chance gehabt hätten. Da war jeder einzelne Spieler eine Persönlichkeit: Andi Brehme, Lothar Matthäus, Pierre Littbarski, Klaus Augenthaler, Guido Buchwald, Bodo Illgner, Thomas Berthold, Thomas Häßler, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann – das waren ziemliche Brecher.
MILIEU: Woran liegt es, dass solche Persönlichkeiten heute fehlen?
Scholl: Es gibt drei Spielertypen: 1) die kreativen Spieler so wie Ribery, die diese Sportart auf der Straße gelernt haben und mit allen Wassern gewaschen sind, 2) die machtvollen Spieler wie ein Schweinsteiger, die, wenn es schlecht läuft, die Mannschaft zusammenhalten, 3) die normalen Spieler, die „austauschbar“ sind.
Der Trainertyp, der sich derzeit aufbaut, kann mit der Straße nichts anfangen, weil das lauter asoziale Typen sind, mündige Spieler, die eine eigene Meinung haben, mit denen können sie nicht umgehen. Und oben kommen derzeit lauter „normale“ Spieler an, aber du gewinnst mit denen keine Meisterschaften. Es braucht eine gute Mischung. In den kommenden zehn Jahren wird der deutsche Fußball auf der höheren Ebene ein Problem haben.
MILIEU: Die Kommerzialisierung ist ebenso ein Problem.
Natürlich. Ich behaupte, dass es jetzt erst mit dem großen Geld anfängt. Da wird es einem bei den Summen schwindelig – völlig zurecht. Wenn das Geld erst mal im Markt ist, gibt es kein Zurück mehr. Und jetzt kommen die Chinesen, die russischen Oligarchen, die arabischen Scheichs und Google fragt sich, was sie mit ihrem Geld machen sollen und lässt es einfach mit hineinfließen.
MILIEU: Wie sorgen Sie dafür, dass Sie das nicht auch einnimmt?
Scholl: Heutzutage ist es so, dass die Menschen immer diesen Selbstoptimierungsdrang haben. Sei es die berufliche Selbstoptimierung oder die optische Selbstoptimierung. Da mache ich nicht mit. Ich habe ganz früh in meinem Leben durch meinen Beruf und meine Leidenschaft für den Fußball gelernt, dass ich Entscheidungen treffen muss, mit denen ich langfristig leben kann. Viele Menschen können in diesen Zeiten nicht mehr „Nein“ sagen – sei es im Beruf oder im Privatleben.
MILIEU: Was ist der Grund dafür?
Scholl: Viele wollen jemand anderes sein, aber niemand will normal sein. Ich war ein ganz normaler Junge, der irgendwann eine natürliche Grenze für sich gezogen hat. Wenn jemand, der in einer höheren Position ist, sich in meinen Bereich einmischt, sei die Sache noch so richtig, aber die Art und Weise wie etwas ausgesprochen wird, nicht in Ordnung ist, dann gehe ich sofort dazwischen. Deshalb habe ich auch beim Fernsehen aufgehört. Durch den Profisport habe ich früh gelernt, solche Entscheidungen zu treffen, mit deren Konsequenzen ich künftig gut leben kann. Die Summe dieser Entscheidungen hat mich zu dem gemacht, der ich jetzt bin.
MILIEU: Mit welchem Anspruch gehen Sie an die Arbeit?
Scholl: Als Kommentator geht es mir darum, den Sport, den wir lieben, so einfach wie möglich darzulegen, ihn in einfacher Sprache zu erklären. Und die Sinne der Zuschauer zu schärfen, ihnen meine Augen zu geben, ihnen zu zeigen, dass es einige Muster gibt, die sich immer wiederholen und ihnen klar zu machen, was die Mannschaften richtig oder falsch machen. Mehr ist es nicht.
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Scholl!
Transkribiert von Tayyeba Raja.