Bürgerrechtler im Interview (Teil II)

Prof. Cornel West: "Die USA ist keine Demokratie, sondern ein Imperium"

15.03.2019 - Tahir Chaudhry

Er gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen der USA. Er ist Philosophieprofessor an der Harvard-Universität und Vertreter des „Prophetischen Pragmatismus“. Dabei haust der streitbare Denker nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern lebt schon immer den Aktivismus in all seinen Formen: etwa als Schauspieler im Blockbuster „Matrix“, als Musiker auf Alben mit Prince und Talib Kweli, als Gesprächspartner in Late-Night-Talkshows oder als Demonstrant auf politischen Kundgebungen. Im zweiten Teil des Interviews spricht Cornel West über die bevorstehende imperiale Kernschmelze in den USA, den ersten schwarzen Präsident als große Enttäuschung, darüber, warum Trump für ihn ein Neofaschist ist, aber er ihn trotzdem „Bruder“ nennt und über Muslime als die neuen "Nigger" der Welt.

MILIEU: Wir leben in der neoliberalen Ära, die auf den Zusammenbruch großer Ideologien als Konsequenz auf die beiden Weltkriege folgte.

West: Ich muss korrigieren. Es ist derzeit eine Transformation in Gange. Sie führt uns in die neofaschistische Ära, die sich auf dem Rücken von ethnischen und religiösen sowie anderer Minderheiten aufrichtet. Zwischen 1945 und 2015 erlebten wir die goldene Ära des Neoliberalismus, eines globalen Finanzkapitalismus, der Wallstreet und einer Wirtschaftselite, die die Zügel unseres Imperiums in der Hand hielt. Diese wiederum nutzen ihr Vermögen, um Politiker zu beeinflussen und zu kontrollieren. Ein Großteil der Politiker auf den höchsten Ebenen des amerikanischen Imperiums pflegen eine enge Beziehungen zu den Ikonen der Finanzelite – einer der wenigen Ausnahmen bildet Bernie Sanders. Doch dieser miserable Zustand unseres Imperiums befindet sich in einem großen Wandel.

MILIEU: Ist das die „imperiale Kernschmelze“ der USA von der Sie häufig sprechen?

West: Ja. Die Kernschmelze beginnt, wenn die Realität einen einholt und zu jagen beginnt. Es ist die Kombination der Herrschaft des großen Geldes und dem obszönen Niveau an ungerechter Vermögensverteilung, die Herrschaft des großen Militärs, in der 56 Cent jedes US-Dollars an den militärisch-industriellen Komplex gehen. In mehr als 80 Ländern sind US-Truppen stationiert und sie betreiben etwa 1400 Militärbasen in aller Welt. Meine Mitbürger werden außerdem über die außenpolitischen Verfehlungen des Imperiums im Unwissen gelassen. Niemand hat ihnen etwa bisher gesagt, wie viele Menschen im Irak infolge unserer militärischen Intervention getötet wurden. Im Fernsehen hören Sie nicht von dem Tod der 500.000 Zivilisten, die wir auf dem Gewissen haben. 

MILIEU: Hat nicht jeder Bürger in einer Demokratie eine Stimme, die heute wie damals gegen Ungerechtigkeiten erhoben werden kann?

West: Die USA ist keine Demokratie, sondern ein Imperium. Darüber sind sich die wenigsten meiner Mitbürger bewusst. Dabei haben wir für die Idee der Demokratie gekämpft. Sie umfasst eine Beschränkung von willkürlicher Machtausübung durch die Elite, die in der moralischen Idee wurzelt, dass der einfache Bürger über eine Würde besitzt und eine Stimme, die, wenn sie ihm zu erheben erlaubt wird, jenen dazu befähigt, sein Schicksal selbst zu formen. Diese Idee wird allerdings tagtäglich mit Füßen getreten. Deshalb leben wir in beängstigenden Zeiten.

MILIEU: Was macht Ihnen dabei konkret Angst?

West: Natürlich gibt eine demokratische Praxis, aber sie ist sehr schwach ausgeprägt. Die US-Amerikaner sind eher zu Konsumenten geworden, statt ihre Rolle als Bürger wahrzunehmen. Ihre Stimmen werden nicht gehört, weil eine Atmosphäre geschaffen wurde, in der das große Geld darüber entscheidet, wer Einflussmöglichkeiten und politische Entscheidungsfähigkeit besitzt. 

Wenn wir wählen gehen, stehen wir vor einer Auswahl an Kandidaten, die im Vorfeld durch die fünf größten Wahlkampfspender ausgesucht worden sind. Das lässt Menschen sich hilflos und ohnmächtig fühlen. Dann laufen Sie in die Arme von Politikern, die als „starke Männer“ posieren und behaupten, „da oben“ aufräumen zu wollen. 

MILIEU: Das geht nach hinten los.

West: Richtig. Wenn diese an die Macht kommen, breiten sich Lügen, Ungerechtigkeiten und Verbrechen weiter aus. Am Ende werden sie zu Gejagten ihrer eigenen Vergehen. Eine Regeneration der Schäden und Wiederbelebung der Gesellschaft und Kultur ist nach dem Eintreten dieser Kernschmelze nicht mehr möglich.

Wenn Sie „Moby Dick“ von Herman Melville oder „Der Eismann kommt“ von Eugene O’Neill lesen, dann finden Sie darin ein zombiartiges Leben in einem Land vor, das von Illusionen, Wahnvorstellungen und verschiedenen Traumzuständen durchdrungen ist, wo Wahrheit und Gerechtigkeit niemanden mehr kümmern. Sie stehen vor einem Kollaps, aber wissen es nicht.

MILIEU: Dem Chaospräsidenten Trump ging ein brillanter und charismatischer schwarzer Präsident namens Barack Obama voraus. Warum gelang es ihm nicht trotz seiner noblen Ziele eine Veränderung herbeizuführen?

West: Obama besaß zu wenig Mut, um gegen die Herrschaft der Wallstreet vorzugehen. Er brachte sogar Vertreter der Wall-Street in die Regierung hinein. Leute wie Larry Summers oder Timothy Geithner. Als er dann auch noch Rob Brenner verpflichtete, der zum Counter-Terrorist-Team von Bush zählte – mit viel Blut an den Händen und einem Befürworter von Foltermethoden, wurde klar, dass sein „Change“ eine Illusion war. 

2009 traf sich Obama mit den Vorständen der mächtigsten Finanzinstitutionen der Welt und sagte zu ihnen wortwörtlich: „Meine Regierung ist das Einzige, was zwischen Ihnen und den Mistgabeln steht“. Er gab ihnen gleichzeitig die Garantie, sie vor den Angriffen zu schützen. Wir wissen, dass kein einziges Vorstandsmitglied im Laufe seiner achtjährigen Präsidentschaft hinter Gittern kam – trotz all der kriminellen Machenschaften etwa im Bereich des Insiderhandels und der Marktmanipulation, die sich im Jahre 2008 und 2009 ereigneten. Obama besaß einfach nicht den Mut und das Rückgrat, weil er eine Romanze mit diesen obskuren Figuren aus der Finanzelite eingegangen war.

MILIEU: Zu den großen Versprechen Obamas gehörte auch die Beendigung von Kriegen im Nahen Osten.

West: Auch dieses Versprechen blieb leer. Der Friedensnobelpreisträger Barack Obama war entgegen aller Hoffnungen ein Kriegsverbrecher. In seiner Amtszeit ließ er 26.172 Bomben abwerfen, denen unzählige unschuldige Menschen zu Opfer fielen. Er führte in fünf Ländern gleichzeitig Krieg. Obama hatte zwar den Drohnenkrieg von Bush übernommen, weitete ihn aber im Laufe seiner Regierungszeit erheblich aus. Davon hören Sie kein Wort im öffentlichen Diskurs unseres Landes. 

Wenn wir heute über Fox News als verlängerten Arm der Trump-Regierung sprechen, dann müssen wir auch über MSNBC als verlängerten Arm der Obama-Regierung sprechen. Dort haben Sie kein einziges kritisches Wort über die politischen Verfehlungen von Obama zu hören bekommen. Das war die Selbstgerechtigkeit der Neoliberalen, die nun von der der Neofaschisten abgelöst wurde. Unter solchen Umständen fällt selbst die Wahrheit der Täuschung zum Opfer.

MILIEU: Was halten Sie von dem Standpunkt, dass Obama zwar gute Absichten hatte, den Willen und auch den Mut zur Veränderung besaß, aber nicht genügend Macht hatte?

West: Dafür gibt es keinen Beweis. Vielleicht war Obama tief im Innern ein guter Mensch, aber er war kein Kämpfer. Er weigerte sich durchgehend, die großen Probleme des amerikanischen Imperiums anzupacken.

Sein einziger legislativer Erfolg war Obama-Care, eine Gesundheitsreform, die eigentlich Romney-Care aus Massachusetts war. Es war eine republikanische Idee, die der vorherrschenden Marktlogik folgte. Die Krankenversicherung sollte weiterhin ein Privileg bleiben. Es war sicherlich ein wenig besser als das, was vorherrschend war und die public option war die einzige Möglichkeit, um Druck auf die private Versicherungswirtschaft aufzubauen. Aber sobald Obama-Care in Kraft trat, machte Obama nicht nur einen Rückzieher, er unterdrückte auch kritische Stimmen in den eigenen Reihen und machte unvorteilhafte Deals mit Pharma-Konzernen. Am Ende landeten wir beim „Affordable Care Act“, der der Übermacht der Arzneimittel- und Versicherungsindustrie zugutekam. Wir haben dadurch immer noch mehr als 20 Millionen Bürger, die über keine Krankenversicherung verfügen. 

MILIEU: Welche Bedeutung hat die Tatsache für Sie, dass Obama der erste schwarze Präsident in der Geschichte der USA war?

West: Seine Präsenz hatte einen rein symbolischen Wert. Sie hat bewiesen, dass nicht allein die Tatsache, der erste schwarze Präsident zu sein, ausreicht, um progressive Politik zu machen. Die weiße Vorherrschaft blieb immer im Zentrum des Amerikanischen Experiments. Es kann doch keine Black-Lives-Bewegung unter einem schwarzen Präsidenten geben, außer dieser schwarze Präsident macht keine Politik zur Verbesserung der Zustände der schwarzen Bevölkerung. 

Wir waren weiterhin ein eskalierendes Masseneinkerkerungs-Regime unter Obama – mit überdurchschnittlich vielen armen Schwarzen und Latinos in den Gefängnissen. Da reicht nicht ein symbolischer Auftritt mit sechs nicht-gewalttätigen Gefangenen, ein Jahr vor dem Ende der Präsidentschaft. Obama hätte das von Beginn an priorisieren sollen. Das ist ein neuer „Jim Crow“. Das ist ja so als würde ein schwarzer Präsident in den 1940ern den „Jim Crow“ nicht ansprechen. Was bringt solch ein schwarzer Präsident? Natürlich wollten wir, dass Obama der Präsident aller Amerikaner ist und nicht nur der Schwarzen. Aber er hätte doch nicht der Präsident der Wallstreet, des militärisch-industriellen Komplexes oder der neoliberalen Zentristen sein müssen. 

MILIEU: Gibt es für Sie keinen Unterschied zwischen Trump und Obama?

West: Klar. Während Obama das glänzende, schwarze, lächelnde Gesicht des amerikanischen Imperiums war, ist Trump das unwissende, weiße, grausame Gesicht des amerikanischen Imperiums. Es bleibt also alles innerhalb der imperialistischen Zone. Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass es einen Donald Trump ohne Barack Obama nicht gäbe. Es gäbe kein neofaschistisches Aufbegehren ohne eine neoliberale Politik. Obama hat zwar nicht Trump geschaffen, aber es waren seine Wall-Street freundliche Politik, die Trump zum Sieg verhalfen. Obamas Zurückhaltung in der Rassenfrage erwies sich zudem nicht als hilfreich für den Widerstand gegen die weiße Vorherrschaft.

MILIEU: In diesem Jahr wäre Martin Luther King Jr. 90 Jahre alt geworden, wenn er noch am Leben wäre. Was glauben Sie, würde er heute über einen Trump in der Regierung sagen?

West: Er würde sagen, dass da ein Gangster außer Rand und Band ist. Trump ist ein moralisch defizitärer Mensch, der in jeglicher Hinsicht ein Feigling ist, weil er sich nicht gegen all jene Faktoren stellt, die das Leben seiner Bürger und das Fortbestehen der Demokratie gefährden. Er stellt sich zwar gegen rückgratlose neoliberale Demokraten, aber nicht gegen die eigentlichen Probleme wie die Übermacht der Wallstreet und den ausufernden militärisch-industriellen Komplex. 

Während Malcolm X es sicher radikaler formulieren würde, wären Kings Worte: „Der Präsident muss darin unterrichtet werden, dass Feigheit nicht die einzige Option für ihn ist“. Als Christ würde er außerdem sagen, dass Bruder Trump kein Teufel sei, sondern ein Mensch, der sich entgegen des ihm innewohnenden Potenzials zur Verbesserung dazu entscheide, verbrecherisch zu handeln.

MILIEU: Sie sind ein scharfer Kritiker von Trump, aber nennen ihn „Bruder Trump“. Wie passt das zusammen?

West: Bruder Trump ist ein Gangster, Betrüger, Feigling und ein Neofaschist. Er wurde wie jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen. Gleich welche Taten Menschen vollbringen, sie spiegeln niemals ihr gesamtes Wesen wieder. Ich bin davon überzeugt, dass es immer Hoffnung auf Veränderung gibt. Wenn ich als gläubiger Mensch auf Gangster, Diebe, Hochstapler und Hetzer schaue, dann darf ich zwar die von ihnen begangenen Sünden hassen, aber ich muss die Sünder lieben.

Ich war bei den Protesten von Charlottesville dabei und stand meinen Neonazi-Brüdern gegenüber. Ich nenne sie Brüder, weil ich weiß, dass dieser Hass, der in diesen Menschen steckt, unter Umständen auch hätte in mir stecken können. Es reicht nicht, mit dem Finger auf Neonazis zu zeigen. Ich muss den Hass, der auch in mir steckt und aufkeimen kann, bekämpfen. Der Neonazi gehört keiner anderen Spezies an. Er ist ein Mensch wie ich, der sich nur dafür entscheidet, diesen Hass stärker werden zu lassen und auf andere zu richten. Jeder Neonazi kann zu einem Ex-Neonazi und zu einem anständigen Menschen werden. 

MILIEU: Der Rassismus ist ja nicht ein spezifisch amerikanisches Problem. Auch in Deutschland erlebten wir mit der Entstehung von Pegida, das Erstarken der rechten Kräfte. Es folgt die Gründung der Alternative für Deutschland, die mittlerweile im deutschen Parlament vertreten ist. Was sollten die Deutschen tun, damit sich die neofaschistische Gesinnung nicht weiterverbreitet?

West: Sie sollten ein Beispiel sein. Jeder muss sein Ego überwinden und bereit sein, sich selbst für einen höheren Zweck zu opfern. Wenn diese Neofaschisten ihren Hass etwa auf Muslime richten, dann sollten die Deutschen sagen: „Wir sind Muslime! Wir lassen das nicht zu!“. Wenn Frauen angegriffen werden, dann sollten die Deutschen sagen: „Wir sind Frauen!“. Wenn sich ihre Politik gegen die Arbeiterklasse richtet, dann sollten die Deutschen sagen: „Wir sind Arbeiter!“. Ganz egal, welche Gruppe unter Beschuss steht, sollte es die Aufgabe der sozialen Bewegungen, politische Parteien, Medienhäuser und staatlichen Institutionen mit einer einheitlichen Stimme gegen die Hetzer vorzugehen. 

MILIEU: Als praktizierender Muslim fragt man sich schon in diesen Zeiten, was so speziell am Islam ist, dass er als Feindbild herhalten muss und die Grundlage der politischen Kampagnen der rechten Kräfte bildet. Was glauben Sie woran das liegt?

West: Als der Kalte Krieg beendet war und die Kommunisten als großer Feind wegfielen, folgte ein Heißer Kulturkrieg, in dem Muslime die Kommunisten als Zielscheibe ersetzten. Ironischerweise waren es die USA, die die Muslime im Kampf gegen die Kommunisten in Afghanistan unterstützten. Die Mudschahidin wurden darin unterstützt ihre Religion zum Zwecke der Zurückdrängung der Sowjetunion zu politisieren. Die USA waren damals wie heute bereit, alle Kräfte – gleich welcher Ideologie diese angehörten – in jeglichen Teilen der Welt zu fördern, um dieses Ziel zu erreichen. Darauf folgten zahlreiche Kriege um Ressourcen und geostrategische Interessen in der arabischen Welt. Die Religion dort lebenden Menschen wurde zu einem nützlichen Feindbild. 

Ein Großteil der Christen, Juden sowie Säkularen verhält sich ignorant gegenüber der islamischen Welt, die einen integralen Beitrag zur Entwicklung der westlichen Welt geleistet hat: intellektuell, politisch und ökonomisch. Traurigerweise sehen diese Menschen eine neue Religion als eine Gefahr an. Muslime sind zu den neuen „Niggern“ dieser Welt geworden. Man meint sie hätten einen bestimmten Stil, eine Akustik, eine Farbe und ein Erscheinungsbild. Doch das ist eine Lüge. Denn die Islamische Welt ist sehr heterogen und reicht von Marokko bis Indonesien. Besonders in Europa weisen Muslime, die aus bestimmten Regionen stammen Merkmale auf, die sich zur Stigmatisierung eignen. Worum geht es dem Neofaschismus? Ihm geht es im Kern darum, eher Sündenböcke und Opferlämmer aus den verletzlichsten Teilen der Bevölkerung zu machen, als sich den mächtigen Unterdrückern und Eliten aus Politik und Wirtschaft entgegenzustellen.

MILIEU: Viele Kommentatoren blicken auf das Ende der Merkel-Ära mit großer Besorgnis. Die wachsende Ungleichheit und die Spaltung der Gesellschaft befeuern den Rechtspopulismus und haben die politische Kultur fundamental verändert. Was wird auf Merkel folgen?

West: Angela Merkel war Teil derselben neoliberalen Ordnung, der etwa ein Obama oder Blair angehörten. Diese Ordnung schwindet und schafft Raum für eine Transformation. Da derzeit der Rechtspopulismus stärker ist als der Linkspopulismus, ist es sehr leicht möglich, dass diese Form des Populismus in eine autoritäre Herrschaft der altmodischen Sorte abdriftet. 

Im Falle Deutschlands müssen wir auch über dessen Rolle in der Europäischen Union sprechen und auf welche Weise Deutschland versucht, die Einheit der Union unter der neoliberalen Schirmherrschaft herzustellen. Dies ist nämlich fehlgeschlagen, weil man nicht fähig war, auf die missliche Lage der Arbeiterschaft sowie der geflüchteten Menschen klug zu reagieren. In der gesamten europäischen Familie bilden sich infolgedessen rechtspopulistische Parteien heraus, die die Europäische Union als Symbol für einen leeren Kosmopolitismus, der Menschen entwurzelt und sie von jeglicher Identitätsbildung abhält, ausnutzen. Das Erstarken des Neofaschismus basiert auf einer kosmopolitischen Entwurzelung. Deutschland stand schon immer im Zentrum des europäischen Experiments, aufgrund ihrer ökonomischem Dominanz. Deshalb werden die dortigen Entwicklungen maßgebend für den gesamten Kontinent sein. Ich hoffe, dass die linken und progressiven Kräfte in Deutschland eine multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Koalition gründen, um sich gegen den eskalierenden Rechtspopulismus zur Wehr zu setzen.

MILIEU: Was wünschen Sie sich für das Jahr 2019?

West: Ein spirituelles und progressives Erwachen, das eine Kehrtwende herbeiführt. Sollten wir uns allerdings gefangen in einem Eisenkäfig wiederfinden, dann stehen wir vor dem Untergang unserer Erde. Dann starren wir ohnmächtig auf eine ökologische Katastrophe oder militärische Eskalation auf globaler Ebene. Möglicherweise haben wir als menschliche Zivilisation gar nicht die Fähigkeit, eigenständig die Tiefe unseres Selbst zu begreifen. Unsere Spezies ist hässlich und wunderschön zugleich. Vielleicht liegt in ihrem Schicksal eine vorübergehende Existenz, die durch eine andere abgelöst wird.

MILIEU: Sind Sie also eher pessimistisch?

West: Ich glaube nicht an den Pessimismus, weil er auf einer feigen und kindischen Haltung basiert. Ich bin ein Gefangener der Hoffnung. Hoffnung ist keine Laune, sondern eine Tugend. Niemand außer wir Menschen selbst sind dazu berufen, diese Welt zu retten. Ich sehe mich dabei nicht als Beobachter, sondern als Teilnehmer. Es geht darum, diese Welt zu verbessern: Schritt für Schritt, Tag für Tag, Tat für Tat, Lächeln für Lächeln, Umarmung für Umarmung, Bewegung für Bewegung. 

Es ist ein großer Ausdruck für Dankbarkeit dem Leben gegenüber, wenn man für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpft. Dieser Kampf gegen sich selbst und gegen das Übel der Welt erzeugen wahre Freude. Im Gegensatz zur freudlosen Jagd nach oberflächlicher Befriedigung. Diese Wahrheit hatten Jesus, Sokrates, Mohammed, Buddha, Konfuzius und auch einige aus der säkularen Tradition der Freiheitskämpfer erkannt.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Hier geht es zum ersten Teil des Interviews: "Wenn ich jetzt sterben sollte, wäre ich fertig für meinen Sarg"

 

Foto: © Gage Skidmore

 

Eine gekürzte Version des Interviews erschien in der Wochenzeitung der Freitag (Ausgabe 08/2019)

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen