Demokratieforscher im Interview

Prof. Hans Vorländer: "Demokratien sind äußerst labile Ordnungen"

15.05.2017 - Astrid Knauth

Ist die Demokratie durch den zunehmenden Populismus in Europa und Amerika gefährdet? Gibt es eine Zukunft für die Europäische Union? Im Gespräch mit DAS MILIEU legt der Politikwissenschaftler Prof. Hans Vorländer, der seit 1993 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden ist, seine Ansichten dar. Er spricht über das Ideal des guten Bürgers, die Bedeutung von alternativen Programmen in einer Demokratie und einem möglichen Rückgewinn von Vertrauen in die Presse.

DAS MILIEU: Prof. Vorländer, Sie haben Politikwissenschaft und Rechtswissenschaften sowie Philosophie und Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Universität Genf studiert. Seit 1993 sind Sie Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte der Technischen Universität Dresden. Woher kommt Ihr großes Interesse auf diesem Gebiet?

Prof. Hans Vorländer: Zum einen, weil mich Politik und der Zusammenhang zwischen Recht und Politik schon immer interessiert hat – schließlich geht es darum, wie wir frei und selbstbestimmt leben und uns selbst demokratisch regieren können. Zum anderen, weil ich mich immer für die grundlegenden Fragen politischer Ordnung interessiert habe. In der Geschichte und im politischen Denken sind die Erfahrungen gespeichert, die Menschen machten, als sie versuchten, ein gutes und gelingendes Leben zu führen und sie immer wieder an den Verhältnissen, an Macht, Gewalt und Unterdrückung scheiterten.

MILIEU: Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte liegt auf der Demokratie. Können Sie uns Ihre Vorstellung davon in wenigen Worten nahebringen?

Prof. Vorländer: Demokratien sind eine großartige Erfindung – und doch äußerst labile Ordnungen. Sie sind immer gefährdet. Deshalb kommt es darauf an, sie stabil zu halten, ohne ihren Kern, die Selbstbestimmung ihrer Bürger, in Frage zu stellen. Demokratien sind Entscheidungsverfahren und eine politische Lebensform, die auf der Teilhabe und der unmittelbaren Partizipation von Bürgern basieren. Sie sind voraussetzungsvoll, benötigen gute Institutionen und urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger. All das muss klug organisiert werden. Hier zeigt die Geschichte unterschiedliche Modelle, die von der griechischen Polisdemokratie, in der das Volk umfassende Macht besaß, bis zur modernen Verfassungsdemokratie, die mit der amerikanischen und französischen Revolution entstand, reicht. Die entscheidende Frage ist, wie man kollektive Selbstbestimmung mit dem Schutz der Grund- und Menschenrechte vereinbaren kann. Hier helfen Institutionen des Rechts, sie sichern die Freiheit des Einzelnen, die Unabhängigkeit von Justiz und Medien sowie die Handlungsräume der Zivilgesellschaft.

MILIEU: Sehen Sie die Demokratie in der heutigen Zeit in Anbetracht von Zunahme an Hass und Gewalt gefährdet?

Prof. Vorländer: Ich glaube nicht, dass die Demokratie in ihrem Kern gefährdet ist. Was wir aber sehen können, sind drei Dinge: Zum einen stehen Demokratien im Augenblick sehr unter Stress, denn es gibt ganz bestimmte Risse und Spaltungen innerhalb demokratischer Gesellschaften. Darauf reagieren populistische Strömungen, die das zu instrumentalisieren und auszubeuten verstehen. Zum zweiten verändert sich die Demokratie selbst sehr stark, weil wir ganz andere Kommunikationsbedingungen haben. Früher dominierten Vereine, Zeitungen und Fernsehen, die einen gemeinsamen Rahmen der Diskussion bildeten. Heute dagegen hat sich das Kommunikations- und Partizipationsverhalten stark verändert. Und schließlich setzen auch Globalisierungseffekte die Demokratie unter Druck: Es gibt soziale, ökonomische und kulturelle Verwerfungen und damit Bevölkerungsgruppen, die von Ängsten getrieben, ihr Heil bei populistischen Empörungs- und Protestbewegungen suchen.

MILIEU: In Europa zeigt sich eine zunehmende Angst vor der Entwicklung in Amerika. Sehen Sie die dortige Demokratie gefährdet? Warum?

Prof. Vorländer: Ich glaube, dass gerade die Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika ein interessanter Fall ist. Dort gibt es viele Mechanismen und Institutionen, die es ermöglichen, auch den neu gewählten amerikanischen Präsidenten zu domestizieren und ihn in seiner Machtausübung zu beschränken. Ich verweise dabei auf die Justiz, auf andere Institutionen wie den Kongress und darüber hinaus auf die starke Rolle der Medien. Trump kann also nicht durchregieren, er kann auch nicht an der Justiz vorbei agieren, wie er das zunächst glaubte, und er kann auch nicht die Medien ausschalten. Es gibt Widerstände – diese Widerstände kommen aus den Institutionen und sie kommen aus der Zivilgesellschaft. Insofern sehen wir, dass die amerikanische Demokratie zwar enormen Herausforderungen ausgesetzt ist, zugleich wird aber deutlich, dass sie in der Lage ist, sich zu wehren. Es wird sich erweisen müssen, wer stärker ist – ob Trump doch noch zu einem Präsidenten wird, der sich Grenzen auferlegen lassen muss von Medien, Gerichten und der Zivilgesellschaft, oder ob er das alles populistisch überspielen kann. Ich hoffe, dass das Konzept der präsidialen Schmähungen und der Attitüde „Ich bin der größte Präsident aller Zeiten und werde die größten Erfolge aller Zeiten ganz alleine einfahren“ zum Scheitern verurteilt sein wird.

MILIEU: Doch man muss gar nicht so weit schauen. Auch in Europa zeigt sich ein zunehmender Rechtspopulismus. Wie beurteilen Sie die möglichen Auswirkungen der Wahl in Frankreich auf die Demokratie und auf Europa?

Prof. Vorländer: Es wird ganz entscheidend sein, wer in Frankreich gewinnt, denn das Land ist sehr gespalten. Die antieuropäischen Bewegungen sind sehr stark – das gilt sowohl für den Front National auf der einen Seite, wie auch für die Linke, die von Mélenchon vertreten wird. Diese Links- und Rechtsgruppierungen vertreten eine starke Vorstellung nationaler, und zwar politischer, ökonomischer und kultureller Souveränität und setzen sich damit diametral von der EU ab. Das ist gefährlich für Europa, weil es dem Nationalismus breiten Raum gibt und den europäischen Zusammenhalt zerstört. Einen “Frexit” würde die EU nicht überleben. Europa sollte aus Erfahrung wissen, dass Nationalismus das gänzlich falsche Rezept ist, um die Probleme, die wir haben, lösen zu können. Darüber hinaus ist nationalistischer Populismus auch für die französische Gesellschaft äußerst gefährlich, weil er die große republikanisch-freiheitliche Tradition, auf die Frankreich seit der Revolution von 1789 zu Recht stolz ist, dementiert. Er zerreißt das Land und Europa.

MILIEU: Großbritannien hat den Brexit aus der EU beschlossen. Halten Sie das für das langsame Ende eines Verbundes, der schon immer eher wirtschaftlich kooperiert hat statt eine wirkliche politische Einheit zu symbolisieren?

Prof. Vorländer: Es besteht eine große Gefahr, dass Europa in einzelne Staaten oder Staatengruppen auseinanderfällt. Diese Gefahr ist durch den Brexit erhöht worden.

An sich ist die Europäische Union viel unterschiedlicher, vielfältiger als man das im Allgemeinen annimmt: Nicht alle Staaten sind in der Euro-Zone, nicht alle sind Teil des Schengen-Raumes, einige Staaten haben Sonderrechte im Rahmen des Lissabon-Vertrages, nicht alle haben die Grundrechteerklärung unterschrieben – das heißt, wir haben ohnehin schon unterschiedlich dichte Formen der Integration. Durch den Brexit des Vereinigten Königreiches wird jetzt noch einmal sehr deutlich, dass wir ohnehin unterschiedliche Geschwindigkeiten und unterschiedliche Dichten von Integration haben. Wir werden wohl in Zukunft noch weit “flexiblere” Formen der Zusammenarbeit haben. Bei allen Diskussionen, die wir führen, müssen wir zudem bedenken, dass die europäische Integration auf zwei Säulen aufruht: einerseits auf den europäischen Bürgern, andererseits auf den europäischen Mitgliedsstaaten. Zwischen den beiden gibt es immer ein Spannungsverhältnis, welches nicht leicht aufzulösen ist. Insofern kann die europäische Union nie immer nur Einheit bedeuten - stattdessen bedeutet sie eigentlich Vielfalt, nicht nur in den Werten oder politischen Vorstellungen, sondern auch in den politischen Instrumentarien. Wir werden versuchen müssen, möglichst gute und schlanke europäische Institutionen zu bauen, die die gemeinsamen Problemlösungsperspektiven der EU erhöhen, die aber gleichzeitig auch mehr demokratische Legitimität durch Rückbindung an die Einzelstaaten erzeugen können. Hierzu werden wir viel institutionelle Phantasie brauchen.

MILIEU: Sie sprachen einmal von einem „Ideal des guten Bürgers“. Wie stellen Sie sich ein solches Ideal vor und gibt es das überhaupt?

Prof. Vorländer: Ideale existieren ja nicht in der Wirklichkeit, sonst wären es keine Ideale. Man könnte allenfalls von einem Idealtypus sprechen. Der Bürger, wie er seit der athenischen Demokratie von vor rund 2500 Jahren gedacht und seitdem immer wieder überliefert wird, ist einer, der sich für seine eigenen Belange und die der Gemeinschaft, in der er lebt, interessiert, der sich engagiert – sowohl in der Stadt als auch im Land - und der ein politisches Urteilsvermögen besitzt. Insgesamt also ein Bürger, dem die Politik nicht gleichgültig ist, denn die Politik ist letztlich, so schon die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, nichts anderes als die Beschäftigung des Bürgers mit seinen eigenen Angelegenheiten. Insofern ist der gute Bürger immer einer, der verantwortlich handelt und sich am Leben der Gemeinschaft beteiligt

MILIEU: In Deutschland stehen die Bundestagswahlen an. Können Sie den folgenden Satz vervollständigen: „Für mich wäre ein positiver Ausgang der Wahl, wenn…“

Prof. Vorländer: …wir dem Populismus eine Niederlage bereiten.

MILIEU: Allgemein sieht man eine zunehmende Politikverdrossenheit der Bürger und eine größere Tendenz hin zu kleineren, radikaleren Parteien. Inwiefern muss sich das Image der großen, etablierten Parteien ändern, um wieder zu begeistern und den Bürger direkt anzusprechen?

Prof. Vorländer: Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich eine Politikverdrossenheit haben. Es lässt sich auf jeden Fall eine Unzufriedenheit in ganz bestimmten Hinsichten nachweisen. Sie betrifft einerseits die Beteiligungsmöglichkeiten, auch die politischen Repräsentanten, andererseits auch die Ergebnisse von Politik – das ist aber in Demokratien ganz normal, auch wenn es zur Zeit etwas ausgeprägter zu sein scheint.. Was wir vor allem beobachten, ist, dass sich Bürger in anderen Formen an der Politik und den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beteiligen: Sie protestieren, sie engagieren sich bei konkreten Anlässen, sie organisieren sich in Netzwerken – so auch zuletzt bei der Flüchtlingshilfe. Diese ad-hoc Beteiligungen treten zunehmend an die Stelle von kontinuierlichem, verstetigtem Engagement, in Parteien, Jugendorganisationen, Gewerkschaften oder Kirchen. Das Partizipationsverhalten von Bürgern hat sich verändert. Ich glaube nicht, dass Parteien diesen Trend wieder rückgängig machen können.

Was wir allerdings in einer Demokratie brauchen, sind alternative Programme und attraktives Personal, sodass Bürger tatsächlich auch eine Auswahl treffen können. Sonst nehmen sie Zuflucht zu Protestparteien, oder sie wählen gar nicht.

MILIEU: Sie haben empirisch untersucht, wie sich der PEGIDA-Demonstrant in Dresden zusammensetzen: Dieser entstammt der Mittelschicht, ist gut ausgebildet, überwiegend berufstätig, verfügt über ein Nettoeinkommen, das für sächsische Verhältnisse leicht über dem Durchschnitt liegt, ist 48 Jahre alt, zu 70 Prozent männlich und nicht religiös. Er weist keine Parteiverbundenheit auf. Wie erklären Sie sich trotz der guten sozioökonomischen Lage die Ablehnung gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern?

Prof. Vorländer: Diese Charakterisierung entstammt dem Ende des Jahres 2014/Anfang 2015. Mittlerweile ist die Zusammensetzung von Pegida-Demonstrationen ein bisschen anders.

Dass aber viele mit Pegida sympathisiert beziehungsweise diese unterstützt haben, liegt an verschiedenen Motivationen, vor allem an der Unzufriedenheit mit Politik und Medien. Und viele Demonstranten waren skeptisch bis feindlich gegenüber Zuwanderung und “dem” Islam. Ein Grund für die Unterstützung liegt mit Sicherheit darin, dass in Ostdeutschland, so auch in Sachsen, sehr wenig Zuwanderer leben. Es ist damit ein Land, dass Migration bisher so nicht kannte. Befürchtungen und Ängste dem Unbekannten und Fremden gegenüber sind in solchen Situationen besonders groß.

MILIEU: Das Misstrauen und die Kritik gegenüber der Presse eint einen Großteil der Pegida-Teilnehmer. Schlagworte wie „Lügenpresse“ prägen immer häufiger den Alltag. Wie würden Sie vorgehen, um das beschädigte Image der Presse wiederherzustellen und neues Vertrauen aufzubauen?

Prof. Vorländer: Ich glaube, dass die etablierten audiovisuellen und Print-Medien das Problem erkannt haben und über das, was sie tun, größere Rechenschaft ablegen und sich auch durchaus in Frage stellen lassen. Die großen etablierten Medien müssen zeigen, dass sie Wert darauf legen, den Fakten treu zu bleiben, und dass sie die besseren und zuverlässigeren Informationen haben. Nur so kann das verloren gegangene Vertrauen zurückgewonnen werden. Das muss in einem offenen Prozess geschehen. Ich beobachte, dass sich die Medien hier sehr bemühen. Aber dass sie all das Vertrauen zurückgewinnen, das sie früher vielleicht einmal hatten, wage ich zu bezweifeln, weil viele Menschen einfach ganz andere Kanäle der Information suchen, sich ihre Informationen aus den sozialen Netzwerken besorgen. Da haben die etablierten audiovisuellen und Print-Medien schlicht und einfach an Terrain verloren. Somit verändert sich zur Zeit die politische Kommunikation dramatisch und damit das, was man gemeinhin die politische Öffentlichkeit nennt – leider nicht zum Vorteil. Wo Vorurteil und Misstrauen herrscht, Echokammern und Filterblasen die “Wahrheiten” bestimmen, sind vernünftige demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse kaum noch möglich. Hier liegt die größte Gefahr für die Demokratie.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Vorländer!

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