Prof. Hans Brügelmann: "Individualisierung statt Standardisierung"
15.10.2015 -In seinem neuen Buch „Vermessene Schulen – standardisierte Schüler“ klärt Prof. Hans Brügelmann über Mythen der aktuellen Bildungsforschung auf und macht deutlich, wann standardisierte Leistungstest wie Pisa, VerA und Co. trotz eingeschränkter Aussagekraft sinnvoll genutzt werden können.
DAS MILIEU: Was in der Medizin das Thermometer, ist in der Pädagogik der Leistungstest …
Prof. Brügelmann: Wenn jemand Fieber hat, ist das ein Warnzeichen, aber noch keine Diagnose. Es ist Anlass, genauer hinzugucken. Vielleicht gibt es einen ganz harmlosen Grund für die erhöhte Temperatur und sie sinkt gleich wieder. Genauso ist es mit Leistungstests. Sie erlauben auch nur eine punktuelle Messung. Und das Testergebnis erfasst nur die Oberfläche des Wissens oder Könnens. Der Weg zu einer richtigen Antwort kann unterschiedlich sein: auswendig gelernt, analog gedacht, situativ überlegt, aus Anzeichen der Aufgabe erraten …
DAS MILIEU: In einem klassischen Test gibt es nur eine richtige Lösung. Warum kann es dennoch deutlich klüger sein „Kieno“ statt „Kino“ zu schreiben?
Prof. Brügelmann: Weil richtige wie falsche Lösungen auf ganz unterschiedlichen Kompetenzniveaus entstehen können. Das eine Kind kennt vielleicht „Kino“ als Buchstabenfolge vom Schild am Haus gegenüber, kann aber noch gar nicht lesen und schreiben. Ein anderes erschreibt sich das Wort, indem es jedem Laut einen Buchstaben zuordnet. Dieses Kind kann immerhin schon unbekannte Wörter lesbar aufschreiben. Von Besonderheiten unserer Orthographie hat es aber noch keine Ahnung. Wenn ein Kind „Kieno“ schreibt, dann ist das zwar nach dem Duden falsch, aber es hat schon eine Regelhaftigkeit der deutschen Rechtschreibung erkannt: In den meisten Fällen wird das lange „i“ als „ie“ verschriftlicht. Im Vergleich zu den beiden anderen Kindern signalisiert die Fehlschreibung also einen kognitiven Fortschritt. Eltern kennen das vom vorschulischen Spracherwerb, z. B. eine falsche Mehrzahlbildung wie „die Mutters“ oder eine Vergangenheitsform wie „ich gingte“.
DAS MILIEU: Gezielte Vorbereitungen auf Leistungskontrollen, etwa in Form von Repetitorien, sind eine weitverbreitete Methode, um kurzfristig gute Lernergebnisse und damit gute Noten zu erzielen. Welche weiteren Faktoren beeinflussen die Aussagekraft von Testergebnissen?
Prof. Brügelmann: Beispielsweise wird um der angestrebten Vergleichbarkeit willen die Zeit vorgegeben, in der Aufgaben zu lösen sind. Viele Kinder, besonders häufig Mädchen, erbringen aber unter Zeitdruck schlechtere Leistungen. Auch die schriftliche Vorgabe der Aufgaben und Anweisungen soll für vergleichbare Testbedingungen sorgen. Das benachteiligt in der Mathematik sprachlich schwächere Schüler oder Kinder mit anderer Muttersprache. Bei naturwissenschaftlichen Aufgaben kann nur auf dem Papier „experimentiert“ werden, so dass praktisch-technische Kompetenzen nicht erfassbar sind.
DAS MILIEU: Wieso sind Leistungs- und Vergleichstests, wie Pisa, VerA und Co., dennoch von Nutzen?
Prof. Brügelmann: Lernbeobachtung und Leistungsbeurteilung sind grundsätzlich schwierig. Das wissen wir aus der langen Diskussion über die Fehleranfälligkeit von Noten. Wir können in die Köpfe der Lerner nicht hineinschauen. Insofern ist es wichtig, möglichst unterschiedliche „Brillen“ zu kombinieren, z. B. die kontinuierliche Beobachtung durch die Lehrperson mit standardisierten Tests. Außerdem sind für die Bildungspolitik Trendaussagen über die Leistungsentwicklung der Schüler hilfreich, auch wenn man diese mit entsprechender Vorsicht interpretieren muss.
DAS MILIEU: Bringen großräumig angelegte Vergleichsstudien und ihre Veröffentlichung auch „Gefahren“ mit sich?
Prof. Brügelmann: Die größte Gefahr ist, dass man die genannten Einschränkungen übersieht und den Geltungsanspruch von Testergebnissen überschätzt. Vor allem für die Individualdiagnose muss man wissen, dass der erhobene Punktwert von Termin zu Termin, von Test zu Test erheblich schwanken kann. Ergebnisse lassen sich deshalb nur unter Vorbehalt gegenüberstellen. Bei internationalen Vergleichen oder historischen Längsschnitten müssen zudem kulturelle Unterschiede bedacht werden. So können Übersetzungen in verschiedenen Sprachen unterschiedlich lang sein, was unterschiedliche Lesezeiten zur Folge hat – durchaus bedeutsam bei vorgegebenen Zeiten für die Lösung der Aufgaben. Nicht minder problematisch ist, was mit den Ergebnissen geschieht. Werden sie benutzt, um die Beurteilung oder gar Bezahlung von Lehrern zu erhöhen oder zu senken, steigert das den Anreiz zum „teaching to the test“. Im Unterricht werden dann Routinen oder sogar konkrete Aufgaben gepaukt, es geht um fremdbestimmtes „richtig“ oder „falsch“, nicht mehr um selbstständiges Denken.
DAS MILIEU: Welche Bedeutung sollten wir also solchen Tests beimessen?
Prof. Brügelmann: Schwache oder unerwartete Ergebnisse sollten als Warnsignale gedeutet werden: „Hier muss man noch einmal genauer hinschauen!“ Auch um dann sinnvoll fördern zu können. Aber grundsätzlich kann man die Ergebnisse aus solchen Studien in der pädagogischen Praxis nur als Hypothesen nutzen. Sie sind keine Urteile ex cathedra.
DAS MILIEU: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, erklärte Lenin. „Kontrolle verhindert Schlechtes, Vertrauen fördert Gutes“, sagen Sie. Was ist damit gemeint?
Prof. Brügelmann: Juristen wissen, dass man durch Gesetze und Sanktionen die Wahrscheinlichkeit von Fehlverhalten in Grenzen halten kann. Positive Beziehungen kann man dadurch nicht erzwingen. Pädagogik aber lebt von Beziehungen. Die Qualität von Schule lässt sich insofern nicht an Testergebnissen in zwei oder drei Fächern festmachen. Das didaktisch-methodische Handwerkszeug ist wichtig. Aber ob die Schüler Feuer fangen, ob sie sich Neues zutrauen und Leistungszuversicht entwickeln, auch Fehler riskieren, ob sie sich als Person entwickeln, das hängt von einer tragfähigen Beziehung ab. Die kann man mit standardisierten Instrumenten nicht erfassen.
DAS MILIEU: Welche Alternativen gibt es?
Prof. Brügelmann: Peer-Reviews wie sie im Verbund der Reformschulen „Blick über den Zaun“ Anwendung finden. Diese Schulen haben sich auf gemeinsame Standards für ihre Arbeit mit den Heranwachsenden verständigt. Vertreter der Schulen besuchen sich reihum und geben aus ihren sehr unterschiedlichen Perspektiven Rückmeldung, was sie als gelungen erleben und was nicht. Durch die wechselseitigen Besuche baut sich Vertrauen auf – Voraussetzung dafür, dass man seine Schwächen nicht zu verstecken versucht, sondern sich ihnen stellt.
DAS MILIEU: „Die wahre Genialität eines guten Managers ist seine Fähigkeit zu individualisieren. Ein guter Manager ist jemand, der es versteht das persönliche Talent der Person individuell zur Glanzleistung zu bringen.“ Inwiefern lässt sich diese Managementweisheit von Bestsellerautor Markus Buckingham auf Schulen, Lehrer und Schüler übertragen?
Prof. Brügelmann: Kürzlich hat der Hamburger Schulsenator seine Lehrer aufgefordert, sie sollten ihre Scheu vor dem „Korrektur-Rotstift“ aufgeben. Dieser Defizitblick hat unsere Schule über Jahrhunderte bestimmt. Fehler sind aber erste Schritte auf dem Weg zum Können, wie ich vorhin am Beispiel des Spracherwerbs und der Rechtschreibung gezeigt habe. Ich wünsche mir Lehrer, die stattdessen fragen: „Kannst du uns erklären, warum du das so gemacht hast?“ oder „Schau mal, wie Mirko die Aufgabe gelöst hat., Was spricht für seinen Weg und was für deinen?“
Man darf auch nicht vergessen: Jeder von uns hat Stärken und Schwächen. In der Schule geht es nur um einen kleinen Ausschnitt dessen, was für das Leben wichtig ist. Wir sollten auch Kompetenzen wahrnehmen und würdigen, die sich Kinder außerhalb der Schule aneignen, z. B. in Bereichen wie Kochen, Werken, Musik, Sport, Computer …
DAS MILIEU: Um Standardisierung in Schulen entgegenwirken, wird u.a. eine „Offenheit des Unterrichts“ gefordert. Was ist darunter zu verstehen?
Prof. Brügelmann: Den Schülern wird über Freiarbeit, während der sie an verschiedenen Aufgaben arbeiten, mehr Verantwortung für Inhalte und Wege ihres Lernens gewährt. Damit versucht man den großen Unterschieden in den Lernvoraussetzungen besser gerecht zu werden und allen ihren „nächsten Schritt“ und damit ein erfolgreiches Lernen zu ermöglichen. Öffnung des Unterrichts ist aber auch eine Antwort auf die Forderungen der UN-Kinderrechtskonvention, die Heranwachsenden in der Schule als Personen ernst zu nehmen und ihre individuellen Bedürfnisse zu respektieren. Individualisierung statt Standardisierung.
DAS MILIEU: In Japan werden bereits die ersten Lehrer-Roboter eingesetzt. Eine Lehrkraft, die 25 Sprachen spricht, den Spagat vorturnt und Unterrichtsfächer wie „Interkulturelle Kompetenzen“, „Nachhaltigkeit“ oder „Projektarbeit“ unterrichtet. Sieht so der Unterricht der Zukunft aus?
Prof. Brügelmann: Vielleicht in Nischen wie beim Einüben von Routinen, etwa für das Lernen von Vokabeln und das Üben des 1x1, also in Bereichen, in denen auch heute schon Computerprogramme eingesetzt werden. Aber da, wo es um Nachdenken geht, um kreatives Arbeiten, um das Aushandeln von Mehrdeutigkeiten, wohl kaum. Und gewiss nicht dort, wo uns auch in Zukunft die Beziehungsebene wichtig ist …
DAS MILIEU: Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Zur weiteren Lektüre:
Hans Brügelmann: Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA und Co, Beltz 2015. 143 Seiten. 19,95 Euro. 18,99 (Kindle-Edition)