Integration

Niemand kümmert sich um uns! Aber wer sind wir eigentlich?

14.09.2013 - Claus H. Godbersen

Es war einer dieser Momente, wo man glaubt, in einem Sketch von Oliver Kalkofe gelandet zu sein. Ich war Referent in einem Seminar zur politischen Bildung, und wieder hatte es ein Teilnehmer geschafft, das Gespräch auf die angebliche „Ausländerproblematik“ zu bringen. Sofort beteiligten sich alle. Jeder Herr und jede Dame hatte zu berichten, dass die Ausländer sich in Deutschland nicht anpassen wollten, kein Deutsch lernten, überall ihre Moscheen bauten, im Namen der Religion und der Ehre ihre Töchter ermordeten und dann beim Sozialamt noch immer besser behandelt würden als Deutsche. Und es sei ja gut und richtig, dass Ausländer in Deutschland menschlich behandelt würden, aber wenn wir uns im Ausland so benehmen würden, ginge das gar nicht... und wann kümmere sich die deutsche Politik überhaupt nochmal um die Deutschen?

Aha, damit ist zumindest die erste Frage nach dem Wir beantwortet. „Wir“, das sind die Deutschen, um die sich niemand kümmert – zumindest nach Interpretation von Lieschen Müller, der sprichwörtlichen Durchschnittsdeutschen.

 

Aise Yilmaz – sie sei hier Repräsentantin der durchschnittlichen Deutschen mit ausländischen Wurzeln – kommt aus anderen Gründen zu der gleichen Schlussfolgerung. Sie erzählt: Unsere Eltern wurden nach Deutschland gerufen, weil man dringend Arbeitskräfte brauchte. Sie haben mitgeholfen, Westdeutschland nach dem Krieg wieder aufzubauen. Ihre Arbeitskraft haben die deutschen Unternehmer gerne genommen, ihre menschlichen Persönlichkeiten waren aber nie gefragt. Und auch heute noch machen fast immer wir die harte, schlecht bezahlte Arbeit. Wer geht früh morgens und spät abends putzen? Wer fährt als scheinselbständiger Lieferant die Pakete aus? Wer arbeitet über zwölf Stunden pro Tag im Imbiss? Wer hält als Taxifahrer gerade eben sich selbst und seine Familie über Wasser? Und –  ohne ein weiteres Fass aufmachen zu wollen, nur ganz nebenbei –: Wer bekommt die Kinder, die Deutschland angeblich so dringend braucht? Es sind mitnichten Müller, Meier und Schulz, sondern Yilmaz, Yildiz und Gül. Aber trotzdem hat man sich in der deutschen Öffentlichkeit bis vor wenigen Jahren überhaupt nicht um uns gekümmert. Wenn eine Moschee das ganze Stadtviertel zu einem Fest einlädt, dann ist es schon sensationell, wenn nur ein einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund erscheint. 

 

Bei all ihren Unterschieden sind sich Lieschen Müller und Aise Yilmaz in einem einig: Niemand kümmert sich um uns! Deutschland, das Land der vernachlässigten Bürger... Könnte das nicht ein Ausgangspunkt sein, um näher zusammenzurücken?

 

Nachdem mit diesen etwas plakativ dargestellten, in ihren Ursprüngen aber durchaus  der Realität entnommenen Vorüberlegungen sozusagen das Spielfeld vermessen ist, betrachten wir die Hintergründe der Klagen einmal genauer:

 

Es ist richtig, dass Bürgerinnen mit Migrationshintergrund wie Aise Yilmaz lange Zeit aus der Öffentlichkeit geradezu verbannt waren. Wenn Migranten in den Medien auftauchten, dann meist in der Form von „Der Täter wird beschrieben als ein  circa 25-jähriger Mann mit südländischem Aussehen.“ Derartige Meldungen mögen über einen längeren Zeitraum durchaus einem dumpfen Rassismus das Wort geredet haben, der alle Ausländer und Deutsche mit Migrationshintergrund tendenziell als kriminell darstellt. Allerdings konnte man keinem Journalisten vorwerfen, das so formuliert zu haben. Als jedoch im Jahr 2010 Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ die Mär vom kriminellen oder zumindest faulen und nichtsnutzigen Migranten laut vertrat, war das Fass endlich übergelaufen. Verantwortungsbewusste Medienmacher suchten nun auch offensiv nach der Story über den fleißigen Araber, den ehrlichen Russen und die emanzipierte Türkin, und natürlich wurden sie fündig. Infolge dieses Sarrazin-Schocks nahm Lieschen Müller immerhin zur Abwechslung wieder einmal die Existenz von Aise Yilmaz zur Kenntnis. Allerdings blieb die Reaktion des Durchschnittsdeutschen noch weitgehend so, dass die Migranten sich gefälligst anzupassen hätten. Nur wer auf der Kirmes Bier und Bockwurst isst, sei im deutschen Sinne kultiviert, lautete die Daumenregel. Die deutsche Mehrheit breitete die Arme in einer Art und Weise aus, die allen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehörten die Lust auf eine Umarmung gehörig verderben konnte. Also verstummte die Kommunikation zwischen Altdeutschen und Neudeutschen wieder für ein gutes Jahr – bis am 4. November 2011 eine Explosion die sächsische Stadt Zwickau erschütterte. Schon wenige Tage danach war die Bundesrepublik nicht mehr dasselbe Deutschland. Niemand konnte jetzt leugnen, dass es in Deutschland ein Problem mit Rassismus gibt. 

 

Und obwohl fast zwei Jahre nach der Explosion in Zwickau immer noch einige Mitbürgerinnen und Mitbürger den Rassismus auf eine kleine, fanatische Neonazi-Szene und ihre NSU-Speerspitze reduzieren wollen, sprechen und schreiben heute immer mehr Leute darüber, wie der Rassismus Teil unseres deutschen Alltages ist und der rechtsextremen Szene eine wunderbare Vorlage bietet. Endlich berichten Mainstream-Medien und sprechen Menschen im Freundeskreis darüber, dass ein arabischer Name oder ein russischer Akzent die Chancen auf eine Mietwohnung oder einen Arbeitsplatz drastisch reduzieren. Endlich begehren junge Männer vereinzelt dagegen auf, dass sie wegen ihrer schwarzen Haare nicht in die Diskothek eingelassen werden. Endlich fordern muslimische Frauen ihr Recht ein, nicht auf die Frage „Mit oder ohne Kopftuch“ reduziert zu werden. Und was jetzt ans Tageslicht kommt, ist teilweise haarsträubend. Auch ohne die Analyse repräsentativer Daten wird inzwischen erkennbar, dass rassistische und fremdenfeindliche Diskriminierung sich durch alle Bereiche des Alltags zieht und selbst Kinder trifft. So müssen sich Schülerinnen von Lehrkräften in der Schule Fragen und niveaulose Kommentare über die Situation in den Herkunftsländern ihrer Vorfahren wie zum Beispiel Afghanistan gefallen lassen. Dabei sollte jeder nur ansatzweise pädagogisch Gebildete wissen, was er einem Kind, das in seiner Schulklasse einfach nur dazugehören möchte, antut, in dem er es als „aus Afghanistan“ abstempelt. Und auch in anderen Alltagsszenen zeigen Durchschnittsbürger sich schnell von ihrer unsympathischsten Seite, wenn nur eine Person mit Migrationshintergrund ihren Weg kreuzt. 

 

Kostproben gefällig?

 

„Unter Hitler hätten Sie hier gar nicht arbeiten dürfen!“, bellt ein Kunde eine Bäckerei-Aushilfe an.

 

„Ich lasse doch keinen Schwarzen in meine Wohnung!“, beendet eine Vermieterin das Gespräch mit einem Interessenten, kaum dass es begonnen hat.

 

„Ich habe keinen Bock mehr auf die Ausländer.“, lässt eine Lehrerin ihre Klasse wissen.

 

„Sie sind doch eh' nichts Besseres gewohnt.“, rechtfertigt ein Schichtleiter die schlechte Behandlung einer aus dem Libanon stammenden Kollegin.

 

„Es liegt nahe, dass der Türke der Dieb ist.“, heißt es während einer betriebsinternen Diebstahlermittlung.

 

„Na, Russin, wie läuft es auf dem Strich?“, ist die charmante Begrüßung, mit der ein Mädchen von ihren Mitschülerinnen empfangen wird. 

 

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

 

Nun sind das Antworten einer zwar umfangreichen, aber eben nicht repräsentativen Befragung unter Migranten in Schleswig-Holstein (AWO Landesverband Schleswig-Holstein: Alltägliche Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund in Schleswig-Holstein 2012, Kiel 2012). Man könnte argumentieren, dies sei nur eine hochkonzentrierte Ansammlung weniger Momente, in denen irgendwelche Schmalspur-Nazis sich nicht unter Kontrolle hatten. Aber alle Leser sind eingeladen, die Probe zu machen und eine Kollegin, einen Nachbarn, einen Geschäftspartner mit Migrationshintergrund offen und ehrlich zu fragen, ob ihm oder ihr so etwas schon einmal passiert ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Antwort „Ja“ sein. 

 

Aber dies ist nicht die einzige, sondern nur die leichter erkennbare Dimension des Rassismus in unserem Alltag. Die andere ist, dass eingeborene Deutsche sich gegenüber ihren Mitmenschen mit Migrationshintergrund oft so verhalten, dass immer wieder die Unterschiede betont werden. 

 

Eine junge Deutschtürkin, die gerade ihre Doktorarbeit in Linguistik schreibt, wird von einer unbedarften Nachbarin für ihr „fast perfektes Deutsch“ gelobt. 

 

Auf die Frage „Wo kommst du her?“ wird die Antwort „Hamburg“ nicht akzeptiert, sondern es wird so lange nachgebohrt, bis die gefragte Person irgendwann endlich ihren italienischen Großvater eingesteht.

 

Muslime müssen sich immer wieder dafür rechtfertigen, warum sie keinen Alkohol trinken und kein Schweinefleisch essen.

 

Bei muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, wird entweder Unterdrückung durch die Ehemänner oder eine terroristische Gesinnung vermutet.

 

An diesem – angesichts der sonst im Gegensatz zum restlichen Europa geradezu sprichwörtlichen Passivität des deutschen Michels so erstaunlich aktiven – Suchen und Finden von angeblichen Unzulänglichkeiten der Migranten offenbaren sich fatale Grundeigenschaften unserer Gesellschaft: Eine nicht vorhandene Bereitschaft, Fremdes als Chance zur eigenen Weiterentwicklung zu nutzen; eine Problemorientierung; und schließlich eine Tendenz, unversöhnliche Eigen- und Fremdgruppen zu konstruieren.

 

Und das psychologisch so überaus Bequeme an Fremdgruppen, mögen sie auch nur zwei Straßen entfernt wohnen, ist, dass man sie aus der eigenen Lebenswelt ausklammern kann und sich nicht um sie zu kümmern braucht.

 

Erinnert sich noch jemand an den Anfang dieses Textes? „Niemand kümmert sich um uns“, sagte Lieschen Müller und  Aise Yilmaz unisono, ohne jemals miteinander gesprochen zu haben. Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, dass Frau Yilmaz deutlich mehr Grund für ihre Klagen hat als Frau Müller; aber Lieschen wird das nicht gerne hören. Und vielleicht erhebt auch Aise Einspruch: „Moment, so war das nicht gemeint. Ich will mich nicht als armes Opfer verstanden wissen!“

 

Alle Klarheiten beseitigt?

 

Halten wir Folgendes fest: Es gibt in der deutschen Gesellschaft mehr Rassismus, als die meisten anständigen Bürger wahrhaben wollen. Aber Migranten sind nicht die Einzigen, die es im Leben schwer haben. Oder meinetwegen auch umgekehrt: Deutschland bietet Zuwanderern aus dem Ausland nicht wenig. Aber das Internationale Zentrum des Lieb-Zueinander-Seins hat hier trotzdem kein Büro. Mein Rat zum Schluss, liebe Frau Müller und liebe Frau Yilmaz – falls Sie nach diesen Ausführungen noch einen Rat von mir annehmen mögen –: Wenn sich schon niemand um Sie kümmert, kümmern Sie sich doch mal!

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen