Prof. Cornel West: "Wenn ich jetzt sterben sollte, wäre ich fertig für meinen Sarg"
01.03.2019 -Er gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen der USA. Er ist Philosophieprofessor an der Harvard-Universität und Vertreter des „Prophetischen Pragmatismus“. Seine Bücher „Race Matters“ und „Democracy Matters“ gelten als Manifeste für den Kampf der afro-amerikanischen und linken Bürgerrechtsbewegung der USA im 21. Jahrhundert. Dabei haust der streitbare Denker nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern lebt schon immer den Aktivismus in all seinen Formen: etwa als Schauspieler im Blockbuster „Matrix“, als Musiker auf Alben mit Prince und Talib Kweli, als Gesprächspartner in Late-Night-Talkshows oder als Demonstrant auf politischen Kundgebungen. Im ersten Teil des Interviews spricht Cornel West über seine ständige Bereitschaft zu sterben, den verlorengegangenen Wert der Wahrheit und über das Erwecken eines prophetischen Feuers.
DAS MILIEU: Fürchten Sie den Tod?
Cornel West: Nicht wirklich.
Warum?
West: Ich wurde mit einem wundervollen Leben gesegnet, einem langen Leben voller Freude. Deshalb will ich nicht gierig nach mehr sein. Ich wurde zu dem Festmahl des Lebens eingeladen und durfte von der großartigen Liebe meiner Eltern und Freunde kosten. Wenn es Zeit ist zu gehen, dann ist meine Zeit zu gehen. Dann wird jemand anderes mein Erbe weitertragen. Ich habe mich niemals vor dem Tod gefürchtet.
MILIEU: Sie tragen immer denselben schwarzen Anzug, das weiße Hemd und die schwarze Krawatte. Warum?
West: Die einfache Erklärung ist, dass ich mir nicht mehr so viel darüber Gedanken machen muss, was ich anziehen soll (lacht). Aber im Ernst: Es ist die Uniform eines Soldaten auf dem „Love Train“, der ständig für den Kampf bereit ist. Wenn ich jetzt sterben sollte, wäre ich fertig für meinen Sarg. Dieser Stil erinnert mich auch an meine Berufung, an Jazz-Musiker und schwarze Prediger, die ein gewisses Niveau an Würde, Mut, Stärke und Standhaftigkeit besaßen – in einer Welt der weißen Vorherrschaft und anti-schwarzen Zivilisation.
MILIEU: Es gab in der Geschichte der USA Bürgerrechtler wie Malcom X oder Martin King Jr., in deren Tradition Sie sich sehen, die für ihre Vision mit ihrem Leben bezahlen mussten. Zeit ihres Lebens fürchteten sie sich nicht vor dem Tod. Woher stammt Ihre Furchtlosigkeit?
West: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass es in meinem Fall sehr viel mit meiner christlichen Erziehung zu tun hat. Und gewiss kann man nicht das Leben lernen, ohne das Sterben gelernt zu haben. Man lernt zu sterben, indem man selbstkritisch ist und in einer kühlen und grausamen Welt Zeugnis gegen sein Ego und für das Gute ablegt. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wenn man ein Verfechter der Wahrheit und Gerechtigkeit ist, man missverstanden und missdeutet wird, gar Opfer von Rufmord oder tatsächlichem Mord wird.
Das Christentum überliefert die Geschichte eines fabelhaften palästinensischen Juden namens Jesus, der durch das römische Reich unterdrückt und als unschuldiger Mensch ans Kreuz genagelt wurde, weil man ihm vorwarf, er würde sich selbst als „König der Juden“ bezeichnen. Mit solchen Erzählungen wurde ich gefüttert. Als Martin Luther King Jr. erschossen wurde, schwor ich mir, unter allen Umständen und ungeachtet der Konsequenzen, sein Vermächtnis am Leben zu erhalten. Das versuche ich nun seit mehr als 50 Jahren.
MILIEU: Es gibt wenige linke Intellektuelle, deren Überzeugung auf einem christlichen Fundament steht. Warum glauben Sie?
West: Ich sehe mich als revolutionären Christen im Tolstoi-Modus, der Tag für Tag mit seinem Glauben ringt. Ich glaube an Gott, weil ich die Welt durch eine bestimmte Linse betrachte. Aber es wäre für mich nahezu unmöglich, ohne Gott in dieser Welt fortzubestehen, zu leben, lachen und zu lieben. Atheisten könnten mir vorwerfen einer Illusion zu folgen. Aber es geht darum, dass für mich persönlich diese Weltsicht und die Beziehung zu Gott einen Sinn ergibt. Meine Welt wird geformt durch meine Erfahrungen, die aus der Essenz der biblischen Erzählung geprägt sind. Für mich ist die zentrale Botschaft dieser Erzählung, die Liebe immer in Verbindung mit der Gerechtigkeit zu denken. Gerechtigkeit ist, wie Liebe in der Öffentlichkeit aussieht.
MILIEU: Sie sprechen in diesem Kontext von dem Prophetic Fire.
West: Wir müssen dieses Feuer in uns erwecken. Propheten zeichnen sich durch ihre radikale Verpflichtung zur Wahrheit aus, durch eine Gesellschaftskritik, die mit einer hoffnungsvollen Vision einhergeht und durch eine besondere Empfindsamkeit für das Leid der Unterdrückten.
MILIEU: Sie nennen sich selbst einen intellektuellen Krieger und spirituellen Soldaten. Ein Soldat oder Krieger ist immer bereit für etwas, das größer ist als er selbst, zu kämpfen und zu sterben. Was ist es in Ihrem Fall?
West: In meinem Fall ist es sicherlich das Leben und Sterben für den Kampf gegen das Leid und die Unterdrückung. Ob es nun die Palästinenser in Gaza, die Juden in Frankreich, die Indianer in Nordamerika, die Dalits in Indien betrifft, Menschen in Tibet und in Kaschmir, die unter der Besatzung leiden oder schwarze Arbeiter, die von schwarzen Diktatoren auf dem afrikanischen Kontinent unterdrückt werden. Es gibt viele Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit. Man ist bereit für die Wahrheit zu kämpfen, weil es um wertvolle und unbezahlbare Menschenleben geht, die Leid ausgesetzt sind.
Wahrheit ist, dem Leid eine Stimme zu geben. Ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Ich sehe es als meine Aufgabe – über die Akademie und das Lehren hinaus – an, auf das Leid derer hinzuweisen, die verletzlich, vernachlässigt und unsichtbar sind: die Gefangenen, Witwen, Waisen, Arbeiter oder ethnischen und religiösen Minderheiten. Außerdem sehe ich mich in der Pflicht, daran zu arbeiten, wie ihr Leben verbessert werden kann, auch wenn ich notfalls mein eigenes Leben für diese Vision riskieren muss.
MILIEU: Sie sagen: „Es gibt einen Preis, der für das Aussprechen der Wahrheit zu zahlen ist. Es gibt einen noch größeren Preis für das Leben einer Lüge zu zahlen.“ Welchen Preis mussten Sie im Laufe Ihrer Karriere für die Wahrheit zahlen?
West: Ich war in großen Kontroversen mit US-Präsidenten, Wirtschaftseliten, faschistischen Kräften, aber auch schwarzen Gemeinden verwickelt, weil ich nicht immer die Standpunkte einnahm, die zu der Zeit populär waren, sondern die meinen Anspruch an Ehrlichkeit gerecht wurden. Tagtäglich erhalte ich Morddrohungen. Ich beharre auf dem, was meinem Verständnis von Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, auch wenn dadurch mein Leben in akute Gefahr gerät.
MILIEU: Sie sagen, dass die größte Gefahr für die Demokratie darin besteht, dass es in der Politik, den Medien und der Kultur einen Mangel an Menschen gibt, die bereit sind unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Glauben Sie nicht an die selbstkorrigierende Macht der Demokratie?
West: Auf keinen Fall. Wir haben so viel Korruption an der Spitze, die Hand in Hand mit einem Konformismus feiger Menschen geht, die sich an eine kulturelle Etikette anpassen, die große Übel duldet. Das findet man in politischen Parteien, Wirtschaftseliten, Universitäten oder religiösen Institutionen. Man erlebt dort, wie diejenigen, die Macht besitzen, durch diese Macht korrumpiert werden. Menschen, die in diesen Kreisen sozialisiert werden, sorgen sich ausschließlich darum, weiter in dieser korrupten Kultur bestehen zu können. Sie versuchen Fehler zu vertuschen und Lügen zu verbergen. Dadurch geraten sie in eine Beziehung zwischen Verlogenheit und Kriminalität. Von hier ist der Weg zum Faschismus, zur autoritären Herrschaft nicht weit. Diese Entwicklung sehen wir derzeit in aller Welt.
MILIEU: Liegt dieser Entwicklung womöglich zugrunde, dass viele Menschen nicht mehr an absolute Wahrheiten glauben, sondern an unterschiedliche Blickwinkel auf die Realität. Ist der Relativismus das Grundübel?
West: Nein. Ganz und gar nicht. Wir alle wissen, dass es bestimmte Wahrheiten auf der Welt gibt, die nicht geleugnet werden können. Sie haben zu Beginn über den Tod gesprochen. Dass wir alle irgendwann sterben werden, stellt weder eine Illusion noch eine bloße Annahme dar. Es gibt in der Tat viele solcher Wahrheiten, die hartnäckig sind und uns dazu zwingen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Niemand hat das Monopol auf Wahrheit inne, denn wir alle sind sterblich und fehlbar. Die menschliche Wahrnehmung hat blinde Flecken, doch wenn wir über Faschismus, Korruption oder Feigheit sprechen, dann geht es um die Herrschaft derjenigen, die die Waffe tragen. Da müssen wir einschreiten und sagen: Nein, es gilt nicht das Recht des Stärkeren und die Macht diktiert nicht die Moral. Angesichts dieser Unterdrückung gibt es sehr wohl universelle Wahrheiten.
MILIEU: Zum Beispiel?
West: Wenn etwa 551 Babys in Palästina getötet werden oder 551 Babys in Israel getötet werden, dann muss es einen moralischen Aufschrei geben. Wenn US-amerikanische Drohnen unschuldige Menschen in Pakistan, Jemen oder Afghanistan töten, dann muss einen moralischen Aufschrei geben. Oder wenn Russland unschuldige Menschen in der Ukraine tötet, dann muss es einen moralischen Aufschrei geben. Wir brauchen eine moralische Konsistenz, die auf den Willen basiert für eine Wahrheit leben und sterben zu wollen. Leider gibt es aber zu viele Menschen, die bereit sind für eine Lüge zu leben und zu sterben. Ob es der Ku-Klux-Klan, der Islamische Staat oder andere verbrecherische Organisationen sind, sie alle hängen dem Glauben an, dass die getöteten Babys der Anderen weniger wert seien, als die aus der eigenen Gruppe.
MILIEU: Für diese verbreitete Gesinnung machen Sie den „spirituellen Blackout“ verantwortlich. Was meinen Sie damit?
West: Der Mangel an Spiritualität ist die relative Verfinsterung der Integrität, Ehrlichkeit, des Anstandes und der Güte. Damit beginnt die Gangsterisierung des Individuums, der Gesellschaft und der Welt. Wir sehen es an der Kaltherzigkeit, Engstirnigkeit, dem Hass, Neid und Groll, der derzeit in allen Gesellschaften den Schwächsten entgegengebracht werden. Das macht traurig. Deshalb müssen wir uns noch aufrechter und lauter vor den leidenden Flüchtlingen, den Frauen, den Muslimen, den Armen, den Arbeitern oder den Menschen anderer Hautfarbe stellen.
MILIEU: Es gibt viele Menschen, denen das Wissen um die Zustände auf der Welt und die denen zugrundeliegenden Zusammenhänge fehlen. Sie betonen oftmals, dass die überwiegende Masse Gefangene eines Systems ist, das voller Ablenkungen durch Unterhaltung, Konsum und Selbstbereicherung ist. Wie können wir diesen „Lärm abstellen“ und uns aus den Fängen befreien?
West: Das Wichtigste ist das Erinnerungsvermögen. Dieses drängt das Ego aus der Gegenwart hinaus und der Narzissmus des gegenwärtigen Selbst wird überwunden, um sich mit den Erinnerungen unserer Vorfahren und herausragenden Menschen vergangener Zeiten zu verbinden. Die Erinnerungen von Martin Luther King Jr., Rabbi Abraham Joshua Heschel, Edward Said, Dorothee Day oder Friedrich Schiller, dem großen Poeten der Freiheit. Das waren Menschen, die eine Vision vorlegten, die über ihr Ego hinausging.
MILIEU: Ist es heutzutage schwieriger geworden, solche Visionen zu entwickeln?
West: Zweifellos. Die Vergnügungsmaschine der kapitalistischen Kultur versucht jedes Gefühl für unsere Geschichte zu eliminieren, damit die Gegenwart zu einer dauerhaften Wiederholung des hedonistischen Moments verkommt. Das Gefangensein im Immergleichen fördert nicht nur die Geschichtsvergessenheit, sondern auch die Ablehnung einer alternativen Zukunftsvision. Besonders junge Menschen sind heute im Kreislauf einer sofortigen Triebbefriedigung gefangen. Sie leben in einem Dauerrausch. Es ist nicht nur die Sucht nach Sex und Drogen verbreitet, sondern auch die Sucht nach Status und Erfolg, die Sucht nach einer hohen Sichtbarkeit und Resonanz. In den kapitalistischen Zivilisationen ist gegen die Seelen der Jugendlichen ein Kampf zugange. Sie werden so dermaßen abgestumpft, damit aus ihnen keine Wahrheitssucher und Kämpfer für Gerechtigkeit werden.
Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews: "Die USA ist keine Demokratie, sondern ein Imperium"
Foto: © Gage Skidmore
Eine gekürzte Version des Interviews erschien in der Wochenzeitung der Freitag (Ausgabe 08/2019)