Rezension

No Car - Eine Streitschrift für die Mobilität der Zukunft

01.10.2020 - Nikolai Luber

Das Auto ist das Problem - seine Abschaffung die Lösung!

(das Motto des Autors zu dem hier rezensierten Buch)

Die Fakten sprechen für sich!

Fundiert und detailliert erläutert Salomon Scharffenberg, was uns das Auto kostet: In mehreren Kapiteln beschreibt er die Vernichtung von Ressourcen, Landschaft, Wasser und Zukunft. Und stellt dabei Fakten zusammen, die nachdenklich machen: Der Autoverkehr benötigt pro beförderter Person zehnmal so viel Fläche, wie  Bahn-, Bus- Fahrrad- oder Fußverkehr. Die Produktion eines PKW verschlingt fast eine halbe Million Liter Wasser – für ein Fahrrad reichen gerade mal 5.000. Noch erschreckender ist der Vergleich der Verkehrstoten: Durch Autoverkehr sterben jährlich in Deutschland ca. 3.000 Menschen. Würden jede Woche 100 Menschen in Zügen sterben oder jeden Monat ein Passagierflugzeug abstürzen – wir würden diese Verkehrsmittel bestimmt nicht mehr nutzen.

 

Wie sieht die Lösung aus?

Scharffenbergs Vorschlag ist einfach und radikal: Alle Autos abschaffen und zwar sofort. Keine langen Übergangsszenarien , kein langsames Ausschleichen, sondern ein harter, schneller Entzug. Seine Begründung für diese Radikalität überrascht: Gerechtigkeit! Scharffenberg argumentiert, eine Preiserhöhung beim Autofahren führe dazu, dass irgendwann nur Porsches auf den Straßen führen. Neben dieser sozialen Gerechtigkeit führt er auch die internationale und die Generationengerechtigkeit an.

Mit einer Übergangsfrist von fünf bis zehn Jahren hält Scharffenberg „no car“ für möglich. Zwar schlägt er vor, wie man sich dem radikalen Schnitt in kleinen Schritten nähern könnte: Ein „Tempolimit light“ etwa mit Höchstgeschwindigkeiten von 30, 80 und 120km, autofreie Sonntage oder ein dauerhafter Verlust des Führerscheins für wiederholte Verkehrssünder. Doch fragt er sich: „Warum soll langes Vermiesen besser sein als konsequentes, schnelles Abschaffen aller Autos?“ Wichtig ist für Scharffenberg: Der Verzicht aufs Auto muss Gesetzeskraft haben und nicht in der beliebigen Entscheidung des Einzelnen bleiben.

Dem Elektroauto erteilt er fundiert eine Abfuhr: Es ist  von der CO2-Emission her kaum  günstiger als eines mit Verbrennungsmotor. Und Auto bleibt Auto: Die tausenden Verkehrstoten würden durch die Elektrifizierung ebenso wenig vermieden wie die Zerstörung von Natur und Landschaft. Fazit: Die Mobilität von morgen gelingt nicht durch andere Autos, sondern nur ohne Auto.

 

Und dann?

Was tun, wenn das Auto weg ist; wie dann von A nach B kommen? „Die Fahrrad-Eisenbahn-Gesellschaft“ ist Scharffenbergs Antwort. Das Fahrrad ist „das wunderbarste Verkehrsmittel, das der Mensch je geschaffen hat“.  „Fahrradfahren macht glücklich“ und ist die effizienteste Art der Fortbewegung. Für weitere Strecken, auch im Güterverkehr, setzt er auf die Bahn und forderte eine Wiederbelebung der Flächenbahn mit engem Takt im Personenverkehr. Weitere Elemente seiner Verkehrswende: Stärkere Vernetzung von Fahrrad und Eisenbahn, z.B. durch bessere Mitnahmemöglichkeiten, die flächendeckende Wiederbelebung der Straßenbahnen in den Städten und das Nutzen von Lastenfahrrädern und E-Bikes.

Soweit, so gut und  so visionär. Wer selbst, wie der Verfasser dieser Rezension, gerne Fahrrad und Bahn fährt und weitgehend autofrei lebt, möchte Salomon Scharffenberg gerne ein begeistertes „Ja, bitte!“ zurufen, „So soll der Verkehr der Zukunft aussehen“. Doch an manchen Stellen macht es sich der Autor zu einfach. Etwa mit seiner Meinung: „Seien wir ehrlich: Schon heute kommt jeder jederzeit an jeden beliebigen Ort. Dafür sind öffentliche Verkehrsmittel da.“ Das mag für Teile der Stadtbevölkerung gelten, auf dem Land sicher nicht. Ebenso seine Feststellung: „Das Auto ist schlicht überflüssig.“ Sollte das stimmen, wäre sein Buch es auch. Besser wäre es, ein differenziertes Bild zu zeichnen: Auf dem Land mag das Auto noch eine Zeit lang seine Berechtigung haben, weil es sehr aufwändig wird, es dort zu ersetzen. Städte hingegen könnten schon heute autofrei sein, wenn der politische Wille da wäre. Dass dies keine Utopie ist, zeigt Brüssel mit seiner „Vélorution“: Die gesamte Innenstadt wurde zur Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger erklärt; Autos dürfen nur noch mit 20 km/h fahren.

Das ist ein Schritt in die richtige Richtung von Scharffenberg, der feststellt: „Nichts außer Fahrverboten wird die innerstädtischen Verkehrsprobleme lösen.“ Und das Beispiel Brüssel zeigt, dass ausgerechnet Corona die Verkehrswende in den Städten einläutet – andere Städte haben ähnliche Pläne. Vielleicht braucht es große Krisen, um große Veränderungen zu bewirken. Vielleicht würden Menschen das Auto sofort abschaffen, wären die Folgen des Klimawandels ebenso erschreckend sichtbar, wie die der Pandemie. So aber bleibt die Frage, ob verdorrte Nadelwälder und Hitzesommer reichen, um die Deutschen zur Abkehr von ihrem liebsten Spielzeug und Statussymbol zu bewegen. Bisher sieht es nicht danach aus: Die Zahl der Autos in Deutschland steigt weiter, „Auto-Müdigkeit ist bei den Deutschen nicht festzustellen“, formuliert die Süddeutsche Zeitung.

Auch Scharffenberg konstatiert: „Es ist zwar bekannt, was wir tun müssen, um uns noch zu retten, aber wir tun es bislang einfach nicht.“ Was wir - außer das Auto abzuschaffen - noch tun müssen, darum geht es im letzten Kapitel. Da verknüpft der Autor die autofreie Gesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen und Agrarwende. Dass er beides als „flankierende Maßnahmen“ bezeichnet und diese gegen Ende noch rasch in das Buch einfügt, ist nicht überzeugend.  Seine Vision einer „Transformation zur ökosozialen Gesellschaft“ mag überzeugend sein, aber beide Themen hätten eine eigene Streitschrift verdient. So sprengt er den Rahmen seiner Streitschrift, wodurch sie am Ende an Stringenz einbüßt. Das ist schade, denn zuvor entwirft er ein überzeugendes Bild einer lebenswerten Stadt der Zukunft, wo Kinder wieder in der Öffentlichkeit spielen und Nachbarn gemütlich beisammen sein können statt stinkender Blechlawinen, die sich zäh durch die Straßen pressen. Das ist es, was wir gewinnen: Nicht nur weniger Klimaschädigung, weniger Ressourcenverbrauch und weniger Tote, sondern mehr Lebensqualität. Diese wunderbare Welt ohne Auto malt Scharffenberg begeistert aus, sei es in den real existierenden Cinque Terre oder in der autofreien Stadt der Zukunft.

Getrübt wird die Lektüre durch den manchmal arrogant  wirkenden Stil des Autors, wenn er beispielsweise schreibt „ich habe Recht – völlig unabhängig davon, wie ich mich persönlich verhalte“. Befremdlich sind auch die häufigen Formulierungen wie „wir sind“, „wir denken“, „wir finden“ – wer soll „wir“ sein? Zwischenrufe wie „Pax, meine Herrschaften!“ oder „Fasset Mut und habt Vertrauen!“ sorgen auch beim geneigten Leser eher für Augenrollen als Kopfnicken. Sprunghaft wirkt es auch, wenn Scharffenberg den Kritikern der Autoindustrie „stilistisch grenzwertige Verbalattacken“ vorwirft, und ein paar Seiten weiter dem Auto die „Zersetzung der Demokratie“. An manchen Stellen hat wohl auch der Lektor nicht so genau hingeschaut, wenn da zum Beispiel steht „to big to fail“ und „to big to jail“.

Trotz solcher Detail- und Stilkritik: Scharffenberg legt mit „no car“ eine bemerkenswerte, konsequent zu Ende gedachte Streitschrift vor. Seine fundamentale These, warum es das Beste ist, das Auto sofort und komplett abzuschaffen, überzeugt.

 

Salomon Scharffenberg: No Car - Eine Streitschrift für die Mobilität der Zukunft, oekom Verlag, München, 232 Seiten, 19 Euro, ISBN 978-3-96238-170-7

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